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Isola Lucretia
von Michael Pick

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
Das Laternenlicht auf der Via del Pellegrino war in dichten Nebel gehüllt. Sirius Savic schlug den Kragen seines Mantels hoch und hämmerte ein zweites Mal gegen das schwarzlackierte Gitterportal am St.-Anna-Tor. Endlich steckte ein Schweizer Leibgardist sein rundes, übermüdetes Gesicht durch eine der Zinnen.
»Sirius Savic, MSP.«
Der Ermittler schlug die linke Seite seines Mantels zurück, in dessen Innenrevers seine silberne Dienstmarke in Form des Weltglobus’ befestigt war.
Der Wachposten musterte ihn unbeeindruckt. Die aufkommende Dämmerung liftete die Schatten der Nacht über der Straße.
»Besser, Sie verschwinden schleunigst.«
Das Esperanto des Gardisten war stark akzentuiert; Sirius tippte auf eine deutsche Muttersprache.
»Ein ausgezeichneter Rat.«
Der Ermittler tastete die Taschen seines Mantels ab, als suche er etwas.
»Bedauerlicherweise hat ein gewisser …« Sirius schien gefunden zu haben, wonach er gesucht hatte und zerrte ein nachlässig gefaltetes Papier hervor. Er blätterte es umständlich auseinander, wanderte mit den Augen darüber, bis er den gesuchten Passus gefunden hatte.
»… Kanzler Valgregor … ist Ihnen der Name ein Begriff?«
Der Wachposten verengte die Augenlider zu Schlitzen. Misstrauen war die vorderste Eigenschaft eines Ermittlers. Bezeichnend, dachte Sirius, und fand es unbequem, sich fragen zu müssen, wo sein eigenes Misstrauen war.
»Hier«, er wedelte mit dem Papier in der Hand, »besser, Sie lesen es selbst.«
Ohne den Blick von Sirius zu wenden, nahm der Gardist den Brief. Sirius grub derweil die Hände in die Manteltaschen. An den Rändern der Via del Pellegrino liefen hellgrüne Pipelines wie eine Reihe dicker Raupen. Der Vatikan besaß eine eigene Dampfversorgung. Sie gehörte zu einem System von Selbstversorgungseinrichtungen, denen die Vatikanstadt ihre Selbstständigkeit verdankte.
Der Schweizer Leibgardist verschwand, wahrscheinlich, um seinen Vorgesetzten zu informieren. Im Abstand von zehn Metern befanden sich Druckventile an den Pipelines; zu jedem Haus zweigte ein Versorgungsrohr ab.
»Sie können passieren, Savic.«
Der Gardist war zurück. Drei weitere Soldaten der Vatikanarmee besetzten die inneren Zinnen und den Einlass. Sirius vernahm das Klicken von Ventilen, das Rauschen von Dampf, als er die Leitungen füllte, die Kraft, die er sammelte, um endlich herausgelassen zu werden. Am oberen Ende des Tores regulierten drei Drehventile die Geschwindigkeit, mit der der gusseiserne Einlass im St.-Anna-Portal geöffnet wurde.
Doch noch durfte Sirius die Vatikanstadt nicht betreten. Vier Gardisten schlüpften durch die halb offene Pforte und sicherten die Umgebung. Ein Unteroffizier folgte ihnen, spuckte geflissentlich vor Sirius auf den Gehsteig und musterte den Ermittler von oben bis unten.
»Nehmen Sie die Arme hoch.«
Die kleinen, runden Augen des Unteroffiziers flackerten vor Unruhe, während er andererseits bemüht war, sachliche Routine auszustrahlen. Sirius fragte sich, ob er an seiner Stelle genauso reagieren würde. Langsam, mit der linken Hand, zog Sirius seine Dienstwaffe, eine Kirilenko 13, ließ das Magazin aufschnappen und hielt den leeren Lauf in das Laternenlicht. Zwischen zwei Fingern empfing der Unteroffizier die Waffe und verstaute sie zusammen mit dem Magazin in einem durchsichtigen Beutel, wie sie Sirius zur Beweissicherung kannte.
Kurze Zeit später betrat der Ermittler zum ersten Mal in seinem Leben die Vatikanstadt.

Szenentrenner


Vom St.-Anna-Tor nehmen zwei Hauptstraßen ihren Ursprung. Der Via del Pellegrino obliegt es, den südlichen Teil der Vatikanstadt zu erschließen, während die Via di Belvedere durch den Norden und Westen der Enklave führt.
Der Unteroffizier und vier Leibgardisten geleiteten Sirius. Genauso gut hätte er ihr Gefangener sein können. Auch an den Ufern der Via di Belvedere liefen grüne Dampfpipelines.
Unmittelbar hinter dem Rohrsystem stießen gewaltige Steinquader aus dem Boden, die die Fundamente noch großartigerer Gebäude bildeten. Wie das Bett eines Flusses, der sich im Laufe der Evolution einen Weg durch die Granitblöcke gefressen hatte, schlängelte sich die Straße an Kirchen, der Banco di Vaticano, einigen kasernenartigen Unterkünften und anderen Gebäuden vorbei und lief zielstrebig auf einen Palazzo zu, zu dessen Eingang breite Marmortreppen führten.
»Palazzo del Cancelliere«, schnorrte der Unteroffizier.
Die rechte Flanke seines Schnurrbartes zitterte, während die aufgehende Sonne Sirius’ Rücken wärmte.
»Worauf warten wir noch?«, rief er dem Schnurrbärtigen zu.
Jede Zeit hat ihr Ende.

Szenentrenner


Der Palazzo del Cancellierelag am Cortile di Belvedere und glich zu dieser Stunde einem erwachenden Bienenstock. Tausend Geräusche lagen in der Luft, obgleich nicht eines von ihnen eindeutig zu definieren war. Sie glichen einem aufgeregten Flüstern, das jederzeit zu einem reißenden Strom anschwellen konnte.
Die hohen Decken im Erdgeschoss, Sirius schätzte den Abstand zum Boden auf drei Meter, entfalteten aus ihrer Fläche heraus eine Wuchtigkeit, die folgerichtig nicht durch Wandschmuck zu bändigen versucht wurde. Einzig an den Verbindungen zu den Decken fing Stuckwerk die Schlichtheit auf.
Die vier Leibgardisten blieben in der Eingangshalle zurück; der Unteroffizier begleitete Sirius durch ein Dutzend Räume, die in der Art eines Labyrinthes angeordnet waren. Einige von ihnen dienten als Schreibstuben, einige als Aufenthalte.
Sie gelangten in ein schlauchähnliches Zimmer, dessen Wände lindgrün schimmerten. Der Schnurrbart des Unteroffiziers knatterte hier so heftig wie ein Geigerzähler beim Anblick eines Brennstabes. Der Unteroffizier verlangsamte seine Schritte, als wäre er sich seines Weges nicht mehr sicher. Der Raum führte zu einer schwedischgelben Tür, die mit hellgrünen Intarsien verziert war.
Auf der Hälfte des Weges jedoch bog der Unteroffizier ab und lief gegen die Wand. So schien es Sirius im ersten Augenblick. Dann erkannte er die Schlitze, die eine Tür in die Wand zeichneten. Der Palazzo begann, Sirius zu gefallen.

