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Das Postmortem-Projekt
von Arne Kilian

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
5 Beiträge / 61 Interviews / 20 Kurzgeschichten / 16 Galerie-Bilder vorhanden
Mark Freier Mark Freier
© http://www.freierstein.de
Der Tod ist etwas Unbekanntes. Er ist eine Grenze. Nun war diese verschoben worden und die Kritiker im Ethikrat mussten mit dieser Gewissheit leben. Nach wochenlangen Diskussionen hatten Mark und die meisten anderen Mitglieder des Rates dem Projekt zugestimmt.
Es war bereits nach Mitternacht, als er in den Mietwagen am Flughafen von Brüssel stieg. Der Motor sprang an und Mark versuchte sich zu erinnern, wann er Lea zum letzten Mal gesehen hatte. Ihr Name war schon vor einigen Wochen in einer Dokumentation aufgetaucht, denn sie gehörte zu dem Team der Wissenschaftler, das Postmortem entwickelt hatte.
Das Display leuchtete blau auf und im Radio wurden die ersten Meldungen verlesen. Der Pressetext war erst wenige Minuten alt und schon stürzte sich die Meute darauf: Gestern Abend hat das europäische Justizministerium das Todesurteil für einen Serienmörder im Beisein seines letzten Opfers vollstrecken lassen. Dafür hatten die Wissenschaftler eine virtuelle Kopie von dem Gehirn des Opfers erzeugt.

Szenentrenner


Lea strich ihr Haar glatt und klemmte sich eine rote Strähne hinters Ohr. „Scheinbar bist du jetzt berühmt! Wie groß ist dein Team?“, fragte Mark. Sie saßen sich gegenüber.
Der Blick ihrer grünen Augen bezwang ihn für eine Sekunde. „Fünf Forscher und zwei Leichen im Kühlhaus.“
Mark räusperte sich. Sein Blick verlor sich an ihr und Erinnerungen wurden geweckt.
„Für das Fortbestehen von Postmortem verlangt das Protokoll deines Ethikrates einzelne Interviews. Willst du direkt mit mir beginnen?“ Leas Worte rissen ihn aus seiner Fantasie.
„Ich hatte auf ein Abendessen gehofft!“
Sie lächelte kurz und erwiderte: „Ich zeige dir am besten zuerst die Anlage.“

Als beide den Sicherheitsbereich passiert hatten, ahnte Mark noch nicht, dass nun die schlimmsten Stunden seines Lebens beginnen sollten.
„Du musst deine Kleidung ausziehen. Hinter der Dekontaminationseinheit findest du einen sterilen Anzug.“
Er zog seine Schuhe aus und stand kurz darauf in Unterwäsche vor ihr.
„Soll ich mich umdrehen?“ Sie lachte. Lea war schneller gewesen – und schamloser.
„Gehen wir gemeinsam duschen?“
Sie errötete und entgegnete: „Touché!“

