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Die neue Königin von Tanja Bern
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Lyoran blickte auf. Jemand näherte sich seiner Zuflucht. Er neigte den Kopf ein wenig, horchte in sich, versuchte zu erfühlen, wer ihm zu dieser frühen Stunde einen Besuch abstatten wollte.
Da waren Hufe auf steinigem Boden, wallendes Haar, Kraft gepaart mit Schönheit …
Lyoran löste sich von dem Bild. Er konzentrierte sich wieder auf die gläserne Phiole. In der grünlichen Flüssigkeit stiegen kleine Blasen auf und er beobachtete, wie sie sich ihren Weg nach oben suchten.
Lyoran schüttelte den Kopf. Nicht stark genug, dachte er.
Er füllte mit einer Pipette ein pechschwarzes Öl in das gläserne Gefäß. Die Dunkelheit der Flüssigkeit wurde von dem Inhalt der Phiole aufgesogen. Letzte Schlieren tanzten zwischen dem Grün, bis auch diese fort waren. Die Bläschen gewannen an Stärke, trieben kraftvoll nach oben und bildeten eine schimmernde Masse, die auf der Oberfläche schwamm.
Zufrieden korkte Lyoran das Gebräu zu und stellte es zu einigen anderen. Er brauchte es nicht zu beschriften, er wusste, was die Behälter enthielten – er spürte es.
Der Hufschlag des Pferdes erreichte nun sein normales Gehör. Seufzend raffte er sich auf und lief zum Fenster seines Turmes.
Eine Frau kam mit wehenden Haaren den felsigen Hang hinaufgeritten.
Er lächelte. Sicher würde er unbehelligt bleiben. Sie würde es nicht wagen, über die Hängebrücke zu reiten.
Ein Zauber schützte den Übergang. Lyoran wusste, dass sie stabil und unzerstörbar war. Das Bild, was einem die Augen vorgaukelten, gab einen völlig anderen Eindruck preis: Meist schaukelte sie gefährlich im Wind und an einer Seite war das Geländer heruntergerissen.
Kaum einer wagte sich dort hinüber und das war Lyoran recht. Wenn er etwas brauchte, begab er sich selbst zu den Menschen, was nicht oft vorkam. Nur einer besaß sein Vertrauen. Voris, der Gnom. Er verkaufte die Zauber, Heilwasser und Gebräue für ihn.
Lyoran wollte zurück zu seinem Arbeitsplatz gehen, als er verwundert aufhorchte. Betrat diese verfluchte Frau wirklich seine Brücke?
Genervt warf Lyoran erneut einen Blick aus dem Fenster. Die Frau zögerte, doch sie schien wild entschlossen. Mit einem tiefen Atemzug, der all seiner Pikiertheit Ausdruck verlieh, ergab er sich in sein »Schicksal« und richtete sich auf Besuch ein. Zügig räumte er seine Gerätschaften fort, zog den Vorhang zu seiner Schlafkammer zu und betrachtete sich im Spiegel.
Er war schmal geworden. Sollte er mehr essen? Dennoch wusste er um seine Schönheit. Sein ebenmäßiges Gesicht war umrahmt von honigfarbenem Haar, das ihm bis zur Taille fiel. Die grünen Augen stachen wie Smaragde hervor. Der dunkle Mantel zeugte ihn als Zauberer aus. Kurz berührte er seine Stirn und malte magisch das Zeichen seines Standes auf die Haut.
Gefasst lief er die Treppen hinunter und trat aus dem düsteren Turm, der sein Zuhause war.
Die Frau hatte mutig seine Brücke betreten. Sie wagte sogar zu verharren, um ihn zu betrachten. Das Pferd war nervös und stieg mit den Vorderhufen leicht an. Sie zügelte es sofort wieder. Keine Angst, kein Zaudern lag in ihrem Blick. Ihr Haar wurde von einem schlichten Diadem zurückgehalten. Ihre Kleidung schmiegte sich eng an den Körper.
Sie ritt ein wunderschönes Tier. Sein Fell ähnelte seiner eigenen Haarfarbe, war jedoch am Hinterteil weiß und braun gesprenkelt. Die Mähne und der Schweif waren von einem tiefen Schwarz, ebenso wie seine kräftigen Fesseln. Nur der rechte hintere Huf war silberweiß.