Szenentrenner


Als Sirius den Raum hinter der Geheimtür betrat, salutierte sein Begleiter einer Person, die im Licht der aufgehenden Sonne hinter einem großen Schreibtisch saß. Der Leibgardist machte eine akkurate Kehrtwende und ließ Sirius zurück.
Der Mann am Schreibtisch lehnte sich nach hinten. Die Sonne blendete Sirius.
»Ermittler Savic …«
Der Andere war sehr jung; unverbrauchte Stimme, im Übrigen akzentfreies Esperanto.
»Was für ein Zufall«, murmelte Sirius.
»Wie?«
»Ich hätte niemals angenommen, dass Sie den gleichen Namen wie ich tragen und zudem ebenfalls Ermittler sind.«
Auch wenn Sirius das Gesicht des Mannes nicht genau erkennen konnte, vermochte er sich dessen blöde Miene vorstellen. Es brauchte einige Augenblicke, bis der andere verstand.
»Ein Scherz.«
»Mein Name ist nicht Savic.«
»Nicht?«
Der Mann erhob sich und kam auf Sirius zu.
»Martinius, ich bin der Sekretär von Kanzler Valgregor.«
Der Sekretär machte eine Bewegung, als wollte er Sirius die Hand geben, zog sie aber hastig wieder zurück. Ein Aussätziger hatte ausgezeichnete Chancen auf eine bessere Behandlung.
»Ich bin froh, dass Sie nicht Savic heißen. Es hätte dauernd Verwechslungen gegeben.«
Martinius schwieg, wahrscheinlich erwog er die Möglichkeit, dass Sirius ihn auf den Arm nahm.
»Ich bringe Sie gleich zu Kanzler Valgregor. Wir warten noch auf jemanden.«
Der Sekretär kam einen Schritt näher. Über die glatt rasierten Wangen lief ein öliger Schimmer. Die hellblauen Augen passten weder zu den schwarzen Haaren noch der dunklen Kutte. Das Lächeln auf den blassen, dünnen Lippen wirkte fade.
Es polterte gegen die Tür. Bevor der Sekretär die Erlaubnis geben konnte, stürmte eine Frau in den Raum.
»Können Sie mir erklären, was das Ganze zu bedeuten hat?«
Sie trug eine weiße Haube, ansonsten bestand die Kleidung aus einer ebensolchen Kutte, wie sie Martinius übergezogen hatte.
»Wie, bei allen Heiligen, kann man nur auf die Idee kommen, diesen verfl…, diesen Ungläubigen die Erlaubnis zu geben, bei uns herum zu schnüffeln?«
»Das hätte ich auch gerne gewusst«, pflichtete Sirius bei und erntete einen giftigen Seitenblick.
Der Sekretär strich sich mit der Hand über sein Haar, verbindlich lächelnd.
»Ich bin sicher, der Kanzler wird Ihnen alle Fragen beantworten.«
Das Mädchen grummelte wie ein Bär. Martinius öffnete eine zweiflügelige Tür, die in einen saalähnlichen Raum führte. An der Ostseite des Zimmers flutete das Sonnenlicht durch große Fenster und traf auf der anderen Seite auf deckenhohe Bücherregale. Sirius hatte noch nie in seinem Leben eine solche Anzahl von Büchern gesehen.
Der Raum breitete sich über zehn Meter aus, doch seine Länge übertraf die Breite um das Fünffache. Aus dem Horizont des Zimmers schälte sich ein nussbrauner Schreibtisch heraus, hinter dem ein kahlköpfiger Mann in violetter Robe saß. Der Mann schrieb mit der Hand; flüssig, ohne Pause, ohne aufzusehen.
Martinius hüstelte in seine Faust. Das Mädchen warf dem Sekretär einen verächtlichen Blick zu, schüttelte den Kopf und setzte sich auf einen der Stühle, die vor dem Schreibtisch standen. Es war jener, der am weitesten von Sirius entfernt stand.
Der Mann in der violetten Robe mochte siebzig Jahre alt sein. Mit seinen schmalen Fingern musste er ausgezeichnet Klavier spielen, dachte Sirius. Das Mädchen stampfte mit dem Fuß. Der Sekretär blickte abwechselnd zum Schreiber und zur Nonne.
»Kanzler Valgregor …«
In dem Ton des Mädchens schwang unverhohlene Ungeduld.
»Ich verlange eine Erklärung!«
Zur Bekräftigung knallte sie die Faust auf den Tisch. Unbeeindruckt fuhr der Mann hinter dem Schreibtisch mit dem Geschreibe fort.
»Auch gut«, rief das Mädchen und stand auf. Sie hatte die mandelförmigen Augen zu schmalen Schlitzen verengt und presste die Lippen zu einem dünnen Strich. Dann drehte sie sich um und streifte Sirius mit einem verächtlichen Blick.
Es dauerte eine Weile, bis das Mädchen die ganze Länge des Raumes durchschritten hatte. Als die Tür zuschlug, zuckte der Sekretär zusammen.
In diesem Augenblick sah der Mann am Schreibtisch auf, drehte die Kappe auf den Füllfederhalter und lehnte sich zurück.
»Es freut mich, Sie kennenzulernen, Ermittler Savic. Ich habe Gutes über Sie gehört.«
Lob, fand Sirius, war ein süßer Stachel mit giftigem Inhalt.
»Mein Name ist Valgregor. Meine Aufgabe in der Vatikanstadt ist vergleichbar mit der eines Managers; oder anders ausgedrückt: Ich bin das Mädchen für alles.«
Der Mann lächelte, ohne Sirius aus den Augen zu lassen.
»Eine Berufung, um die man beneidet wird, die aber nicht beneidenswert ist.«
Valgregor hörte auf zu lächeln.
»Sie werden alle Unterstützung erhalten, die erforderlich ist, um den Fall zu lösen. Mein Sekretär«, der violett ummantelte Arm zeigte auf Martinius, »steht Ihnen zur Verfügung. Außerdem habe ich Ihnen unsere beste Ermittlerin zugeteilt. Sie haben sie gerade kennengelernt.«
»Danke«, sagte Sirius nach kurzer Bedenkzeit, »danke, aber nein, danke.«
Er kannte nicht den Grund, warum man ihn gerufen hatte. Ausgerechnet ihn. Er war weder der beste Ermittler im MSP noch besaß er den Ehrgeiz dazu oder Beziehungen, um einen solchen Job zugeteilt zu bekommen. Die Arbeit an einem Verbrechensfall in der Vatikanstadt musste zweifelsohne als eine Auszeichnung betrachtet werden. Doch anscheinend hatte Valgregor nicht die Absicht, Sirius über den Grund seiner Auswahl aufzuklären, und Sirius besaß nicht den Antrieb, an zwei Baustellen zu schnüffeln. Er hatte nicht einmal die Absicht, an einer Baustelle zu schnüffeln.
Sirius erhob sich bedachter als das Mädchen, grüßte ruhig die beiden Herren, die sich überrascht ansahen. Der Ermittler befand sich fast schon an der Tür, als er hörte, dass Valgregor seinem Sekretär eine Anordnung zurief.
In Martinius’ Büro fand Sirius, wie er vermutet hatte, das Mädchen. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen am Schreibtisch und trommelte mit einem Bleistift auf die Schreibfläche. Eine Oper von Verdi, nahm Sirius an.
»Sie?«
»Viel Glück bei der Lösung des Falles«, wünschte Sirius und nahm die Geheimtür rechts voraus.
»Sie wollen nicht in diesem Fall ermitteln?«
»Korrekt.«
»Sind Sie verrückt?«
Das Mädchen hatte ihre Sicherheit wiedergefunden.
»Das ist gut möglich, sehr wahrscheinlich sogar.«
Sirius nahm den Türgriff in die Hand.
Segretario Martinius stürmte in das Büro.
»Bitte«, er japste nach Luft, »bitte, Ermittler Savic, gehen Sie nicht.«
Sirius zögerte. Was hielt ihn zurück, die Vatikanstadt zu verlassen? Warum hielt man so fest an ihm?
»Was meinen Sie, Signora?«
Aus den Augenwinkeln betrachtete Sirius das Mädchen. Eine braune Locke sprang unter ihrer weißen Haube hervor. Ihr Gesicht war jugendlich rund, zart wie ein junger Kohlrabi, die Nase im Gegensatz hierzu spitz und die Flanken kantig. Mit braunen Augen sah sie ihn intelligent an.
»Scheren Sie sich …«
»Lucretia!«
Kanzler Valgregor hatte unbemerkt den Raum betreten.
»Lucretia, du wirst mit diesem Mann zusammenarbeiten. Es ist für unsere Stadt von größter Bedeutung, dass der gestrige Mordfall umgehend aufgeklärt wird. Es ist vatikanischer Befehl und mein Wunsch, dass du Ermittler Savic dabei unterstützt.«
»Das ist unfair.«
Das Mädchen sah Sirius an, als hätte er Ausschlag oder eine andere ansteckende Krankheit. Nach zwei Minuten in Lucretias Gegenwart fühlte Sirius sich tatsächlich so.
Trotz der schwarzen Nonnentracht fraßen ihre Schritte den Raum. Ihre abweisende Art weckte einen beruflichen Ehrgeiz, den Sirius längst vergraben geglaubt hatte.