Der Raum war absolut geräuschlos. Mark passierte die Schleuse zuletzt, ein rotes Licht blendete ihn kurz, sodass er noch immer zwinkern musste. An den Wänden befanden sich weiße Metallplatten in verschiedenen Größen. Genau genommen bestand der gesamte Raum vom Boden bis zur Decke aus diesen Platten. In der Mitte stand eine getönte Glasscheibe; sie war mannshoch und etwa zwei Meter breit.
„Eure Wäsche könnte mehr Weichspüler vertragen.“
„Das tut mir leid. Wir haben uns hier auf das Waschprogramm für ganze Kerle geeinigt.“
Mark hob seine Handflächen nach oben und grinste.
Lea richtete ihre Schultern auf. „Herzlich Willkommen bei Postmortem! Du siehst nun einen Stand der Wissenschaft, von dem Einstein nur träumen konnte.“
Nach all den Jahren hatte sie ihre Reize halten können. Das Bild aus der Umkleide legte sich wie ein Schatten auf Marks Netzhaut und überdeckte Leas weißen Laboranzug. Die Universität und das gemeinsame Referat in Bioethik wirkten so nah wie gestern – er der Geisteswissenschaftler und sie die Naturwissenschaftlerin hatten vom gesamten Hörsaal minutenlangen Applaus erhalten und anschließend ihren Erfolg zuerst mit Rotwein und dann hemmungslos gefeiert.
Ihre Frage kam unerwartet und durchbrach seinen Tagtraum: „Bist du gläubig?“
Bevor er antwortete, atmete Mark hörbar ein. „Warum ist das wichtig?“
„Postmortem stellt alles auf den Kopf und dabei haben wir erst wenige Daten auswerten können.“ „Ich verstehe nicht. Postmortem liest die Gehirnsignale ein und erstellt für sie eine Simulationsebene.“
„Richtig. Wir bilden für einen ethisch festgelegten Zeitraum von fünf Minuten ein virtuelles Jenseits, mit dem wir kommunizieren können. So ist es auch für das Mordopfer gewesen. Jetzt ruht es hoffentlich in Frieden.“ „Es ist ein erschreckender Quantensprung der Wissenschaft, aber warum fragst du, ob ich gläubig bin?“, wollte Mark wissen.
„Ich werde es dir zeigen.“ Lea ging einige Schritte bis zur getönten Glasscheibe, hob ihre Hand und ein blaues Quadrat erschien auf der Arbeitsfläche. „Wir kennen das Material erst seit einer Woche.“
Mark folgte ihr und stellte sich neben sie. „Von welchen Daten sprichst du?“ Er verspürte das Verlangen, Lea zu berühren.
Sie drehte sich zur Seite und fixierte ihn. „Ich zeige dir, was wir wissen.“
Eine Figur erschien auf dem Glas. Sie sah verschwommen aus und das Gesicht war so stark verwischt, dass man noch nicht einmal das Geschlecht erkennen konnte. „Du siehst hier die Startsequenz von Postmortem. Das Gehirn wurde dem Körper bereits entnommen und befindet sich in einer Nährlösung. Gerade beginnt das System, die neuronalen Strukturen zu lesen. Nach neunzig Sekunden ist der Scan abgeschlossen; dann können wir mit den Daten ein virtuelles Gehirn konstruieren.“
„Warum zeigt uns Postmortem überhaupt eine Person?“
„Das war uns anfangs auch nicht klar. Unser Psychologe ist der Auffassung, dass wir hier das verinnerlichte Selbst sehen.“
„Aus welchem Grund ist das Bild unscharf?“ „Die Gehirnareale werden Stück für Stück abgetastet. Es fehlen noch ...“ Lea zögerte, ehe sie weitersprach. „... Informationen, bevor man etwas erkennen kann. Ich spule die Aufzeichnung vor.“ Sie zog ihren Zeigefinger über einen Balken unter dem Bild und allmählich stellte sich eine Schärfe ein. „Hier ist der Scan abgeschlossen. Das, was du nun siehst, entspricht dem Selbstverständnis des Probanden. Der reale Körper sieht anders aus.“
Mark rieb seine Augen. „Wer sich schön findet, der wird also als Model dargestellt?“
„So in etwa ist das richtig, aber darum geht es mir jetzt nicht. Ich zeige das Video nun ab der achtzigsten Sekunde. Konzentriere dich bitte genau auf die Person.“
Die Figur war schemenhaft dargestellt. Es geschah zunächst nichts weiter, dann flackerte das Bild einen Moment und ein Mann mittleren Alters war zu sehen. Er hatte schwarze Haare, ein breites Kinn und seltsamerweise blaue Augen. Sie passten nicht zu seinem südländisch wirkenden Äußeren. „Meinst du seine Iris? Mir fällt ansonsten nichts auf.“
„So ist es uns auch eine Weile ergangen. Unser Informatiker Doktor Benson hatte schließlich die Idee. Ich verkürze das Ganze.“ Sie spulte das Video einige Sekunden zurück und startete es erneut. Als das Bild kurz gestört wurde, stoppte Lea die Wiedergabe, ging einen Schritt nach links und öffnete ein weiteres Fenster. Sie wählte einen Ordner aus. „Ich präsentiere dir nun eine kurze Diashow, aber ihre Bedeutung ist noch nicht offiziell geklärt.“

