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Die alte Weise
von Ruth Kornberger

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
5 Beiträge / 61 Interviews / 20 Kurzgeschichten / 16 Galerie-Bilder vorhanden
Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
Tilia war froh, sich auf dem Speer abstützen zu können. Seit fünf Stunden begrüßte sie Museumsbesucher vor dem Eingang zur ägyptischen Abteilung. Die goldenen Schienen an ihren Armen und Beinen wogen schwer, und der Rückenteil des Brustpanzers, unter dem sie die zusammengefalteten Flügel verbarg, scheuerte an der Haut. Tilia trug das Festkostüm ihres Volkes, das sie sonst nur an hohen Feiertagen anlegte, um auf den obersten Ästen der Eichen Nektar zu trinken. Zum Herumstehen war das Kostüm nicht gemacht, und zum Herumstehen war auch Tilia nicht gemacht.
Die Vogelhunde schienen ebenfalls zu leiden. Tilia hatte Dädalus und Ikarus am Morgen mit einer Emulsion aus Ahornsirup und Gänsefett eingerieben. In der fahlen Beleuchtung des Flurs glänzten die Tiere wie bronzene Statuen, und genauso unbeweglich wachten sie zu beiden Seiten der massiven Tür, je eine Pfote anmutig erhoben.
„Ich muss die Position wechseln“, jammerte Dädalus. „Meine Hinterläufe schlafen ein.“
„Sitz still“, flüsterte Tilia. „Ich höre Leute auf der Treppe.“
„Eine Woche, hast du gesagt“, zischte Ikarus durch den Schnabel. „Und die ist heute um. Du hast keinen Kandidaten gefunden. Gib auf!“
„Ich war ja für den Park“, sagte Dädalus. „Dort hätten wir gemütlich von einem Baum aus beobachten können.“
„In den Park gehen alle möglichen Menschen, ins Museum aber nur solche, die sich für die Vergangenheit interessieren.“ Tilia wechselte das Standbein. „Es ist wahrscheinlicher, dass in einem von denen die Fähigkeit noch schlummert.“
„Etwa in einem von diesen beiden?“
Ikarus nickte in Richtung des Paares, das soeben den zweiten Stock erreichte. Der Mann schlurfte in ausgetretenen Tennisschuhen, die Absätze der Frau klangen auf dem Steinboden, als schlage man ein Schwert gegen einen Lärchenstamm. Unwillkürlich rollte Tilia die nackten Zehen ein. Ikarus schüttelte den Kopf. „Wie die laufen! Die sind erdverbunden, bodenständig, das sind Geher, durch und durch.“

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„Trödel nicht“, rief die Frau über die Schulter.
Hinter ihr, auf der Treppe, kam ein kleines Mädchen in Sicht. Es hielt sich mit einer Hand am Geländer fest, neigte den Oberkörper vor und streckte ein Bein nach hinten. Juchzend schwang es dann in die andere Richtung, das hintere Bein nun vorn, den Rücken über der abfallenden Treppe. Mit der Fußspitze federte es auf der Stufe, mit dem freien Arm ruderte es nach Gleichgewicht.
„Du stürzt noch!“, rief die Frau.
Unbeirrt setzte das Mädchen seinen seltsamen Tanz fort.
„Lass uns vorgehen“, drängte der Mann. „Die macht nur Quatsch, solange wir sie beachten.“
Tilia öffnete die Tür. Der Mann dankte, in seinen Augen die Sorte Blick, die Tilia vom Einstellungsgespräch mit dem Museumsdirektor kannte. Der hatte zum hundertsten Jubiläum des Hauses Aushilfen gesucht, um „ein kleines Spektakel zu bieten“, und sie lange angestarrt. Erst als sie sich vernehmlich räusperte, stellte er fest: „Sie bringen Ihr Kostüm schon mit.“
„Ich bin in einem Zirkus aufgewachsen“, antwortete Tilia.
In der Welt der Menschen schien ihr das in jeder Situation eine gute Erklärung zu sein.
Die Frau drehte sich noch einmal nach dem Mädchen um, seufzte und folgte dem Mann. Kaum war auch sie verschwunden, begannen Ikarus’ Flügel zu zittern.
„Es kribbelt entsetzlich! Wenn ich mich nicht gleich bewegen darf, werde ich verrückt.“
„Helft bei einer guten Sache und begleitet mich“, äffte Dädalus Tilia nach. „Ich sag dir, Ikarus, in der Zeit, die wir hier vergeuden, hätten wir eine Mistelart vor dem Aussterben bewahren, oder die Brutplätze bedrohter Kollegen schützen können. Aber den Menschen das Fliegen wieder beibringen? Bitte! Es hat doch wohl einen Grund, warum sich außer ihrer Familie sonst niemand dafür einsetzt. Und selbst von denen hat es schon ewig niemand mehr versucht. Der letzte Kandidat muss ja ein schlimmer Reinfall gewesen sein. Wie hieß er noch gleich?“
„Leonardo“, sagte Tilia. „Er war talentiert, aber wollte es unbedingt mit Technik machen.“
„Die Menschen haben sich schon zu weit von euren gemeinsamen Wurzeln entfernt.“
Ikarus' erhobene Pfote zuckte.
„Es wurden nur immer die Falschen ausgewählt“, sagte Tilia. „Solche, die zwar fliegen wollten, aber denen die alte Weise Angst bereitete. Sie konnten nicht glauben, dass es ohne Hilfsmittel geht. Darum suchen wir nach jemandem, dessen Vorstellungskraft stark genug ist, ihn verwandeln zu können.“
„Verwandeln!“ Ikarus trommelte mit den Pfoten auf den Boden und schwang die Flügel. Erschöpft streckte er alle viere von sich. „Das hat gut getan!“
„Ikarus“, flüsterte Tilia entsetzt. „Das Mädchen!“
„Ach, die.“ Auch Dädalus hatte die Statuenhaltung aufgegeben und rieb seinen Hintern an der Wand. „Die ist doch mit dem Kopf in den Wolken.“