Szenentrenner


Lucretia und Sirius verließen die Via di Belvedere, um in ein Seitengässchen einzubiegen. Am Ende des Weges gab es eine Mauer, die Sirius’ Kopf einen halben Meter überragte.
»Nicht berühren!«, prangte auf einem weißen Schild in Augenhöhe. Daumendicke Leitungen durchsetzten das Mauerwerk. Dampfleitungen, vermutete Sirius. Fünf Meter davor kreuzten schwarze Bänder die Gasse. Ein Leibgardist wartete gelangweilt neben der Absperrung.
Zwei Meter weiter, direkt vor der Mauer, lag ein Mann mit dem Gesicht nach unten, Arme und Beine weit von sich gestreckt. In seinem Rücken stakte ein ellenlanges, silbernes Kreuz; aufrecht, als wäre es das Natürlichste der Welt.
Lucretia streifte weiße Latexhandschuhe über und reichte Sirius zwischen zwei Fingern auch ein Paar. Die Nonne kniete neben dem Toten. Sirius prägte sich das Umfeld ein. War er zunächst davon ausgegangen, dass das Opfer versucht hatte, die Mauer von der Seite der Vatikanstadt zu überklettern, musste er diese Ansicht verwerfen.
Neben dem Toten entdeckte er Fußspuren, die im Bereich der Ballen ungewöhnlich tief in das Erdreich eingedrückt waren. Für diese Eindrücke war eine große Kraft erforderlich, die nur von einem Sprung stammen konnte. Außerdem hatte der Mann einen dunkelblauen Jogginganzug übergestreift, wie er in der Außenwelt gerade angesagt war. Wogegen in der Vatikanstadt, alle, denen Sirius bisher begegnet war, kirchliche Kleidung trugen. Am Fußende der Leiche lag ein zusammengeknülltes blauweißes Kaugummipapier.
»Er hat nicht versucht, hier auszubrechen«, teilte er Lucretia mit.
»Wundert Sie das etwa? Die Frage ist eher, was er hier wollte?«
Lucretia bellte den Schweizer Leibgardisten an. Der verschwand augenblicklich.
Neben dem Toten, vielmehr in seiner Hand, befand sich eine lederne Tasche. Sie war leer.
»Ich vermute, wenn wir den Grund seines Aufenthaltes kennen, führt uns das zu seinem Mörder.«
Lucretia kniff ein Auge zusammen und blickte Sirius an.
»Ihr Ermittler von der anderen Welt habt jahrelang Weisheit zu fressen bekommen, stimmt’s?«
»Möglich«, entgegnete Sirius und dachte an seine Ausbildung bei der MSP und an Anna, die er dort kennengelernt hatte. »Jedenfalls lernten wir, dass vier Augen mehr als zwei sehen.«
Lucretia blies die Backen auf und ließ die Luft langsam wieder heraus. Der Leibgardist kehrte mit einem Handwagen in seinem Rücken zurück. Über einem kleinen Ofen war ein Wasserboiler befestigt, der jetzt zum Bersten unter Dampf stand. Von diesem Behälter führte ein Schlauch zu einem Gerät, von dem Sirius schon gehört, es aber noch nie gesehen hatte. Es war ein Steamdater.
Lucretia bediente einige Tasten, während Sirius sein Notizbuch zückte. Das Mädchen kehrte zum Tatort zurück und gab Sirius ein Zeichen, aufzumerken. Vorsichtig, Millimeter für Millimeter, zog sie das Kreuz aus dem Rücken des Toten. Unlogischerweise hatte Sirius erwartet, das Ende des Tatwerkzeuges angespitzt zu finden, doch dort befand sich eine Verdickung, die in einer Art Knoten endete. Im Grunde, dachte Sirius, ist das Ergebnis das gleiche.
»Ist das die gängige Mordwaffe im Vatikan?«
Lucretia grunzte. Sirius entdeckte in der rechten Hand des Toten ein verschlossenes Reagenzröhrchen mit einem weißen Pulver darin. Als er Lucretia darauf aufmerksam machte, wechselte sie die Farbe.
»Drogen?«
Lucretias Antwort war ein neuerliches Grunzen, das Raum für alle Interpretationen ließ. Sirius beschlich endgültig das Gefühl, dass die Aufklärung dieses Falles nicht so einfach werden würde, wie alle erwarteten.
Während Lucretia Daten erfasste, rekapitulierte Sirius. Das Opfer war ein Mann um die vierzig, davon abgesehen, dass er tot war, wirkte er schmierig (ein Hängebauch bei dünnen Beinen) und ungepflegt (Geruch). Dieser Mann war über die Mauer in die Vatikanstadt eingedrungen, eine Ledertasche bei sich tragend, die nun leer war. Vermutlich befanden sich Röhrchen mit dem weißen Pulver in der Tasche, ähnlich jener, das er in seiner Hand umklammert gehalten hatte. Das Opfer brachte die Substanz in die Vatikanstadt und wurde entweder von einem Räuber überrascht oder der Auftraggeber des Opfers wollte den Preis nicht bezahlen. Vielleicht war die Vatikanstadt auf einem größeren Sumpf gebaut, als Sirius vermutet hatte.
»Was ist? Träumen Sie?«
Sirius sprang gerade noch zur Seite, bevor Lucretia ihn mit dem Handwagen überfuhr.
»Ich habe versucht, nachzudenken.«
Sirius folgte der Nonne.
Am Ende der Gasse wartete ein Duo Leibgardisten. Lucretia befahl ihnen, den Tatort zu säubern und das Opfer in das Krankenhaus zu bringen.
»Wir haben dort eine pathologische Abteilung«, erläuterte sie die Anweisung. »Übrigens, hat es geklappt?«
»Bitte?«
»Hat Ihr Versuch, nachzudenken, Erfolg gehabt?«
Sirius musste lächeln.
»Haben Sie so etwas wie ein Büro?«
»Natürlich. Begleiten Sie mich.«