Szenentrenner


„Man wird die Daten anzweifeln.“ Mark zog an einer Zigarette. Seit dem Studium hatte er nicht mehr geraucht. Nun befanden sie sich bei Lea zu Hause. Es war ihr Vorschlag gewesen.
Sie rauchte ebenfalls. „Das ist nicht sicher.“ „Lea, dir muss klar sein, dass du die Sache nicht objektiv betrachtest.“ Er nahm einen weiteren Zug und schloss die Augen. Der Mann befindet sich vor ihm. Sein Gesicht ist unscharf. Plötzlich flackert der Monitor und Lea sagt etwas: „Es war Bensons Idee! Er hat die zweite Präsenz entdeckt.“
Die Aufnahmen ziehen Mark an, lassen ihn nicht los. „Was heißt das?“, fragt er.
Sie zeigt auf die Bildstörung. Vorne steht ausdruckslos der Mann. Mark möchte auf ihn zugehen, ihn noch näher betrachten, doch es geht nicht. Im Hintergrund befinden sich Verzerrungen.

Die Fotoserie hatte aus fünfzehn Screenshots bestanden. Auf den ersten Darstellungen war nicht viel zu erkennen gewesen. Mark konnte sich an alles genau erinnern. Es hatte ihm Angst gemacht und er spürte sie noch immer. Die Aufnahmen wechseln alle fünf Sekunden. Es ist ein Rhythmus, den man mit dem Fuß mittippen kann. Klapp ... Klapp ... Klapp ... Mit jedem Wechsel wird die Verzerrung größer.
Lea spricht zu ihm: „Anfangs dachten wir, das Programm sei kurz vor Abschluss des Scans überlastet. Wir haben die Prozessorleistung erhöht, doch das Flackern blieb.“
Ein schwarzes Gebilde befindet sich direkt hinter dem Mann und schlüpft Schritt für Schritt in ihn hinein. Zeitgleich wird er scharf dargestellt.

Mark öffnete seine Augen. „Lea, die Bilder sind spannend. Aber wie soll man daraus auf die Existenz der Seele schließen?“
Sie trommelte mit den Fingern auf ihrem Oberschenkel und stand schließlich auf. „Ich hole das restliche Material. Es zeigt die Geschehnisse, als wir das Leben unseres virtuellen Gehirns beendet haben. Mit oder ohne Eis?“ Mark zog seine Stirn in Falten. „Wie trinkst du deinen Whisky? Du wirst ihn brauchen!“ Er zuckte mit seinen Schultern. „Damals hast du ihn mit Eis getrunken“, entschied sie und ergänzte: „Erinnerst du dich an den Schöpfungsmythos, in dem eine große Spinne die Welt erschaffen hat?“ „Ja, ich kenne einige dieser Mythen. Auf irgendeiner pazifischen Insel wird diese Spinne Areop-Enap genannt.“
„Gut. Ich bin auf deine Meinung gespannt.“
Während er auf den Tablet-PC blickte, verkrampfte sich sein Magen. Dieses Gefühl kannte er bereits von den ersten Aufnahmen. Diesmal war es stärker und nahm ihn gefangen. Es ist erneut der Südländer zu sehen und sein Gesicht sieht verzerrt aus. Dann liegt er auf dem Boden. Um ihn herum ist alles weiß. Lea hat Mark erklärt, dass sie noch mehr Rechnerleistung benötigen würden, um eine künstliche Landschaft zu kreieren. Es fällt Mark schwer, den Blick von dem Mann zu lösen, dessen Gesicht nicht mehr zu erkennen ist. Er möchte den Rest des Bildes nicht betrachten. Warum? Das weiß er nicht. Ein unangenehmes Gefühl strahlt von seinem Magen in seinen ganzen Körper aus.
„Was sagst du dazu?“ Lea riss ihn aus seiner Starre.
„Einen Moment noch.“ Mark verharrte weiter vor dem Monitor.
„Also spürst du es auch! Ich wusste es.“
Er sah auf. „Ja. Ich kann es nicht betrachten. Was bedeutet das?“
Sie klatschte in die Hände. „Wir haben eine Theorie entwickelt. Man soll ganz einfach nichts sehen.“
Unter normalen Umständen hätte Mark gelacht, doch er entschied sich dazu, lieber seinen Whisky zu trinken.
„An was kannst du dich erinnern?“ Lea beugte sich vor.
„Es ist nur ein Gedankenfetzen, aber da waren viele. Sie saßen auf dem Körper und haben ein schwarzes Gebilde zerrissen. Mein Magen hat sich zusammengezogen. Wie kann das sein?“
„Du hast Panik bekommen. Uns ging es genauso. Doktor Klein glaubt, dass die Bilder eine Selbsterkenntnis erzeugt haben. Sie erschüttern unser Unterbewusstsein. Wir glauben, dass die Wesen etwas von uns auffressen.“
„Wesen? Wenn du annimmst, dass das schwarze Ding unsere Seele ist, dann wird sie von irgendwelchen Viehchern angefallen? Ich werde mit den anderen Mitgliedern von Postmortem sprechen! Wie soll eine Computersimulation so etwas beweisen können? Oh verdammt! Mir ist unglaublich schlecht.“
Lea reagierte nicht sofort. Zuerst leerte sie ihr Glas. Es dauerte einen weiteren Moment, ehe sie antwortete: „In Ordnung. Das sind die Fakten. Doktor Benson wurde beurlaubt. Psychischer Stress. Doktor Klein befindet sich in Behandlung. Starker psychischer Stress.“
„War Klein nicht der Psychologe in eurem Team?“
„Ja, das ist die Ironie. Benson und Klein haben die Fotos intensiv untersucht. Klein hatte die Idee, Tranquilizer einzunehmen. So wollten sie den Anblick ertragen. Sie haben danach von Spinnen gesprochen und es kam nichts anderes mehr über ihren Mund.“ Lea lehnte sich zurück.