Beunruhigt blickte er ihr entgegen. Dann begriff er. Eine Amazone!
Lyoran sah sich unauffällig um. Der Morgen graute, Wolken verdeckten die Sonne und das Meer unter ihm trug die Farbe des außergewöhnlichen Hufes. Nebel kroch zu der verzauberten Brücke herauf. Auch das schien die Frau nicht zu irritieren. Sie ritt nah an ihn heran und er wich vor dem großen Ross zurück. Jetzt konnte ihm auch das Wetter nicht helfen. Obwohl der aufziehende Dunst perfekt wäre, sich zu verbergen.
Was bin ich? Ein Feigling? Es ist nur eine Frau!, schalt er sich.
Lyoran wusste, dass es nicht so einfach war. Er war vor diesem Volk vor langer Zeit geflohen und hatte gedacht, nie wieder eine von ihnen sehen zu müssen.
Er spürte, wie der Wind seinen Umhang und das lange Haar aufbauschte. Wie eine einsame Rachegestalt verharrte er auf dem dunklen Fels und sah seinem Unheil entgegen.
„Was willst du von mir?!“, zischte er.
Sie lachte und stieg mit Schwung von ihrem Pferd. „Hab keine Angst, kleiner Zauberer. Ich bin nicht gekommen, um dich zu unterwerfen. Ich will, dass du etwas für mich tust.“
„Was kann eine wie du von einem Mann schon wollen?“ Als ihm bewusst wurde, was er gesagt hatte, biss er sich selbst auf die Zunge.
Die Amazone brach in schallendes Gelächter aus. Sie zog einen Dolch, trat auf ihn zu und bohrte die Spitze leicht unter sein Kinn. Lyoran beugte seinen Kopf zurück, trat aber nicht einen Schritt zurück.
„Ja, was könnte ich wollen? Fürchtest du mich, weil ich weiß, dass du einer meines Stammes bist?“
„Ich bin frei und gehöre niemandem!“ Er schlug ihre Waffe weg. Dass er sich dabei in die Hand schnitt, beachtete er nicht. Das Pferd tänzelte nervös hin und her.
„Wie lange dümpelst du hier schon vor dich hin? Jahre? Jahrzehnte? Unser Volk ist langlebig …“ Sie schaute zu dem einsamen Felsen, auf dem sein Turm gebaut war. Wie ein Stachel ragte er in den Himmel, umgeben von Nebelschleiern.
Sie hatte recht. Ihr Volk war langlebig. Zwei Jahrzehnte lebte er nun schon hier. Doch er zog dies seinem alten Leben vor. Dreißig Sommer war er der Sklave der Amazonen gewesen. Sie duldeten keine freien Männer. Er entkam, weil in ihm die verborgene Macht der Nilveys schlummerte. Schon als Kind war er anders gewesen. Tief in sich hatte er das Außergewöhnliche gespürt, das ihn von allen anderen abgrenzte. Er förderte damals heimlich seine Fähigkeiten und floh, indem er es schaffte, sich mit einem Zauber zu verbergen.
„Was willst du, Amazone?“
Sie seufzte, steckte den Dolch zurück und ihr Gesicht wurde weich. In ihr schien eine innere Wandlung vorzugehen.
„Verzeih“, sagte sie schließlich. „Ich wollte nicht unhöflich sein. Aber du hast mich nicht gerade freundlich empfangen.“
„Was erwartest du von mir?“
Sie strich über die Nüstern ihres Pferdes und sah ihn von der Seite an. „Ich bin Tía, Prinzessin des Erazon-Stammes. Ich weiß von dir, weil du eine Legende in unserem Volk geworden bist. Ich war lange auf der Suche, denn nur du kannst den Fluch von mir nehmen.“
„Ich bin eine Legende?“
Tía lächelte. „Es ist ausgesprochen selten, dass eine Amazone die Kräfte der Nilveys weckt.“
Hatten sie ihn deshalb all die Jahre unbehelligt gelassen?
„Und der Fluch?“, hakte er nach.
