|
Reno von Gabriele Ketterl
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
|
AGENTUR ASHERA
A. Bionda
46 Beiträge / 49 Interviews / 102 Kurzgeschichten / 2 Artikel / 136 Galerie-Bilder vorhanden |
|
Peter Wall © http://www.picturewall.eu „Sag mal Alter, wolltest du nicht schon vor ner guten Stunde weg sein?“
Michael Wagners Stimme riss ihn aus seinen dunklen Gedanken. Schuldbewusst versuchte er das Foto, das er angestarrt hatte, in der Schublade verschwinden zu lassen. „Ja, Mike, du hast ja Recht, ich hau gleich ab.“
„Reno, entspann dich! Du musst dich nicht verteidigen.“
„Ist schon okay. Heute ist eben ein Scheißtag.“ Alexander Berg streckte seine steifen Gliedmaßen.
Sein Vorgesetzter und gleichzeitig wahrscheinlich bester Freund, trat hinter ihn und legte ihm seine Hand beruhigend auf die Schulter.
„Das weiß ich doch, aber mal ehrlich, das was du jetzt machst, ändert nichts mehr daran.“ Alex gelang ein etwas schiefes Lächeln. „Stimmt, aber ich kann nicht anders.“
„Ist klar, aber trotzdem verziehst du dich jetzt. Das ist ein Befehl, verstanden?“
„Verstanden! Ich räum nur noch auf. Jetzt hau du lieber ab, deine Familie wartet auf dich. Grüß die Bande, vor allem Silvie.“
„Mach ich und du vergisst nicht, was ich dir gerade gesagt habe, klar? Willst du wirklich nicht mitkommen? Silvie kocht immer für ne ganze Brigade, wir würden uns alle freuen.“
„Danke Mike, das ist wirklich nett von dir, aber glaub mir, ich bin noch immer keine anregende Gesellschaft, nicht heute. Ich komm echt klar, okay?“
Michael sah ihn so schief an, dass er genau wusste, dass er ihm kein Wort glaubte. Aber er respektierte seine Entscheidung.
„Ich verzieh mich. Auch wenn’s irgendwie saudumm klingt, frohe Weihnachten, Reno!“
„Raus mit dir!“
Alex grinste. Reno würde ihm wohl bleiben. Er kam ja auch nicht so ganz von ungefähr. Seit er vor knapp vier Jahren als Undercover Cop im Osten der Republik abgetaucht war, sich seine Haare wachsen ließ und den Dreitagebart kultivierte, sah er tatsächlich dem coolen Typen aus der 80ger-Jahre-Serie „Renegade“ verdammt ähnlich. So übel war das gar nicht. Auch als er jetzt zurückgeholt worden war, da, nachdem sie den Drogenring in Rostock hatten hochgehen lassen, die Luft für ihn fies dünn geworden war, blieb ihm das Image. Damit konnte er leben. Nicht leben konnte er nach wie vor mit dem, was vor vier Jahren passiert war. Noch einmal angelte er das alte Bild aus der Schublade. Sie war so jung gewesen, so schön. Das Mädchen auf dem Bild, das ihn verliebt anstrahlte, war gerade mal zweiundzwanzig Jahre alt gewesen. Das ist verdammt noch mal kein Alter. Da hat das Leben noch gar nicht richtig angefangen. Alle zerrissen sich das Maul über Berlins Drogenszene. Über die verfluchte High Society redete in der Beziehung niemand. Koks und Heroin gab es hier genauso, nur kam man leichter ran, weil irgendein reicher Idiot immer was locker machte. Als Cassy in die Modelszene einstieg, war er von Anfang an dagegen gewesen. Aber wie redet man der Frau, die man liebt, ihren Traum aus? Dann hatte sich sein süßer Engel verändert – langsam, schleichend. Die schöne, blasse Haut bekam seltsame Flecken, die sie überschminkte, tiefe, fast schwarze Augenringe ließen die früher strahlenden blauen Augen müde und traurig erscheinen. Die langen, dichten blonden Haare begannen strohig zu werden, nach einer Weile fand er ganze Büschel im Bad. Sie erzählte etwas von Stress und zu wenig Vitaminen, aber er glaubte ihr von Anfang an nicht. Eines Abends erwischte er sie, wie sie sich in ihrer Küche Heroin spritzte. Nicht in den Arm, wo er es sofort gesehen hätte, nein, in den Knöchel. Er schrie, er tobte und dann hatten sie Arm in Arm in ihrer kleinen Küche gesessen und geweint.