Szenentrenner


Das Mädchen erreichte den zweiten Stock. Selbstvergessen setzte es einen Fuß vor den anderen und bewegte die Lippen, als spräche es mit jemandem.
„Mit dem Kopf in den Wolken?“, wiederholte Tilia.
„Ist eine Redensart“, sagte Dädalus. „Hab ich aufgeschnappt.“
Tilia lehnte ihren Speer an die Wand. Vergessen war das Gewicht der Schienen.
„Hunde, ich habe unsere Kandidatin gefunden!“
Enni hatte keine Lust mehr, und das sagte sie zu jeder blöden Raute auf der blöden Tapete: „IchhabkeineLust mehr, ichhabkeineLustmehr, ichhabkeineLust mehr!“
Ihre Eltern waren vorgerannt. Sollten sie ruhig. Dann hatten sie hoffentlich bald alle Räume des Museums durch. Enni wollte zurück in ihr Zimmer, wo es keine Absperrungen gab.
Die Hunde da vorn waren das erste Interessante hier. Aber wahrscheinlich galt auch für die: Berühren verboten. Sie fragte die Frau, die auf sie aufpasste, trotzdem: „Darf ich die streicheln?“
„Klar, wenn du keine Angst hast.“
„Warum Angst?“
„Vielleicht weil sie komisch aussehen? Flügel und Schnäbel haben? Wundert dich das nicht?“
„Nein, wir sind doch im Museum.“ Enni kraulte Ikarus’ Flanke. „Warum klebt der?“
„Das kommt vom Ahornsirup. Ich habe sie als Statuen getarnt.“
„Häh?“
„Die Hunde und ich sind geheim hier. Wir haben nach einem bestimmten Menschen gesucht – nach dir!“ Die Frau riss die Augen auf, wie die Schlange im Dschungelbuch. Enni trat einen Schritt zurück. So schauten Erwachsene, wenn sie etwas spannend machen wollten, was in Wirklichkeit langweilig war. Enni kannte das Museum. Nie wieder würde sie mit in den Experimentier-Raum gehen und ekliges römisches Essen kochen.
Ihre Mutter rief.
Die Frau ging auf die Knie. „Hör zu“, flüsterte sie. „Du und ich, wir stammen von den Affen ab. Unsere gemeinsamen Vorfahren richteten sich irgendwann auf und liefen auf zwei Beinen. Das weißt du? Aber das ist nicht das Ende der Geschichte. Sie richteten sich noch weiter auf, und ihnen wuchsen Flügel. Sie lebten in den Bäumen. Kletterst du manchmal auf Bäume? Da ist so viel Luft und Licht ...“ Das Gesicht der Frau bekam rote Flecken. Ihre Armreifen klirrten. „Sie benutzten abgebrochene Zweige als Werkzeuge. Sie stellten damit Dinge her. Gefäße, Schmuck und Waffen ...“ Sie blickte sich um. „Aber auf einem Ast ist nicht viel Platz. Man kann kaum etwas besitzen, wenn man im Baum wohnt. Erst recht nicht, wenn man unsichtbar sein will.“
„Unsichtbar?“, fragte Enni.
„Das ist die nächste Stufe, aber von der kann ich dir jetzt nicht erzählen. Meine Vorfahren blieben auf den Bäumen, deine nahmen ihre Dinge, stiegen herab und lebten von da an unten. Ihren Kindern brachten sie nicht mehr bei, wie man Flügel bekommt. Denn wir werden nicht mit ihnen geboren, man muss sie haben wollen.“ Die Frau blickte sich wieder um. „Wenn du eine Hand auf deinen Rücken legst, stößt du mit den Fingerspitzen an die Schulterblätter. Das sind Knochen. Deine sind noch weich, die von Erwachsenen sind härter, aber sogar die können wieder zusammenwachsen, wenn sie gebrochen sind. Kannst du mir folgen? Sie können wachsen!“
Aha, dachte Enni, jetzt beginnt der Unterricht.
„Papa“, rief sie. „Ich hab Hunger!“
Die Frau wurde blass.„Du bist unvollständig“, sagte sie schnell. „Stell dir einfach vor ...“ Sie brach ab. Die Hunde saßen steif.
Ennis Eltern standen in der Tür.
„Es ist wirklich schon spät.“ Der Vater warf den Autoschlüssel in die Luft. „Wir gehen.“