Szenentrenner


Lucretia führte Sirius durch einen Irrweg von schmalen Gassen mit hoch aufgeschossenen Gebäuden. Der Boden dieser Wege lag im stetigen Schatten. Sirius spürte stärker, dass diese Gebäude ihn auf Dauer einschüchterten. Wie musste sich jemand fühlen, der jede Sekunde seines Lebens hier verbrachte und keine Aussicht besaß, diesen Ort für einen anderen zu verlassen.
Lucretias Entschlossenheit strahlte sogar bis zu ihm. Wie der schwarze schwere Stoff ihrer Kutte knallte, wenn sie die Straße entlang stürmte. Einmal sogar war ihre Kapuze heruntergeweht und braunes, lockiges Haar flutete ihre Schultern.
Sie brachte ihn zu einem quittegelben dreistöckigen Gebäude und stellte ihn im Flur ab, wie einen Regenschirm; in Wahrheit handelte es sich um eine Art Nachrichtenaustauschraum. Gut drei Dutzend Nonnen liefen hier scheinbar willkürlich umher, doch bald erkannte Sirius das Muster. Wie in einem Bienenstock sammelten Späherinnen Neuigkeiten und diese wurden durch andere Nonnen in das Innere des Gebäudes getragen.
Sirius verzog sich in eine Ecke des Raumes und betrachtete aufmerksam den Ablauf. Am meisten imponierte ihm die Weitläufigkeit des Gebäudes, zugleich seine Größe, wie auch die Einsamkeit, die es vermittelte. Und er dachte an die Einsamkeit, die er inmitten dieser Menschen empfand. Sirius ertappte seine Gedanken, dass sie sich, seit er sich in der Vatikanstadt befand, nicht mehr sekündlich um Anna drehen wollten.
Lucretia betrat den Raum und in ihrem Schlepptau folgte eine rundliche Frau, die ein gemütliches Gesicht trug. Nach kurzer Suche entdeckte die Nonne Sirius und steuerte auf ihn zu.
»Mutter Oberin –«, sie wandte sich halb nach hinten, »Ermittler Savic aus der anderen Welt.« Sie sprach die letzten Worte betont akzentuiert. »Ermittler Savic – Mutter Oberin.«
Die Oberin betrachtete Sirius mit kleinen, flinken Augen. »Freut mich, Sie kennenzulernen.«
Sirius mühte sich um ein Lächeln, obgleich er sich sagte, dass es ihm nicht zu Gesicht stand.
»Unterschätzen Sie die Mutter nicht.« Lucretia klang keineswegs ironisch, »sie sieht harmloser aus, als es ihrem messerscharfen Verstand angemessen ist.«
»Verstehe.«
Sirius hatte niemals vorgehabt, Lucretias Vorgesetzte zu unterschätzen.
»Lucretia übertreibt.« Die Mutter Oberin sah sich um. »Ich möchte mit Ihnen über die Angelegenheit philosophieren. Folgen Sie mir.«
Die Mutter Oberin wendete und pflügte durch den Saal. Links und rechts wurde ihr anstandslos Platz gemacht und Lucretia und Sirius folgten ihr wie erwischte Lausbuben, die ihrer Strafe entgegensahen, ohne daran zu denken, auszubüchsen.
Die Oberin erreichte eine graue Tür an der Nordseite des Raumes. Sirius hätte dahinter allenfalls eine Besenkammer vermutet und war entsprechend überrascht, als sich ein quadratisches Zimmer öffnete, das offenbar als Schreibstube genutzt wurde. Ein gigantischer rechteckiger Tisch nahm die Hälfte des Raumes ein.
»Hast du eine Kopie der Daten für uns angefertigt?«
»Selbstredend.«
Lucretia kramte in der Kuttentasche und zog eine quadratische Platte heraus. Die Nonne reichte sie der Oberin.
»Sie«, die Mutter zeigte auf Sirius, »bleiben an der Tür stehen und passen auf, dass niemand hier hereinkommt, bevor wir es wissen.«
Sirius hatte großen Respekt vor dickbusigen Frauen und die Mutter Oberin trug Melonen vor sich her. Sirius bemühte sich, trotz der Ernsthaftigkeit seines Auftrags, ein Auge dort zu behalten, wo Lucretia und die Mutter Oberin hantierten. Lucretia führte gerade die Platte in einen Schlitz am Tisch ein. Ein Lichtstrahl warf ein Bild auf ein helles Tuch an der Zimmerwand. Ein dunkelgraues Rechteck erschien, auf dem sich weiße Buchstaben abzeichneten. Von Sirius’ Position aus glichen die Buchstaben Strichen und Punkten, aus denen er nicht schlau wurde.
»Ermittler Savic, was wissen Sie über unsere Stadt?«
»Man hört viel.« Sirius zuckte mit den Schultern. »Soviel, dass man nicht weiß, was davon richtig ist und was nur einer Vorstellung entsprang.«
Eine Nonne näherte sich der Tür und Sirius gab den beiden Frauen ein Zeichen. Die Oberin nahm sich des Neuankömmlings an und lauschte der Nachricht, die diese ihr ins Ohr flüsterte.
»Lucretia, eile dich und nehme den Fremden mit dir. Der Papst wünscht, euch zu sehen. Achte darauf, dass der Kanzler nicht wissen darf, dass du mich informiert hast.«
Als würde der Oberin plötzlich etwas einfallen, wandte sie sich an Sirius.
»Kann ich mich auf Ihre Diskretion verlassen?«
Lucretia grunzte, aber Sirius ließ sich nicht beirren.
»Ich bin hier niemandem verpflichtet, deshalb kann ich Ihnen mein Wort verpfänden.«
Damit schien die Oberin zufrieden; sie nickte. Mit einem Auge Sirius betrachtend, raunte sie Lucretia einige Worte zu, woraufhin diese sich zur Tür begab und Sirius bedeutete, ihr zu folgen.
Allmählich gewöhnte sich Sirius an die Weitläufigkeit des Geländes und der vollkommenen Entbehrung von technischen Fortbewegungsmitteln. Woran er sich jedoch nicht gewöhnen mochte, war die Drohung, die hinter den Fassaden eines jeden Gebäudes in dieser Stadt lauerte.
Er konzentrierte sich vornehmlich darauf, seine Begleiterin zu betrachten. Ihre Wangen waren vor Eifer rot angelaufen. Sie mochte nicht älter als vierundzwanzig Jahre alt sein, trotzdem trug sie bereits jetzt alle Anzeichen einer Person, die es beflügelte, Verantwortung zu tragen. Sirius vermutete, dass sie mindestens die neue Mutter Oberin werden würde.
Am Ende des Weges befand sich eine Kapelle, die sich nicht über ein Stockwerk erhob. In ihrer Winzigkeit wirkte sie zu den anliegenden Gebäuden wie ein Fremdkörper. Vor einer hellblauen Tür patrouillierten zehn Leibgardisten, Kanzler Valgregor und dessen Sekretär Martinius. Der Kanzler kam Sirius entgegen und begrüßte ihn.
»Ich hoffe, Sie erhalten alle Unterstützung, die Sie sich wünschen?«
Valgregors Blick fiel dabei auf Lucretia, die diesen ohne Zwinkern erwiderte.
»Ich kann mich nicht beklagen«, betonte Sirius.
Der Kanzler legte die Hand auf Sirius’ Schulter und führte ihn langsam zur Tür der Kapelle.
»Wissen Sie, wenn man so lange wie wir Vatikaner auf einen so engen Raum begrenzt ist, kann man die Sicht auf den Ozean verlieren, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Sirius wusste es nicht, aber den Vergleich fand er interessant.
»Deshalb müssen wir ab und an dafür sorgen, dass wir die Sache von allen Seiten betrachten. Vielleicht sogar von Seiten, die wir noch nicht kennen.«
Sirius hatte das Gefühl, der Kanzler wollte ihm mit den vielen Worten nichts sagen.
»Der Papst möchte Sie sehen.«
Valgregor öffnete die Tür und raunte leise: »Er ist alt.«
Was sagt das schon?, dachte Sirius und fühlte sich selbst unjung. Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass Lucretia so weit weg von ihm stand.
Seine Augen gewöhnten sich erst langsam an die Dunkelheit im Innern der Kapelle. Vor einem kleinen, schlichten Altar brannten einige Kerzen, durch die Oberlichter der Westseite drang Tageslicht in die Kapelle. Auf dem Gang, unweit des Altars, kniete ein Mann mit dem Rücken zu Sirius. Der Mann war allein.
Er schien Sirius und den Kanzler nicht gehört zu haben; keine Regung verriet, dass er ihre Anwesenheit bemerkte. Dennoch musste es so sein, denn er sprach Sirius unvermittelt an, ohne sich umzudrehen.
»Mein Sohn, bist du ein Glaubender?«
Der Kanzler stippte Sirius in die Seite, damit er antwortete. Gleichzeitig tippte er sich an die Stirn. Ein Zeichen, das Sirius verstand.
»Möglich.«
Sirius ging auf den Mann zu.
»Eure Heiligkeit«, der Kanzler verneigte sich, »dies ist …«
»… der berühmte Ermittler Savic von der MSP«, ergänzte der Papst und wandte sich Sirius zu. »Mein Sohn, glaubst du an die Unbefleckte Empfängnis, wie sie den Nonnen in meiner Stadt zuteil wird?«
»… Seine Heiligkeit, der Papst.«
Sirius reichte dem Mann die Hand. Sein Gesicht schien nur aus Falten zu bestehen. Dicht lagen sie beieinander, wie ein geschlossenes Akkordeon. Graue Augen ruhten auf Sirius. Der Ermittler glaubte, einen Anflug von Heiterkeit darin zu sehen.
»Es ist üblich, sich vor Seiner Heiligkeit zu verneigen«, ranzte der Kanzler, doch der Papst winkte ihm, zu schweigen.
Er bat Sirius an seine Seite.
»Sicher sind Sie verwirrt.«
»Sicher.«
»Ich bin alt, Ermittler Savic. Alt und müde. Manche behaupten, auch verwirrt.«
»Verwirrt wie ich.«
»Wissen Sie«, der Papst steuerte langsam auf den Kapellenausgang zu, »es gab vor vielen, vielen Jahren eine Insel im Pazifischen Ozean.« Der alte Mann nahm den rechten Zeigefinger und knabberte am Nagel. »Es traf sich dort vortrefflich, um es so zu sagen. Frauen und Männer, Junge und Alte verstanden sich ausgezeichnet und beschlossen, dieses seltene Gut so lange wie möglich gegen die schlechten Einflüsse außerhalb ihrer Insel zu bewahren. Was halten Sie davon? Hätten Sie das Gleiche getan?«
»Wahrscheinlich tut das niemand.«
Sirius war sich in dieser Angelegenheit nicht sicher.
»Es war notwendig.«
»Sicherlich.«
»Vielleicht fragen Sie sich, warum ich Ihnen das erzähle?«
Sirius forschte in seinem Innern, fand aber keine Frage in sich. Aus Höflichkeit brummte er kurz, was alles bedeuten konnte.
»Prima.« Seine Heiligkeit blieb stehen. »Das Leben ist zweifelsohne ein Wunder – ob man glaubt oder nicht.«
Der alte Mann japste kurz nach Luft.
»Sie müssen dem Mädchen helfen.«
»Selbstredend.«
» Der Vatikan wird erfreut sein, wenn dieses Verbrechen so schnell wie möglich aufgeklärt wird. Wir sind zutiefst besorgt, dass so etwas Schreckliches in unserer Gemeinde geschehen konnte.«
Sirius nickte mit dem Kopf.
»Wissen Sie um das größte Problem auf der Insel?«
Sirius schüttelte den Kopf.
»Die Zukunft, Ermittler Savic. Kinder.«
Das Kirchenoberhaupt starrte Sirius in die Augen.
»Gehen Sie jetzt, mein Sohn. Gott ist mit Ihnen. Gott sei mit uns allen.«
Der Papst wankte zurück zum Altar. So vornüber gebeugt, wie er ging, so unsicher, erinnerte er Sirius stark an einen alten Mann.

