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Das alte Viertel
von Florian Gerlach

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
46 Beiträge / 49 Interviews / 102 Kurzgeschichten / 2 Artikel / 136 Galerie-Bilder vorhanden
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Der dicke Mann keuchte. Das Herz hämmerte in seinem Brustkorb, als wolle es sich jeden Moment aus dem Gefängnis seiner Rippen befreien. Wenn er jetzt einen Herzinfarkt bekam, war er erledigt. Niemand würde ihn in dem feuchten Rattenloch finden. Und genau darum war er in diesem nach Verwesung stinkenden Kellerraum.
Die widerliche Brut hatte ihn durch die verlassenen Gassen gehetzt, bis er sich in dem heruntergekommenen Gebäude verstecken konnte. Dabei hatten seine Jungs doch jedes Haus auf den Kopf gestellt! Aber außer den beiden Junkies hatten sie niemanden gefunden. Was vielleicht einfach daran lag, dass sie tagsüber nachgesehen hatten. Jetzt aber war finstere Nacht.
Er war gegen zwei Uhr in der Früh hergefahren, nachdem er sich ein Sieben-Gänge-Menü und ein paar Drinks in seiner Lieblingsbar gegönnt hatte. Eine Weile war er einfach ziellos durch das alte Viertel geschlendert, dessen Häuser wie verfaulte Zähne im bleichen Licht des Mondes in den Himmel ragten. In wenigen Stunden würde er die alten Bauten in den Staub der Geschichte verwandeln. Bis diese Kreaturen aus einem der Häuser gequollen waren wie Maden aus einem vergammelten Steak, hatte er sich wie ein erfolgreicher Feldherr gefühlt.
Denn diese Nacht würde sein Leben verändern.
Wenn er sie überlebte.
Er musste einfach nur Ruhe bewahren und warten, bis seine Arbeiter mit dem schweren Gerät und dem Sprengstoff anrückten. Dann würde er die ganze verdammte Brut wieder in die Hölle zurückschicken. Der Fettsack hatte noch nie so widerliche Kreaturen gesehen. Die Adern, die sich wie Spinnennetze unter einer beinahe durchsichtigen Haut abzeichneten, versorgten die Kreaturen mit einem Leben, das die Schöpfung verhöhnte. Ihre Augen schwammen in einer gelblichen Flüssigkeit. Aus vertrockneten Lippen hing die Zunge wie ein verdreckter Lappen. Ihre Gliedmaßen wirkten seltsam verkrüppelt, als würde sich ihr Körper, der irgendwann einmal menschlich gewesen sein musste, mitten in einer Metamorphose befinden. Der Gejagte hatte allerdings nicht vor, das Ende ihrer Verwandlung abzuwarten. Er wollte nur eines. Verschwinden.
Der Bauunternehmer hatte erst vor drei Monaten den Zuschlag für das Areal bekommen, auf dem in den nächsten Jahren ein eigener Stadtteil für die betuchteren Bürger entstehen sollte. Während andere Planungsbüros hunderte von Arbeitsstunden in eine Projektplanung mit dem unsinnigen Titel Urbane Lebensgestaltung steckten, hatte er einfach eine nette kleine Feier im privaten Kreis veranstaltet. Mit Champagner, Nutten und Koks. Damit sich später auch jeder an seine Party erinnerte, hatte er Fotos von den Teilnehmern machen lassen. Die Abzüge zeigten biedere Familienväter, die gerade ihr Lieblingsspielzeug in einem der blutjungen Möchtegernmodels versenkten, nachdem sie eine ordentliche Linie gezogen hatten.
Zwei Tage später hatte er den Kaufpreis für das Grundstück um sagenhafte dreißig Prozent gedrückt. Zahlbar war die lächerlich geringe Summe natürlich erst nach Fertigstellung des gesamten Projektes. Wenn er die Immobilien verkauft hatte, würde er den Schwachköpfen ein paar verknitterte Geldscheine zusammen mit ihren Fotos vor die Füße werfen.