Szenentrenner


Die Nacht war fast vorüber. Sie hockte im Schlafzimmer auf dem Fußboden, während Mark auf dem Bett lag. Lea strich sich eine feuchte Haarsträhne aus dem Gesicht. „Du warst zügellos! So etwas hätte ich von einem Theoretiker nicht erwartet.“ Sie presste ihre Hände zu zwei Fäusten zusammen. „Ich hatte das Ganze als Diskurs verstanden.“
Mark atmete schwer ein und wieder aus. „Ich fasse zusammen.“ Weiter konnte er nicht sprechen. Lea blickte auf und es dauerte einige Atemzügen, ehe Mark fortsetzen konnte: „Ihr habt entdeckt, dass irgendwelche verdammten, übersinnlichen Spinnen um uns herum lauern. Wenn wir sterben, kommen sie in Scharen. Du glaubst, dass sie etwas von uns auffressen. Du denkst, dass sie unsere Seele verzehren.“
Lea schloss ihre Augen. Für endlos wirkende Sekunden herrschte Stille.
„Spürst du dasselbe?“
„Was meinst du damit?“
„Den Drang zu töten!“ An Marks Hals zeichneten sich einzelne Adern ab. Der Schweiß lief ihm die Schläfen entlang.
Lea stützte ihren Kopf mit den Händen ab. Sie sieht Benson und Klein. Beide stehen vor der Konsole. Hass! Er wächst und durchflutet sie, je näher sie ihnen kommt. Sie muss beide töten! Zwei Injektionen. Es geht schnell. Lea handelt routiniert, dann bricht sie zusammen. Was hat sie getan?
Nun taucht Mark auf. Sie vergisst für einen Moment die Spinnen, muss sogar lachen. Die Abwechslung hält nicht lange an. Ist sie verrückt? Nein. Die Spinnen haben ihr alles befohlen! Sie will Mark einweihen. Er wird ihr beweisen, dass sie nicht den Verstand verloren hat. Zuerst bekommt er die schwache Dosis. Die restlichen Bilder spart sie sich noch auf. Jetzt sitzen sie bei ihr. Sie muss sich verstellen, denn Mark zeigt Zuneigung. Dafür hasst sie ihn. Ihre Nerven brauchen Ruhe. Ein Whisky wird ihr helfen; sie fühlt sich leichter. Vielleicht ist es besser, noch ein Glas zu trinken. Es ist so weit. Sie wird nun seinen Geist vergiften und ihn beobachten. Dann weiß sie, ob sie wahnsinnig ist ...

„Wir spüren die Spinnen. Sie wollen etwas von uns nach dem Tod ungestört verzehren. Ich weiß nicht, wie lange ich es aushalten kann“, flüsterte sie.
„Ja. Seit ich die Bilder gesehen habe, möchte ich dich am liebsten sofort töten“, hauchte Mark. Ihre Blicke trafen sich.

29. Nov. 2012 - Arne Kilian

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