Szenentrenner


Vor der Kapelle war es Abend geworden, doch der Tag war noch nicht zu Ende. Sirius fand sich alleine auf der Straße vor der Gasse, nur das Sicherheitspersonal Seiner Heiligkeit harrte mit ihm aus. Lucretia war verschwunden und Sirius ertappte sich dabei, einen Schuss Wehmut darob zu verspüren. Sein nächster Gedanke war, dass er anstelle des Vatikans ihn niemals alleine gelassen hätte, und tatsächlich trat Valgregors Sekretär aus dem Schatten eines Gebäudes.
»Ein wundervoller Abend«, sagte Martinius. »Wie verbringen Sie das Ende eines Tages in Ihrer Welt?«
Sirius kam um eine Antwort herum, da Lucretia sich ihnen mit schnellen und staksigen Schritten näherte. Die Tür der Kapelle wurde geöffnet und Kanzler Valgregor schlüpfte heraus. In seinem Gesicht befand sich etwas Verborgenes, Sorgenvolles. Er schien weder erfreut noch verärgert, seine Tochter und Sirius zu entdecken.
»Lucretia«, Valgregor sprach hastig, »Seine Heiligkeit drängt in der Sache auf eine schnelle Aufklärung. Was habt ihr bisher herausgefunden?«
Wenn Lucretia ihren Vater beachtete, war es allenfalls sekundär. Sie wandte sich Sirius zu.
»Haben Sie Ihre Besuche absolviert oder anders gefragt: könnten Sie ein wenig Zeit erübrigen, um mit mir zu ermitteln?«
Diese Frau hat eine liebenswerte Art, dachte Sirius. Und sie hat einen Hang, ihren Vater zu quälen, was nicht grundlos sein dürfte. Lucretia scherte sich keinen Jota um ihren alten Herrn, sie blickte Sirius herausfordernd an.
»Stehe Ihnen zu Diensten«, erklärte der Ermittler.
»Als würde ich diese notwendig haben.« Sie murmelte verständlich genug für alle, die ein Ohr dafür hatten. Lauter aber sagte sie: »Kommen Sie schon, wir sollten uns eilen. Zweifellos wünschen Sie so schnell wie möglich zurück in Ihre …, nun, wie auch immer man es bezeichnen kann.«
Dann vollführte sie eine akkurate Kehrtwende und ohne weiter nach Sirius Ausschau zu halten, fegte sie in ihren langen, entschlossenen Schritten die Via hinunter, bis ihre Gestalt von der nächsten Häuserecke geschluckt wurde. Nach der ersten Überraschung setzte sich Sirius gehorsam in Bewegung und ließ Valgregor und Martinius zurück, die sich wispernd zusammenfanden.