Mit der Kohle, die er bei diesem Bauvorhaben verdienen würde, konnte er sich endlich zur Ruhe setzen. Nach ihm würden andere an den Fäden der Marionetten in den Rathäusern und Parlamenten ziehen und sie wie Idioten auf der Bühne des öffentlichen Lebens herumzappeln lassen. Politiker. Er verachtete die verlogene Bande. Vor den Wahlen tropften ihre Versprechungen wie Sirup aus den Lautsprechern der Fernseher und Radios. Aber ihre süßen Worte waren wie Perlen auf klebrigen Fäden, mit denen sie die Menschen einwickelten. Nach dem Urnengang entpuppten sich die Drecksäcke als das, was sie wirklich waren. Widerliche Spinnen, deren Beute sich in ihrem Netz aus Lügen und Verleumdungen verstrickte. Er hatte nicht vor, sich von den Anzugtypen und Kostümhäschen mit den erschwindelten Doktortiteln weiter verarschen zu lassen.
In ein paar Stunden würden seine Jungs das ganze Viertel einfach platt machen. Er hatte ihnen eine extra Prämie dafür bezahlt, dass sie mit dem Abriss der Gebäude noch in der Morgendämmerung begannen. Natürlich war es gegen die Vorschriften, aber bis sich die Spinner dieses verfluchten Bürgervereins wieder an das Tor des Bauzauns ketten konnten, hatten seine Männer die Häuser bereits pulverisiert und das ganze Areal in ein Trümmerfeld verwandelt. Dann konnten sie sich ihren Denkmalschutz in den Allerwertesten schieben. Eine Klage würde es kaum geben. In seinem Tresor lagen etliche hübsche Bilder, auf denen der Polizeichef eine Minderjährige vögelte.
Der dicke Mann fischte eine zerknüllte Zigarettenpackung aus der Hosentasche und steckte sich eine Fluppe in den Mundwinkel. Dann ließ er die Flamme seines silbernen Zippos tanzen. Für einen Moment wurde der Raum in ein flackerndes Licht getaucht. Aber dieser winzige Augenblick reichte, um sein Gehirn vorübergehend in den standby-Modus zu schalten. Mit einem Aufschrei ließ er das Feuerzeug fallen.
Die Drecksviecher waren einfach überall. Sie klebten an den Wänden wie Skulpturen aus der Hölle. Ihre Netze hatten sie wie eine lebende Tapete vor die feuchten Wände gespannt. Sie huschten über den Boden und seilten sich wie Akrobaten an einem dünnen Faden von der Decke ab. Der Mann schlug sich wie ein ängstliches Weib die Hand vor den Mund. Wenn er weiter wie ein kleiner Hosenscheißer im Keller rumplärrte, waren die Spinnen sein kleinstes Problem. Er litt zwar nicht direkt an Arachnophobia, aber wenn er ein Lebewesen mit mehr als vier Beinen erblickte, hatte er es bisher immer in einen hübschen Matschfleck verwandelt. Wenn Gott bei seiner Schöpfung dermaßen geschlampt hatte, war es nicht nur sein Recht, sondern sogar seine Pflicht, die Fehler des Herrn mit seinen Füßen zu korrigieren.
Er zwang sich zur Ruhe und lauschte. Vereinzelte Geräusche, die sich wie schrilles Fiepen in seinen Schädel frästen, drangen durch das kaum postkartengroße Fenster. Die Missgeburten hatten die Suche nach ihm immer noch nicht aufgegeben. Der Mann presste die Hände auf die Ohren. Aber das Fiepen wurde nur noch schlimmer, wie ein Orkan, der an Stärke gewinnt. Ohne dass es ihm bewusst wurde, wimmerte er wie eine der Heulsusen, die er früher so gerne verdroschen hatte.