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Im Auto legte Enni den Kopf gegen die Scheibe. Früher hatte sie das Museum gemocht. Beim ersten Besuch war sie noch klein. Im Buggy fuhr sie an den Vitrinen vorbei. Da waren Masken, bei denen sie lange bleiben wollte. Die Eltern erzählten später allen Leuten davon: „Gruselige Masken, und unsere Tochter hat sich kein bisschen gefürchtet!“
Als Erinnerung bekam sie den Museumskatalog. Jeden Tag betrachtete sie die Fotos, die Scherben oder Stücke einer Kette zeigten. Sie glaubte, man könne sich selbst überlegen, wie die Sachen aussehen sollten – wie bei einem Malbuch, in dem Linien fehlten. Doch irgendwann gingen sie wieder ins Museum. Enni zog ihre Mutter zu einer Schale, bei der am Rand ein Stück herausgebrochen war, und erklärte, dort habe jemand abgebissen. Die Schale sei aus Zauberschokolade und werde nachts wieder ganz. Die Mutter lachte, und eine Frau vom Museum sagte, das habe sich Enni schön ausgedacht, die Schale sei aber aus Ton, einer Art Erde. Die Frau redete und redete, und Enni lernte, dass das Museum nur zeigen sollte, wie die Sachen wirklich ausgesehen hatten, und nicht wie sie aussehen könnten. Von da an machte es ihr keinen Spaß mehr.
Sie waren zu Hause. Nach dem Abendessen ging Enni schlafen, obwohl sie noch eine Stunde hätte aufbleiben dürfen. Ihr Körper fühlte sich furchtbar schwer an.
In der Nacht musste sie aus dem Bett gerollt sein. Als sie aufwachte, spürte sie den rauen Teppich am Rücken. An zwei Stellen kratzte er besonders. An den Schulterblättern, dachte Enni. Bis gestern hatte sie nicht gewusst, wie die spitzen Knochen hießen. Warum auch, man konnte nichts damit machen. Oder doch? Was, wenn die Geschichte der Frau stimmte? Enni hätte sich deren Flügel ansehen sollen, aber stattdessen hatte sie nach ihrem Vater gerufen. Was hatte die Frau als Letztes sagen wollen?
„Du bist unvollständig. Stell dir einfach vor ...“
„Dass du vollständig bist“, murmelte Enni.
In der Kiste mit den alten Spielsachen fand sie den Katalog. Beim Durchblättern legten sich ihre Ergänzungen der Fotos wie durchscheinendes Papier über die Seiten. Sie konnte es noch! Enni ging zum Spiegel neben dem Schreibtisch. In ihm sah sie sich nur bis zur Hüfte, aber das musste reichen. Sie wollte schneeweiße Flügel, mit blauen und roten Papageienfedern darin.

Szenentrenner


„Vom Regen in die Traufe“, maulte Ikarus.
„Das ist der kümmerlichste Baum, auf dem ich je gesessen habe! Sein Blätterdach hat überall Löcher.“ Dädalus nieste.
„Haltet die Schnäbel.“ Tilia rieb ihre kalten Füße. „Von hier hat man den besten Blick in ihr Zimmer. Und ich möchte sie noch einmal sehen, bevor wir heimfliegen. Da, sie zieht den Rollladen hoch.“
Hinter der Scheibe tauchte das Mädchen auf. Es trug ein übergroßes T-Shirt und gähnte.
„Keine Veränderung zu gestern“, sagte Ikarus.
„Und vorgestern, und vor-vorgestern, und vor-vor-vor... “
Weiter kam Dädalus nicht. Tilia gab ihm einen Klaps. Der Vogelhund verlor das Gleichgewicht, fiel vom Baum, und landete flügelschlagend in einem Blumenbeet.
„Pflück mir eine Rose.“ Ikarus lachte.
Warnend packte Tilia seine Pfote.
„Bin schon still“, sagte er.
„Nein, ich meine ... sieh nur“, Tilia deutete zum Fenster.
Das Mädchen hatte sich umgedreht. Am Rücken schien seine verwaschene Kleidung ein Stück abzustehen.
Ikarus schüttelte den Kopf.
„Das ist nur der Stoff. Er ist faltig.“
Sich die Augen reibend verschwand das Mädchen im Dunkel des Raumes. Enttäuscht sank Tilia zusammen.
„Fliegen wir.“
Sie zog den Goldschmuck aus, verstaute ihn in einer Tasche, und wollte sie gerade dem Vogelhund umschnallen, als es im Zimmer hell wurde. Das Mädchen hatte das Licht angeknipst und ging zu einem Spiegel. Lange betrachtete es sich darin, dann stellte es sich auf die Zehenspitzen und reckte die Arme. Mit gespreizten Fingern schien es die Decke berühren zu wollen. Tilia hielt den Atem an. Unter den schmalen Schultern des Menschenkinds faltete sich das zerknitterte Nachtzeug auf wie ein Schirm.

02. Apr. 2013 - Ruth Kornberger

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