Tía senkte den Blick. Das erste Mal schien sie unsicher zu sein. „Man hat mir prophezeit, dass ich niemals ein Mädchen bekommen werde. Jedes meiner kommenden Kinder ist dazu verdammt, ein Sklave zu sein.“
„Man hat es dir prophezeit? Hast du es noch nicht einmal ausprobiert?“
Tía ging an ihm vorbei. „Ich werde das nicht hier draußen mit dir besprechen!“
Zorn loderte in kleinen Flämmchen in ihm auf. „Weiber!“, murrte er und folgte der Amazone in seinen Turm. Drinnen fand er sie mitten im Raum vor.
Sie wandte sich zu ihm. „Hier ist es nicht sehr gemütlich.“
„Was kümmert es dich? Dies ist ausschließlich mein Arbeitsbereich.“ Und mehr wirst du nicht sehen.
„Darf ich mich setzen?“
„Kann ich dich denn davon abhalten?“
Tía schnaubte belustigt. „Du gefällst mir. Trotz deiner Furcht bist du unerschrocken.“
Sie setzte sich an den dunklen Eichentisch und er nahm ihr gegenüber Platz. Lyoran wusste, dass sie erwartete, dass er sie bewirtete, aber er stellte sich stur.
„Du hast also noch keine Kinder und glaubst einer alten Hexe, die dir einen Fluch prophezeit hat?“
„Die heilige Frau ist keine Hexe!“ In Tías Augen blitzte Wut auf.
„Sie trägt nicht die Macht der Nilveys.“ Einer Frau war es verwehrt, die Magie dieser hohen Geistwesen zu nutzen.
„Sie sagt die Wahrheit, Zauberer! Alle meine Schwestern betrifft es und ich denke nicht, dass ich eine Ausnahme mache. Die Nachkommen unserer Herrscherlinie sind seit einigen Jahren immer männlich.“
Lyoran konnte sich eines Lächelns nicht erwehren. „Wie tragisch …“
Tía schlug mit der Faust auf den Tisch. „Es ist tragisch!“
Lyoran war nicht beeindruckt.
„Bitte …“, flehte sie plötzlich. „Sie wollen unsere Familie fortschicken und eine neue Königin krönen.“
„Was glaubst du, könnte ich dagegen tun?“
„Die heilige Frau sagte, nur der Samen eines freien Amazonenmannes, der die Kraft der Nilveys in sich trägt, kann dies brechen.“
Lyoran starrte sie verblüfft an. Er hatte gedacht, dass sie einen Zaubertrank wollte!
„Du verlangst, dass ich …“ Er konnte es nicht einmal zu Ende aussprechen.
„Was ist daran so schlimm? Ich bin schließlich nicht hässlich!“
Nein, das war sie wirklich nicht. Aber …
„Du bist eine Amazone!“
Tía senkte den Kopf. „Was haben sie dir angetan?“, fragte sie leise ohne aufzuschauen.
„Das willst du nicht wissen.“
Sie hob den Blick und sah ihn mit ernster Miene an. „Dieses Kind wird Königin werden und es wird deine Tochter sein. Sie wird dein Blut in sich tragen – und vielleicht etwas ändern.“
Lyoran blieb skeptisch. „Was heißt das?“
Tía stand auf und lief ruhelos im Raum umher. „Du musst verstehen, dass ich gegen die Sklaverei bin. Auch wenn ich nicht wage, es offen auszusprechen, hasse ich den Zustand unseres Landes. Deine Tochter könnte all dem ein Ende bereiten. Wenn sie richtig gelenkt wird. Die heilige Frau denkt ebenso, doch man hört nicht auf sie.“
Seine Tochter …
Verschwommene Erinnerungen traten an die Oberfläche, als er weiter darüber nachdachte. Für einen Augenblick war er wieder gefesselt in dem Raum seiner alten Herrin. Ihr Dolch zerkratzte seine Brust, als sie damit sein Gewand aufschnitt. Ihr kalter Blick verfolgte ihn noch heute bis in seine Träume. Er war ein Werkzeug gewesen. Etwas, das man benutzte und fortwarf, wenn man die Lust daran verlor.
Tía schwieg und er misstraute ihr zutiefst. Wann würde sie beginnen, ihm zu drohen? Wann würde der Dolch erneut an seiner Kehle sein?
Plötzlich zog sie ihre Waffe. Lyoran zuckte zusammen, ohne dass er es wollte.