Er musste jetzt einfach nur noch ein wenig ausharren. Einen Moment überlegte er, die bleichen Missgeburten vorher zu evakuieren. Immerhin waren sie auch nur ... was eigentlich? Menschen? Dämonen? Ausgeburten der Hölle? Was auch immer sie waren, er konnte nicht zulassen, dass sie seinen Zeitplan durcheinander brachten. Er würde das alte Gemäuer, aus dem sie hervorgekrochen waren, eigenhändig mit Dynamit spicken – wie einen Hasenbraten mit Speckstückchen. Wenn er die verdammte Brut dann mit einem Krawumms in ihre Einzelteile zerlegte, würde er sich eine Fluppe anzünden und einen tiefen Zug aus seinem Flachmann nehmen. Das Leben konnte so einfach sein, wenn man die Kontrolle hatte.
Die ihm im Moment allerdings fehlte, denn eine der bleichen Kreaturen stand plötzlich im Türrahmen. Das Fiepen wurde unerträglich. Der dicke Mann schrie der Missgeburt seinen Schmerz in die hässliche Visage. Weitere degenerierte Gestalten erschienen und drangen in den feuchten Kellerraum. Dort quetschten sie sich zwischen das Gerümpel und betrachteten ihn erwartungsvoll wie einen Gastgeber, der sie zu einer Party in der Hölle eingeladen hatte. Der dicke Mann blickte ihnen direkt in die Augen. Aber es war kein Leben darin. Zumindest keines, das dem Herrn gefallen hätte.
Dann offenbarten sie ihm die Gastgeschenke. Aus ihren aufgerissenen Mündern quollen weitere spinnenartige Kreaturen. Schwarze Maserungen zierten ihre durchsichtigen Körper. Eine Flut krabbelnder Mistviecher ergoss sich aus den verkrüppelten Körpern, bis sie wie verschrumpelte Luftballons in sich zusammenfielen. Als der Mann erkannte, dass die Leiber als Brutstätte für eine vollkommen fehlgeleitete Evolution dienten, schaltete sich sein Gehirn endgültig ab. Game Over.
Seine Nerven wollten ihm noch die Berührungen ihrer Beine vermitteln, die wie dünne Drähte in seine Haut stachen. Aber die Impulse liefen ins Leere, wie bei einer Stromleitung, die nicht mehr an der Steckdose angeschlossen ist. Die Kreaturen wickelten ihn in ihre Netze, bis er aussah wie ein Geschenk auf der Geburtstagsparty des Teufels. Als sie unter seine Haut krabbelten und sich in seinem Gewebe einnisteten, spürte er keinen Schmerz.
Dafür sah er jetzt mit ihren Augen. Verstand ihre Botschaften, die mit dem Fiepen übertragen wurden. Bald schon würde ihr Blut durch seine Adern fließen, sich sein Körper verändern. In wenigen Wochen würde er wie Spiderman an den Wänden der Häuser kleben. Allerdings würde niemand jemals davon erfahren. Weil er für immer im Verborgenen leben würde.
Die Spinnen richteten sich in seinem Körper ein wie in einer neuen Wohnung. Nur eine von ihnen hatte sich mit einem kaum sichtbaren Faden von der Decke herabgelassen und baumelte direkt vor seinem Auge. Damit er ihre Schönheit bewundern konnte. Für alle Zeit.
Als seine Jungs später mit dem schweren Gerät anrückten, lachten sie und erzählten sich schmutzige Witze. Dann brachten sie die Abrissbirne in Position und verteilten das Dynamit in den Häusern. Nach knapp drei Stunden hatten sie das alte Viertel in eine Trümmerlandschaft verwandelt. Die Mauern seines Unterschlupfes waren in sich zusammengefallen und hatten alles Leben unter sich begraben. Alles irdische Leben.
Der dicke Mann aber hatte sich längst in einen alten Kanalisationsschacht in Sicherheit gebracht Dort lauerte er in einem Rohr, durch das die Fäkalien der Menschen flossen. Wenn die Zeit gekommen war, würde er aus seinem stinkenden Versteck hervorkriechen und seine Brut mitten in ihre Städte tragen.
Die Menschen würden nicht länger die Krone der Schöpfung sein. In der Nahrungskette würden sie aber weiterhin einen besonderen Platz einnehmen. Als Delikatesse.

05. Jul. 2013 - Florian Gerlach

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