Sie nahmen gemeinsam den Kampf auf. Cassy war stärker gewesen, als sie selbst gedacht hatte. Mit seiner Hilfe kam sie ins Methadon-Programm. Es ging ihr bald besser. Sie bekam wieder Farbe und ab und an strahlten auch ihre Augen wieder. Alex hatte alles versucht, um sie von der Szene fernzuhalten. Cassy hatte es ihm fest versprochen, nie wieder mit den Drogen anzufangen. Sie wollte weg von der Berliner Modeszene, weg von allen Verlockungen. Vor vier Jahren musste er am 24. Dezember bis spät in die Nacht bei einem Einsatz dabei sein. Er würde den Abend nie vergessen. Ein Familienvater hatte seine Kinder und seine Frau erschossen. Nach Mitternacht hatten sie endlich alles im Griff. Sie waren auf dem Rückweg, als der Notruf aus einem Nobellokal kam. Auf der Toilette hatten sie eine Tote gefunden. Alex und sein Boss Michael fuhren hin. Als sie eintrafen, waren schon mehrere Kollegen vor Ort. Alex wusste nicht, warum sie alle mit ihm und Michael zum Fundort der Leiche gingen. Er konnte sich die aschfahlen Gesichter seiner Freunde nicht erklären. Als er Cassy sah, war er zusammengebrochen. Seine Beine hatten einfach den Dienst versagt. Später sagten sie ihm, er habe gebrüllt, geweint, wollte immer wieder zu ihr, wollte ihr helfen, doch sie war tot – sein Engel war tot. „Dreckiges Heroin“ nannte Michael den Mix, an dem sie elendig gestorben war. Sie konnten die Spur bis Rostock verfolgen. Die Kollegen dort kämpften seit Langem gegen einen Drogenring, der nicht greifbar war. Alex hatte eine Elitetruppenausbildung. Er bat darum, zur Sondereinheit versetzt zu werden. Für den normalen Dienst war er, mit dem Hass, den er in sich trug, nicht tragbar. Michael ebnete ihm den Weg und so tauchte er nur wenig später unter dem Decknamen „Reno“ in die Drogenszene ein. Knapp vier Jahre später hatte er aufgeräumt. Drei erschossene Dealer, vier Bosse hinter Schloss und Riegel, zwei davon mit gebrochenen Knochen. Er hatte Cassy gerächt, aber der Schmerz war noch da.
Alex legte das Bild endgültig in die Schublade, räumte seinen Schreibtisch auf und verließ das Büro. Auf dem Weg öffnete er seinen Zopf und seine langen, braunen Haare fielen ihm über die Schultern. Er mochte sie, sie passten zu ihm.
„Mann, das ist ja arschkalt.“ Am Liebsten wäre er wieder umgekehrt, aber das wäre auch dämlich gewesen. Also klappte er den Kragen seiner fellgefütterten Lederjacke hoch und stapfte hinaus in den Berliner Winter. Auf zu Hause hatte er keinen Bock. Die neue Wohnung war cool, heute aber hatte er Angst dort zu ersticken. Er schlenderte zum Alexanderplatz und von dort aus zum nahen Weihnachtsmarkt. Das war das Gute an Berlin: Die Märkte hatten ewig lange offen und man war nie allein. Viele verlorene oder einsame Seelen geisterten dort auch heute herum. Alex ließ sich durch die Verkaufsstraßen treiben und genoss die guten Düfte. Zimt, Honig, Glühwein, er mochte das pappige Zeug zwar nicht, aber zum Riechen war es okay. Als ihm der Geruch von Kaffee in die Nase stieg, hielt er an. An dem Stand gab es Latte Macchiato mit Zutaten nach Wahl. Seine fiel auf einen kräftigen Schuss Rum. Das roch gut und tat gut.
Alex stellte sich an einen der kleinen Tische und trank seinen Kaffee, dabei glitt sein Blick wie immer beobachtend über die Menge – Copkrankheit. Beachtlich viele Menschen waren unterwegs, er sah viele ältere, die langsam über den Markt schlenderten. Aber auch viele Jugendliche, denen die Feuerzangenbowle näher lag als die Mitternachtsmesse. Er wurde im Januar dreißig. Ob auch er in den nächsten Jahren diesen Abend hier verbringen würde? Als er seinen Blick erneut über seine Umgebung schweifen ließ, sah er sie. Wie alt mochte sie ein? Vier, bestenfalls fünf Jahre, ein kleines Mädchen. Mehrere Male war sie nun schon zwischen dem Stand mit den Elfen und Feuerdrachen und dem mit den frisch gebackenen Keksen hin und her gelaufen. Die Kekse schienen ihre Aufmerksamkeit mehr zu erregen. Er konnte nicht umhin, ihre Unterhaltung mit dem Standbesitzer mitzuhören. „Wie viel kosten denn die Kekse , bitte?“
„Die kosten acht Euro, meine Kleine, selbst gebacken. Ganz frisch.“
Sie griff in die Tasche ihres dunkelblauen Puschelmantels und zog eine kleine Geldbörse heraus. Um das Kleingeld darin zu zählen, musste sie ihre warmen Fäustlinge ausziehen. Mehrmals zählte sie gewissenhaft ihr Geld. „Haben Sie auch billigere, bitte? Ich habe nicht so viel Geld.“
„Na komm mal meine Kleine, wie viel haste denn?“ Der Standbesitzer beugte sich über seine Auslage.