Szenentrenner


Sirius folgte Lucretias Duftspur, die wie eine Fährte auf Nasenhöhe in der Luft lag. Die Nonne kam ihm ohnehin mächtig vertraut vor. Etwas, was ihm seit dem Verlust von Anna vollständig abgegangen war. Die Spur endete vor einer halb offenen Tür, welche in ein weißes, fünfstöckiges Gebäude führte. Über dem Eingang war eine lateinische Zehn in den Granit eingraviert.
Ohne Zögern betrat Sirius das Innere des Gebäudes. Er schloss die Augen, um sie an die Dunkelheit zu gewöhnen. Die Luft war frisch, wie gerade geboren, und nur der Duft von Lucretias Parfüm färbte sie. Sirius fühlte eine Sicherheit, die er vergeblich mit einer anderen Zeit in seinem Leben zu vergleichen versuchte. So tief er auch in den Schubladen seiner Erinnerung kramte, es wollte ihm nichts einfallen.
Ein Magnet war Lucretias Duft und zog ihn tiefer in das Gebäude, bis er glaubte, nie wieder ohne das Mädchen herausfinden zu können. Ihre Abwesenheit schmerzte ihn mittlerweile mehr als der Abschied von Anna. Als er diesen Gedanken festhielt, musste er sich über sich selbst wundern.
Bist du Sirius Savic? Wer bist du?
Er prallte gegen Holz, dumpf schlug sein Kopf auf.
»Herein!«
Sirius’ Herz hüpfte, als er Lucretias Stimme erkannte. Im Raum brannten drei Kerzen. Zwei von ihnen standen auf einem langen Tisch, die dritte vor dem Fenster. Es schien, als habe Lucretia ihn erwartet. An beiden Enden der Tafel waren Teller gedeckt, Gläser, gefüllt mit roter Flüssigkeit, Brot und andere Sachen. Sirius spitzte die Lippen und pfiff eine alte Weise.
»Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen, Savic.«
»Hoffnungen sind ohnehin nichts für mich.«
»Umso besser. Wer hätte je gedacht, dass ich so etwas sagen werde: Ich kann Sie wirklich gut gebrauchen.«
»So? Das kommt in der Tat etwas plötzlich.«
»Ich weiß endlich, warum man Sie angefordert hat. Jedenfalls ahne ich den Zusammenhang und will es mir zunutze machen.«
»Ich muss gestehen, eine Antwort auf diese Frage beschäftigt mich momentan primär.«
»Tatsächlich? Ich hätte erwartet, … aber lassen wir das. Was unterscheidet Sie von all den Bewohnern hier?«
Sirius trat in den Lichtschein der beiden Kerzen auf dem Tisch.
»Ich bin hier weder geboren noch willkommen.«
»Korrekt. Es besteht noch Hoffnung für Sie. Im Gegensatz zu den Erkenntnissen aller Ermittler der Vatikanstadt, einschließlich meiner eigenen, hat Ihre Meinung ein ganz eigenes Gewicht. Sie ist sozusagen neutral, da Sie selbst keinen Vorzug oder Nachteil daraus ziehen können, und damit …«
»… glaubhafter als zum Beispiel Ihre Aussagen.«
»Wieder korrekt. Aber das ist nur eine Antwort. Sie wirft sogleich die nächste Frage auf.«
»Warum will jemand aus dem Vatikan, dass die Ermittlungen eine glaubwürdige Antwort erbringen?«
»Genau.«
Ein Luftzug brachte die Kerzen zum Flackern.
»Kommen Sie, Savic.«
Lucretia hatte es plötzlich eilig. Sie winkte ihm, ihr zu folgen. Sirius war ein wenig verwirrt, ließ sich aber von der Nonne leicht vor einen Schatten ziehen, der sich aus der Nähe als ein eichener Schrank herausstellte.
Lucretia öffnete eine der Türen und bedeutete Sirius schlicht, dort hineinzusteigen. Sirius fühlte eine vage Berechtigung, sich über dieses Ansinnen zu wundern.
»Fragen Sie nicht, beeilen Sie sich lieber. Für Erklärungen ist später immer Zeit. Und tun Sie mir einen Gefallen«, Lucretia näherte sich, dass ihre Lippen beinahe sein Ohrläppchen berührten, »geben Sie Acht.«
Sanft aber bestimmt schob sie Sirius in den Schrank, dass er gar nicht auf die Idee kam, sich dagegen zu wehren. Sorgsam schloss die Nonne die Tür hinter ihm, dass der ohnehin schwache Kerzenschein nur durch einen schmalen Spalt zwischen den Schranktüren zu Sirius fand.
Während der Ermittler darüber nachdachte, ob Lucretias letzte Worte vielleicht auf seine Gesundheit gemünzt waren, hörte er die Nonne jemanden begrüßen. Stühle wurden gerückt, ab und an klapperte Besteck auf einem Teller. Gesprochen wurde vorerst nicht und so erlauschte Sirius vornehmlich das Knurren seines Magens. In gewisser Weise wähnte er sich wie ein ertappter Liebhaber, ohne das entsprechende Vergnügen gehabt zu haben. Sirius schloss die Augen und konzentrierte sich vollständig auf die Geräusche von der Tafel.
»Nun, welchen Eindruck hast du von dem Ermittler Savic? Übrigens, der Wein ist vorzüglich.«
Die Stimme kam Sirius bekannt vor.
»Interessiert dich das wirklich?«
Ja, dachte Sirius, schon.
»Du bist noch immer mies gelaunt, weil wir ihn dir vor die Nase gesetzt haben.«
»Wer hat sich das eigentlich ausgedacht? Du?«
Keine Antwort und dabei hätte Sirius auch das interessiert.
»Was habt ihr herausgefunden?«
»Savic ist keine große Hilfe. War auch nicht zu erwarten. Er kennt sich hier nicht aus.«
»Du wirst ihn anleiten.«
»Dazu habe ich weder Zeit noch Lust.«
»Sprechen wir nicht mehr davon.«
Der Tonfall des Besuchers wirkte plötzlich müde und unbeteiligt. Sirius hörte die Lehne eines Stuhles quietschen.
»Die Luft wird dünner, Lucretia. Wir müssen aufpassen, dass unsere Stadt am Leben bleibt.«
Die Nonne lachte trocken.
»Am Leben bleibt? Redest du von dir, Vater?«
»Der Papst wird bald sterben. Dann brauchen wir jemanden, der den Vatikan liebt; und den der Vatikan liebt. Jemand, der an die Zukunft denkt.«
Wieder seufzte eine Stuhllehne.
»Sei’s drum. Wir stehen am Scheideweg. Vergiss das nicht. Du hast eine große Aufgabe vor dir.«
Stuhlbeine scharten über den Boden. Schritte, feste, schwere Schritte waren zu hören. Die Tür schlug in den Rahmen. Sekunden später öffnete Lucretia den Schrank. Sie grinste.
»Haben Sie Hunger?«