Er war kein Sklave mehr, er würde kämpfen, wenn sie es drauf anlegen würde. Sein Körper spannte sich, als er eine weitere Bewegung ihrerseits registrierte.
Tía legte den Dolch vor ihm auf den Tisch. Wortlos erhob sie sich, legte ihre Kleidung ab und sah ihn an. „Ich gehöre dir. Tu was du willst und wie du es willst – aber schenke mir eine Tochter.“
Langsam richtete sich Lyoran auf. Sie wirkte in ihrer Nacktheit so … zerbrechlich. Nicht ihr muskulöser Körper, ihr Blick fühlte sich so an.
„Du kannst Rache an mir üben, wenn du willst“, fuhr sie mit gesenkter Stimme fort. „Schlag mich, wie deine Herrin dich schlug. Füg mir Schmerzen zu. Mir ist es gleich. Ich kann nicht zusehen, wie meine Familie zerstört wird.“
Lyoran atmete geräuschvoll aus und schüttelte den Kopf. „Dann wäre ich nicht besser als ihr.“
„Ich habe noch niemals jemandem Schmerzen zugefügt, es sei denn, man griff mich an, oder ich erlegte eine Beute zur Nahrung. Und auch da war ich immer gnädig.“
Er glaubte ihr, spürte die Aufrichtigkeit in ihren Worten.
„Versprich mir mit deinem Blut, dass meine Tochter die Zustände ändern wird.“
Tía nickte, nahm den Dolch an sich und schnitt sich tief in die Hand. Blut tropfte zu Boden, doch sie beachtete es nicht. „Ich schwöre dir, dass ich alles tun werde, um sie dorthin zu lenken.“
„Ich will sie sehen.“
Tía schaute ihn verwundert an. „Wann?“
„Jedes Jahr zur Sommerzeit will ich ein wenig Zeit mit ihr verbringen.“
Die Amazone nickte.
In Lyoran erwachten Nilveys Kräfte. Wie züngelnde Schlangen fuhren sie durch seine Nerven und sagten ihm, dass er den Worten der heiligen Frau vertrauen musste. Er streifte seinen Mantel ab und mit ihm fiel seine Angst wie ein Schatten zu Boden, denn Tía warf den Dolch fort und kniete nieder.
„Steh auf“, flüsterte er.
Tía gehorchte. „Du bist schön“, hauchte sie und streckte ihre Hand aus. Sanft strich sie mit den Fingerspitzen über seine Brust, über die Narben, die er dort trug.
Er befreite sich aus seiner Hose, die er stets unter dem Zauberermantel trug, und führte die Amazone nun doch in seine Schlafkammer. Sie legte sich ohne zu zögern dort nieder.
Lyoran schaute sie an. Sie strahlte Stärke und Schönheit aus; ihr Haar war auf dem Laken wie ein erdfarbener Schleier ausgebreitet. Er übernahm die Initiative und küsste sie. Ihr entfuhr ein leiser Laut und ihre Hände umfassten ihn. Sein Begehren flammte auf und er ließ zu, dass ihre Berührungen wie feurige Bahnen durch seinen Körper loderten. Als er in sie eintauchte, bog sie sich ihm entgegen. Die Macht der Nilveys strömte aus ihm und hüllte sie in ein schimmerndes Licht.
Lyoran ließ nicht zu, dass sie die Oberhand in diesem »Kampf« gewann. Sie ließ es sich gefallen und ergab sich ihm völlig.
Die Sonne stieg auf und vertrieb den dichten Nebel. Hinter den Felsen wurden Wälder und fruchtbare Wiesen sichtbar, die Tía vorher verborgen geblieben waren. Erst jetzt, als sie ihren Hengst Corva anspornte und über die Landschaft blicken konnte, wurde sie dem gewahr.
An diesem Morgen hatte das Schicksal der Amazonen in Lyorans Händen gelegen. Tía starrte seine schmale, windumtoste Gestalt voller Sehnsucht an. Würde sie je wieder von ihm lassen können? Sie wusste es nicht. Aber sie trug seine Tochter in sich. Und in einem Jahr, wenn der Sommer nahte, würde sie zurückkommen und ihm die neue Königin zeigen.
Tía trabte furchtlos auf die verzauberte Brücke und ritt über die Hügel davon.
12. Mar. 2013 - Tanja Bern
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