„Ich hab nur vier Euro. Darf ich bitte eine halbe Tüte haben?“ „Och Kleene, ich kann die Dinger doch nicht aufmachen. Aber weil Weihnachten ist, lauf doch mal schnell zu deinen Eltern und hol dir noch einen Euro. Ich geb dir die Tüte für fünf Euro, einverstanden?“
„Das ist nett von Ihnen, aber ich kann nicht zu meinen Eltern. Ich bin alleine hier!“ Das Wort „alleine“ war Alex' Stichwort. Er stellte seinen Kaffee ab und ging zu dem Stand, an dem der Besitzer begann, nervös zu werden. Alex zog seine Dienstmarke und zeigte sie ihm. „Ist in Ordnung, ich bin Polizist. Ich kümmere mich darum!“
„Das höre ich gerne!“ Der Mann war sichtlich erleichtert.
Alex ging in die Hocke und sah der Kleinen ins Gesicht. „Hi, ich bin Alex, sagst du mir auch wer du bist?“ Er hatte ja nicht so viel übrig für Kinder, aber die Kleine war sowas von süß. Blonde Kringellocken, die sich unter der weißen Zwergenmütze herausringelten, riesige blaue Augen und von der Kälte knallrote Bäckchen. Es fiel ihm verdammt schwer, nicht an einen Posaunenengel zu denken.
„Ich bin Teresa, aber alle sagen Tessa zu mir. Alex, du bist echt nett, aber ich darf nicht mit Fremden sprechen.“
„Tessa, ich glaube, das passt, ich bin Polizist und außerdem kennst du mich jetzt.“ Ein strahlendes Lächeln glitt über das Kindergesicht. „Stimmt!“
„Na siehst du. Und jetzt sagst du mir bitte, warum du alleine hier bist, mitten in der Nacht und Kekse kaufen willst.“
Tessa schlug die Augen nieder. „Es tut mir leid. Ich weiß, dass ich das nicht darf. Aber es geht Mama so schlecht. Und Mama muss auch was essen, und ich kenne die Kekse, die sind so lecker. Ich wollte ihr eine Freunde machen.“
Bei Alex gingen alle Alarmsirenen gleichzeitig an. „Es geht deiner Mama schlecht? Was hat sie denn?“
„Sie hustet so viel und sie hat ganz viel Bauchweh. Sie sagt immer, ihr fehlt nichts, aber ich bin doch nicht dumm!“ Tessas kleine Stirn lag in tiefen Falten.
„Tessa, ich bring dich jetzt heim. Ist das in Ordnung? Dann sehen wir gemeinsam nach deiner Mama, okay?“
Die Kleine strahlte. „Au ja, gerne!“
Er nahm das Kind an die Hand und sie verließen eilends – mit Keksen – den Weihnachtsmarkt.
„Du hast aber coole Stiefel!“ Alex grinste. „So klein und steht schon auf Biker Boots, das kann ja heiter werden.“
Sie waren etwa zwei Blocks gelaufen, als Tessa plötzlich rief: „Mami, was machst du denn?“ Alex hob den Blick und sah eine sehr schmale, sehr zarte junge Frau, das große Abbild der Kleinen, die neben ihm hertrabte. Sie hatte sich in einen braunen Wollmantel gewickelt und schien Mühe zu haben, sich auf den Beinen zu halten. Sie streckte die Hand aus. „Tessa, komm sofort her. Lassen Sie bitte mein Kind los!“ Guter Gott, er konnte sie kaum verstehen, so leise war ihre Stimme. „Ganz ruhig, ich bin Polizist, hier, meine Marke.“ Er hielt ihr die Marke entgegen und erst als sie diese genau angesehen hatte, schien sie etwas beruhigt.
Sie atmete flach und hektisch.