Szenentrenner


Es gefiel Sirius über alle Maßen, mit der Nonne an einem Tisch zu sitzen. Zusammen räumten sie das alte Gedeck ab, nahmen einige neue Speisen und saßen über Eck am Tisch, so nahe und ungezwungen wie möglich. Es war, als hätte das letzte Erlebnis sie auf besondere Weise zusammengeschweißt.
»Wissen Sie, Sirius, Sie sind ein abschreckendes Beispiel aus der Außenwelt. Ein fürchterlicher Mensch.«
»Aha«, salutierte Sirius und überlegte, womit er diesen Eindruck hervorgerufen haben könnte. Aber Lucretia ließ ihn in der Beantwortung dieser Frage nicht lange warten.
»Als ich Sie das erste Mal sah, wirkten Sie auf mich wie ein schüchterner kleiner Junge, dem man das Lieblingsspielzeug genommen hatte.«
Sie stand auf und imitierte Sirius’ schleppenden Gang, den leicht nach unten geneigten Kopf und die säuerliche Miene, die er zu gerne aufsetzte.
»Aber heute Abend gefallen Sie mir im Ganzen recht annehmbar.«
»Wie beruhigend.«
»Bilden Sie sich nichts darauf ein.«
»Mitnichten.«
Lucretia gähnte und auch Sirius spürte die Schwere des Abends.
»Man hat mir noch nicht gezeigt, wo mein Zimmer ist.«
Lucretia grinste breit.
»Sie schlafen natürlich bei mir.«
»Angenehm.«
»Machen Sie sich keine falschen Hoffnungen. Im Vatikan gibt es kein Hotel und so hat man es naheliegend gefunden, Sie in den Verhörraum zu quartieren.«
»Damit kann ich leben«, erklärte Sirius und schnappte sich Lucretias und seinen Teller, um sie in die Küche zu bringen. »Was hat Ihr Vater damit gemeint, die Vatikanstadt stünde an einem Scheidepunkt?«
Lucretia war ihm gefolgt und stellte die Gläser in die Spüle.
»Warum fragen Sie mich das? Kann Ihnen doch egal sein. Wenn der Fall hier abgeschlossen ist, verlassen Sie den Vatikan und werden nie wieder zurückkehren.«
»Vermutlich haben Sie recht.«
»Ganz sicher habe ich recht. Vermutlich wartet Ihre Familie sehnsüchtig darauf, dass Sie zurückkehren.«
Sirius schüttelte den Kopf.
»Ich bin allein. Familie habe ich nicht, jedenfalls niemanden, der auf mich wartet oder mich gar vermissen würde.«
Lucretia schien überrascht.
»Wie steht es bei Ihnen, Lucretia? Ihren Vater habe ich bereits kennengelernt.«
»Wir sind hier alle eine große Familie.« Sie lächelte. »Vielleicht mit Ausnahme meines Vaters.«
»Sie sind eine sonderbare Person, Lucretia.« Sirius beeilte sich, zu ergänzen: »Auf eine merkwürdig positive Weise.«
»Ich bringe Sie jetzt zu Ihrem Zimmer. Es ist nicht weit.«
Lucretia winkte Sirius, ihr zu folgen.
»Moment.« Sirius bückte sich. »Hier liegt noch eine Gabel. Ich bringe sie schnell in die Küche.«
Lucretia wirkte nicht begeistert ob der Verzögerung, verkniff sich jedoch einen Kommentar. Sirius wollte sich beeilen, doch als er unter dem Stuhl, auf dem er gesessen hatte, eine zerknüllte Papierkugel entdeckte, zögerte er instinktiv.
Er nahm seinen Fund in die Hand und entknüllte ihn. Es war die blauweiße Verpackung eines Kaugummis. Eine ebensolche, wie er sie am Tatort gefunden hatte.
»Kommen Sie endlich. Die Nächte sind hier auch nicht länger.«
Lucretia legte die Hand auf die Klinke der Zimmertür. Sirius hörte ein leises Klicken. Er warf die Gabel zur Seite und stürzte sich auf Lucretia. Drei Sprünge, er packte sie an den Schultern, riss sie nach hinten und warf sich auf sie.
»Schwein!« Lucretia hatte die erste Überraschung überwunden und krallte die Fingernägel ihrer rechten Hand in Sirius’ Wange, während sie mit der anderen versuchte, seinen Oberkörper wegzustemmen.
Sirius roch den süßen Duft von Lucretias Haut und noch etwas. Noch einmal klickte es; dann zerriss eine Detonation die Luft; eine Druckwelle fegte über Sirius und nahm ihm den Atem. Es dauerte betäubend lange Sekunden, bis sein Verstand begriffen hatte, was passiert war.
Dort, wo sich vor wenigen Sekunden die Tür befunden hatte, gähnte ein Loch, so groß wie ein Fußballtor. Die Luft war mit Staub und Explosionsgerüchen angefüllt; Steine, Putz und Reste der Tür lagen auf dem Boden.
»Was ist geschehen?«
»Jemand hat es auf Sie abgesehen.«
»Auf mich? Absurd.«
Sirius richtete sich langsam auf, obgleich er zugeben musste, dass seine vorherige Lage nicht unangenehm war.
»Da außer Ihnen niemand wusste, dass auch ich mich im Raum befand, galt das Attentat offensichtlich Ihnen.«
Lucretia erhob sich und klopfte den Staub von ihrer Kutte.
»Die Frage ist: warum?« Als Sirius Lucretias betroffenes Gesicht entdeckte, bemühte er sich um Sachlichkeit. »Offensichtlich hat jemand etwas dagegen, dass Sie in diesem Fall ermitteln. Ich wusste es gleich, als ich Sie das erste Mal sah. Sie sind eine explosive Person.«
Er versuchte ein Lächeln, das an Lucretia abprallte.
»Nun gut, etwas mehr Ernsthaftigkeit. Rekapitulieren wir.« Dass Lucretia bis jetzt kein Wort gesprochen hatte, verwirrte Sirius, aber er bemühte sich, darüber hinwegzusehen. »Jemand versucht, die beste Ermittlerin der Vatikanstadt auszuschalten und zugleich bemüht man sich um Glaubwürdigkeit, indem man einen mittelmäßigen Ermittler des MSP einlädt. Passt das zusammen?«
»Ja.« Lucretia grinste schwach und Sirius war froh, denn schweigsame Frauen waren ihm ein Rätsel. Er nahm den Faden auf, den Lucretia ihm hingeworfen hatte.
»Wenn man ein falsches Ergebnis haben möchte und dieses glaubhaft verkaufen will.«
»Das bedeutet, das Opfer war mit Wissen und Wollen des Täters im Vatikan.«
»Aber irgendetwas ist schief gelaufen. Jetzt versucht jemand, alles zu vertuschen. Üblicherweise verbirgt sich ein Täter und wartet, bis sich der Sturm gelegt hat.«
»Das kann unser Täter aber nicht. Warum?«
»Er hat zu viel zu verlieren.«
»Erwähnte ich schon? Kanzler Valgregor lud mich in die Vatikanstadt ein.«
Lucretia blickte Sirius einen Augenblick mit zusammengekniffenen Augen an.
»Der Täter wird sich ärgern, wenn er erfährt, dass ich noch lebe.«
»An seiner Stelle würde ich es gleich noch einmal versuchen. Wir sollten ihm dabei helfen.«
»Sind Sie verrückt geworden? Nein, danke, aber nein!«
Sirius steckte die Hände in die Hosentasche und lief im Zimmer auf und ab.
»Was halten Sie von einer Falle, Lucretia?«
»Fallen mag ich.«
»Dachte ich mir doch.«

Szenentrenner


Der nächste Tag war ein sonniger. Obgleich die Temperaturen zu keiner sommerlichen Hitze anstiegen, genoss Sirius die Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht. Er hatte zusammen mit Lucretia gefrühstückt – Spiegeleier, die Reste einer gebratenen Taube und Orangensaftkonzentrat.
Es war einfach gewesen, die nächsten Schritte festzulegen. Das Ergebnis der Untersuchung des Pulvers im Reagenzglas vom Tatort beschleunigte ihre Gewissheit. Es enthielt ein Betäubungsmittel, das einen Menschen für zwei Stunden willenlos machte. Sirius kannte das Mittel. Es wurde in seiner Welt häufig bei Vergewaltigungen verwendet. Der Täter mischte dem Opfer das Mittel in den Drink und schleppte es an einen ruhigen Ort, wo er … Doch wozu mochte es im Vatikan zu nutzen sein?
»Wahrscheinlich zu dem gleichen Zweck, obgleich zu keiner Zeit eine Anzeige wegen Vergewaltigung erhoben wurde«, hatte Lucretia zwischen zwei Happen gemutmaßt.
»Bei der richtigen Dosierung bleiben dem Opfer keine Erinnerungen.«
»Ein leeres Blatt Papier, unbefleckt.«
»Unbefleckt ist ein schönes Wort.«
»Interessant, dass Sie es erwähnen. Erinnern Sie sich an die Mutter Oberin und die Nonnen, die ihre Empfängnis nicht erklären konnten?« Nach einer kleinen Pause fügte Lucretia hinzu. »Wie meine Mutter.«
Sirius entdeckte bei aller Beherrschung ein Quantum Unglück in ihren Augen.
»Ihr Vater ist Kanzler Valgregor. Der Name kommt recht häufig vor in dieser Angelegenheit.«
»Könnte Zufall sein.«
»Sicher.«
»Ich mag keine Zufälle. Verfahren wir wie besprochen?«
»Wie besprochen.«

Szenentrenner


Dank Lucretias Instruktionen fand Sirius den Palazzo del Cancelliere ohne Schwierigkeiten, stieg die marmornen Treppen empor und meldete einem einfältig dreinschauenden Portier seinen Wunsch, den Kanzler Valgregor in einer Mordangelegenheit zu sprechen. Sofort, wenn dem Portier Stellung und Gesundheit lieb wären. Der Pförtner schrieb eine Nachricht auf einen Zettel, rollte diesen und steckte ihn mit fahrigen Händen in eine Leitung, legte einen Schieber um und drückte einen Knopf. Sirius hörte ein zischendes Geräusch und eine Minute später tauchten drei Gardisten auf, die Sirius zu Martinius führten. Der Sekretär beeilte sich, Sirius zu begrüßen.
»Guten Morgen! Haben Sie gefrühstückt? Vielleicht einen Kaffee? Ist Nonne Lucretia mit Ihnen gekommen?«
Martinius spähte Sirius über die Schulter, als erwartete er dort Lucretia.
»Darüber wollte ich mit Ihnen reden.«
»Ach.« Martinius bekam hektische Flecken auf Stirn und Wangen. Sie passten gar nicht zu seinem dunkelblauen Anzug.
»Ja.« Sirius setzte eine ernste Miene auf, als habe er eine wichtige Neuigkeit und wäre sich dessen bewusst.
»Die Nonne«, setzte er an.
»Ja?« Der Sekretär beugte sich weit vornüber, als fürchtete er, nicht verstehen zu können.
»Gestern Abend wurde ein Anschlag auf sie verübt.«
Martinius hielt sich die Hand vor den Mund.
»Sie hat überlebt. Allerdings mit schweren Verletzungen. Sie befindet sich im Krankenhaus.«
Er legte Martinius die Hand auf den Arm. »Sie wird überleben, man sorgt gut für sie.«
»Sie wird überleben«, murmelte Martinius und wandte sich ab. Er nahm ein Stück Papier vom Tisch, zerriss es in vier Teile und knüllte eines davon zwischen seinen Fingern. Als er Sirius’ Blick bemerkte, beeilte er sich, zu versichern, dass es eine dumme Angewohnheit sei.
»Wie weit sind Sie mit den Ermittlungen?«
»Wäre die Nonne nicht unpässlich … Wir stehen kurz vor der Lösung.« Sirius gab sich große Mühe, so breit wie möglich zu grinsen. »Nun aber werden wir so lange warten müssen, bis Lucretia aufwacht. Sie ist sozusagen der Schlüssel zum Fall, wenn Sie verstehen.«
Segretario Martinius sah nach dem Gegenteil aus.
»Ich werde jetzt zu meinem Quartier gehen.«
Sirius drehte auf dem Absatz, marschierte in Richtung Ausgang und zählte leise bis drei. Auf der letzten Zahl rief Martinius: »Warten Sie, Savic. Sie können nicht alleine auf dem Gelände … ich habe noch zu tun. Ich rufe Ihnen Gardisten, einen Moment.«
Sirius war stehen geblieben und lächelte leicht, was alles bedeuten konnte. Außer, dass er traurig war.