„Mama, ich wollte dir nur ein Geschenk kaufen.“ Tessa klang schuldbewusst. „Schatz, du musst mir doch nichts schenken.“ Sie streckte die Arme nach Tessa aus und als die Kleine zu ihr lief, sah Alex, wie ihre Mutter zu straucheln begann. Ein grauenhaftes Deja Vu schob sich in seinen Kopf. Er sprang vor und fing die Frau auf. „Tessa, wo ist eure Wohnung?“
„Komm mit!“ Tessa lief so schnell sie konnte voraus und er, die zitternde Frau auf den Armen, hinterher. An einem kleinen Mehrfamilienhaus zog Tessa ihren Schlüssel heraus, öffnete und ließ ihn ein. Im dritten Stock sperrte sie eine Tür auf. Eine kleine, gemütliche, blitzsaubere, aber eiskalte Wohnung erwartete sie. Er sah sich um und Tessa wies ihm den Weg zum Sofa. Dort legte er vorsichtig ihre Mutter ab, und sah sich hektisch um. „Deine Mama braucht was Warmes zu trinken. Habt ihr Milch oder Tee da?“
Tessa lief zum Kühlschrank und holte eine Milchpackung heraus. Als er über die Kleine in den Kühlschrank sah, fehlten ihm die Worte. Bis auf Kindernahrung, ein paar Kinderpuddings, die Milch und ACE Saft war nichts darin. Er wollte gerade zum Herd, um die Milch warm zu machen, als er die leise Stimme der Frau hörte.
„Bitte nicht! Die ist für Tessa. Ein Schluck Wasser langt doch sicher.“
Alex ging neben dem Sofa auf die Knie und sah der Frau in die Augen. „So, jetzt sagen Sie mir bitte, wann Sie das letzte Mal etwas gegessen haben. Außerdem sind Sie krank, sie haben Fieber und das nicht zu knapp. Was ist hier los?“ Er sah, dass sie antworten wollte, aber sie zitterte so sehr, dass ihre Zähne unkontrolliert aufeinander schlugen.
Gut, wenn einer der besten Freunde Arzt ist. Markus und sein Notfallteam waren innerhalb von 15 Minuten da. Markus diagnostizierte eine böse Grippe, Unterernährung und ein gefährliches Stadium der Dehydration. „Die Frau hat offenbar seit Tagen nichts gegessen. Ich würde sie am liebsten mitnehmen.“
„Na toll und der Zwerg?“ Markus schien nicht überzeugt. „Es muss jemand bei ihr bleiben.“
„Das geht klar, ich hab grad nichts Besseres vor. Glaub mir, ich lass die beiden nicht allein. Wenn was ist, hol ich dich sofort!“
Markus, der Alex' Geschichte kannte, ahnte, was in ihm vorging. „Gut, ich geb ihr ein paar Aufbauspritzen und häng sie an einen Tropf. Wenn der durch ist, hängst du den Nächsten dran, klar?“
„Klar!“ Als Markus weg war, sorgte Alex dafür, dass die Frau warm und weich lag. Sie schlief jetzt.
„Tessa, hast du eine Ahnung warum deine Mama nichts isst?“
„Ja, Mama arbeitet ganz viel, das Geld langt trotzdem nicht. Aber es muss reichen. Mama sagt, wenn es nicht reicht, dann kommt Papa und holt mich weg. Ich will nicht, dass er herkommt. Er hat Mama geschlagen. Das darf er nicht, oder?“
Alex schluckte. Hier hungerte eine junge Frau, weil irgendein Arschloch sie mit ihrem Kind erpresste. „Nein Tessa, das darf er nicht!“ Er streichelte Tessa beruhigend über den Kopf und ging hinüber zum Sofa. „Tessa, wie heißt deine Mama eigentlich?“
„Kerstin. Sie ist hübsch, oder?“
Alex lächelte. „Ja Tessa, deine Mama ist sehr hübsch!“ Ihm würde, verdammt nochmal, nicht noch eine Frau an diesem Misttag wegsterben. „Tessa sag mal, habt ihr zu Abend gegessen?“
„Äh ja, zwei Puddings!“
„Hm, hast du Hunger? Was magst du denn gern?“ Alex zückte sein Handy. Bei seiner genialen Kochkunst hatte er sicherheitshalber alle Restaurants, die lieferten, eingespeichert.
„Ich mag Nudeln!“
Warum hatte er das nur geahnt? Alex grinste in sich hinein.
Eine gute halbe Stunde später wurden zwei Riesenportionen Spaghetti Bolognese, zwei Pizzen und eine doppelte Portion Rinderbrühe mit Gemüseeinlage geliefert. Dazu Brot, ein ganzer Limonenkuchen, Vanilleeis und Limonade.
Als Kerstin am nächsten Morgen erwachte, stand ein fremder, gut aussehender Mann an ihrem Herd, wärmte Brühe auf und kochte Kakao zu Zitronenkuchen. Die Wohnung war warm und Tessa deckte den Tisch. Sie wagte kaum zu atmen, da sie befürchtete zu halluzinieren. Doch dann drehte sich Tessa um, sah, dass ihre Mutter wach war und lief sofort zu ihr.
„Mama, guck mal, Alex macht Frühstück, total lecker. Er bleibt so lange, bis wir ihn rausschmeißen, sagt er, und ich darf Reno zu ihm sagen! Cool, oder?“
24. Dez. 2012 - Gabriele Ketterl
[Zurück zur Übersicht]
|
|