Szenentrenner


Die Leibgardisten waren zwei vierschrötige Kerle, die ihn, ohne mit den Augen zu zwinkern, in das Gebäude mit dem Verhörraum brachten. Sirius vermutete, dass sie abwechselnd vor seiner Tür Wache hielten. Seine Ahnung bestätigte sich, als er den Raum verlassen wollte. Einer der Gardisten lehnte gelangweilt an der Wand, gegenüber der Zimmertür und schaute misstrauisch zu ihm herüber. Sirius murmelte etwas von Austreten und dass er hoffte, wenigstens dies alleine zu dürfen. Mürrisch brummend folgte ihm der Gardist bis zur Tür der Toilette und wartete davor.
Wie Lucretia vorhergesagt hatte, befand sich oberhalb der Urinale ein Fenster. Es war knapp einen halben Meter hoch aber lang gezogen; drei Meter schätzte Sirius. Davor befand sich ein Sims, zwei Handbreit tief. Vorsichtig stieg Sirius auf eines der Urinale, öffnete das Fenster und rollte waagerecht ins Freie.
Die Schatten, die die Gebäude auf die Straße warfen, kamen ihm jetzt gut zupass. Die Kunst des Nichtauffallens war selbstbewusstes Auftreten. Sirius war ein Meister darin und erreichte das Hospital unbelästigt. Er blieb vom Empfang unbeachtet und nahm die Treppe in den dritten Stock, dort, wo Lucretias Krankenzimmer lag. Seine Vermutung war korrekt, im Treppenhaus war es so einsam wie auf einer Mülldeponie.
Die Mittagssonne tauchte das Zimmer neben Lucretia in warmes Gold.

Szenentrenner


Die Nonne atmete schwer, Sirius spürte ihre Hand auf seiner Schulter.
»Er kommt«, flüsterte der Ermittler.
»Sie kommen«, verbesserte Lucretia.
Auf dem Flur waren Schritte zu hören. Schwere, dunkle Schritte. Lucretia hatte recht: Es waren zwei Personen.
Die beiden Ermittler hörten die Ankömmlinge wispern. Sirius nahm die Klinke der Verbindungstür in die Hand; im Nacken spürte er Lucretias heißen Atem.
Nebenan wurde die Tür vorsichtig geöffnet. Beide Personen schlüpften in das Zimmer.
Lucretia drängte gegen Sirius Schulter, doch er hielt dagegen. Noch durften sie sich nicht zu erkennen geben. Es kam auf den richtigen Zeitpunkt an oder sie gefährdeten den Erfolg ihres Plans. Dann hörte Sirius Metall auf Metall reiben.
»Jetzt!«
Er stürmte als Erster in das Krankenzimmer. Lucretia in seinem Rücken. Rufe, Schreie. Sirius stürzte sich auf den Mann mit der Waffe. Die Überraschung war so groß, dass er ihm die Pistole mit einem Griff aus der Hand wand, sie zu Boden schleuderte und mit dem Fuß unter das Krankenbett stieß. Lucretia war im Türrahmen stehen geblieben und richtete ihre Pistole auf den zweiten Mann.
»Vater«, sagte sie keinesfalls überrascht.
»Ich kann das erklären.« Kanzler Valgregor blickte abwechselnd auf Sirius und seine Tochter.
Lucretia hob langsam den Lauf der Pistole, bis er genau auf Valgregors Gesicht zielte.
»Lucretia, bitte!«
Lucretias Augen flimmerten, die Muskeln in ihrem Gesicht erstarrten. Sie hielt die Luft an.
»Tun Sie etwas, Martinius!«
»Wenn Sie auch nur eine Bewegung machen, haben Sie ein Loch in Ihrem Schädel«, warnte Sirius den Sekretär.
Der Kanzler starrte blöde auf den Ermittler. Dann wandte er sich wieder an die Nonne.
»Dies alles geschieht zum Wohle unseres Staates.«
»Zum Wohle unseres Staates?« Es hätte nicht viel gefehlt und Lucretia hätte vor ihm ausgespuckt. »Du meinst wohl zu deinem Wohl. Glaubst du wirklich, all die Frauen, die du vergewaltigt hast, fühlten sich wohl dabei? Glaubst du, Mutter fühlte sich wohl dabei?«
»Du verstehst nicht. Der Vatikan drohte auszusterben.«
»Ich verstehe nur zu gut, Kanzler.« Lucretia entsicherte die Waffe. »Was war mit dem Mann an der Mauer? Wollte er mehr Geld für das Betäubungsmittel? Musste er deshalb sterben?
»Warten Sie, Lucretia.« Sirius wurde unruhig.
»Hör auf den Mann, Tochter!«
»Ich bin nicht mehr deine Tochter. Ich bin nur das Opfer einer Vergewaltigung.«
Der Arm, mit der Pistole in der Hand, wurde steif. Lucretia kniff die Augen zusammen.
»Tun Sie etwas!« Der Kanzler stierte auf den Sekretär.
»Nein!«, schrie Sirius und stürzte sich auf Martinius.
Der Sekretär war mit einem Satz bei Lucretia und warf sich auf sie. Ein Schuss löste sich. In dem kleinen Raum war er so laut, dass Sirius glaubte, sein Trommelfell würde zerspringen. Lucretias Schrei folgte dem Schuss und noch jemand schrie. Es war der Kanzler, in dem Augenblick, als sein Sekretär zu Boden stürzte.
Aus einer erstaunlich kleinen Wunde in Martinius’ Brust nässte Blut das weiße Hemd. Lucretia stand, noch immer die Waffe im Anschlag, und starrte abwechselnd auf ihren Vater und den Niedergeschossenen.
»Geben Sie mir die Waffe.« Sirius trat neben sie und berührte mit der Schulter die ihre, dass sie sich anlehnen konnte.

Szenentrenner


Ermittler Savic hatte seine Sachen gepackt und wartete im Verhörraum darauf, dass irgendjemand ihn abholte. Es waren zwei Stunden seit dem Schusswechsel im Krankenhaus vergangen. Der Ermittler wunderte sich, dass er noch hier war.
Der Auftrag war erledigt.
Gab es einen Grund, warum er hierbleiben sollte? Gab es einen Grund, warum jemand wollte, dass er hierblieb?
Die größte Angst hatte Sirius davor, dass ihn Lucretia fragen würde und er eine Antwort geben sollte.
Er hatte die Tür nicht gehört. Plötzlich saß sie neben ihm. Lucretia.
»Sie sind ein guter Ermittler, Sirius.«
Sie schwiegen.
»Ein passabler Mensch. Passabler, als ich gedacht hatte.«
»Ich weiß nicht.«
Sirius fand, an dieser Stelle würde Schweigen gut passen.
»Wollen Sie noch ein bisschen bleiben?«
Sirius dachte nach. Da war sie, die Frage, vor der er Angst gehabt hatte.

27. Jul. 2012 - Michael Pick

Bereits veröffentlicht in:

ELECTI
M. Haitel (Hrsg.)
Anthologie - Steampunk - p.machinery - Mar. 2012

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