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Gedankenkontrolle von Arne Kilian
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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TEXTLUSTVERLAG
A. Bionda
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Fabian Fröhlich © http://www.blindbild.de Für Menschen, die mir besonders wichtig sind?, dachte Sonja und kaute auf einem Fingernagel. Der Mauszeiger durchsuchte auf dem Monitor das Adressbuch. Die erste Mailanschrift wählte Sonja binnen drei Wimpernschlägen aus. Wahrscheinlich würde Jan die Nachricht gleich mit einem sich vor Lachen kugelnden Smiley an sie zurücksenden. Das hatte er zumindest vor drei Wochen getan, als ein ähnlicher Text Reichtum versprochen hatte, wenn man ihn innerhalb eines Tages an zehn Personen verschickte.
Der Sendestatus zeigte die verbleibenden Megabyte an. Noch nie zuvor hatte Sonja eine Kettenmail erhalten, in der man ein Video weiterleiten sollte. Die Anweisung war eindeutig gewesen: Erst absenden und dann ansehen! Als der Postausgang geleert war, spürte sie ein leichtes Kribbeln. Was war, wenn die Datei einen peinlichen Inhalt besaß? Zumindest das Antiviren-Programm hatte keine Bedenken gehabt.
Das Fenster des Media-Players öffnete sich und startete den Kurzfilm. Ein Augenpaar erschien auf dem Monitor und starrte Sonja an. Gleichzeitig drang eine Stimme durch die Lautsprecher und hielt Sonja gebannt vor dem Bildschirm. Die Worte gruben sich in ihr Unterbewusstsein. Nachdem Sonja der letzten Aufforderung gefolgt war und die Mail gelöschte hatte, vergaß sie alles, was in den vergangenen zwei Minuten geschehen war.
Auf dem Innenstadtring war ein Radfahrer überfahren worden. Durch die Fensterscheibe konnte Jan sehen, wie der Lkw-Fahrer die Worte stammelte: „Einfach übersehen.“ In seiner Hand hielt er ein Smartphone, das ihn möglicherweise abgelenkt hatte.
Mit Tüchern hatten die Rettungskräfte einen Bereich vor neugierigen Blicken geschützt. Etwas abseits davon lag ein Citybike auf der Fahrbahn und war in zwei Teile zerbrochen.
Ein Signal machte Jan auf die Mail von Sonja aufmerksam, doch der Verkehr floss wieder flüssiger und er legte das Gerät auf den Beifahrersitz, um auf einen geeigneten Moment zu warten.
In vierzig Minuten müsste Jan zu Hause eintreffen und Sonja fühlte sich anders als sonst. Sie kannte den Grund nicht, konnte sich an den Inhalt der Videonachricht nicht mehr erinnern und stand nun im Wohnzimmer vor der Bilderwand. Sie hatten dort von jedem Jahr ihrer Beziehung eine Aufnahme angebracht. Neben dem Tag am See hingen der gemeinsame Fallschirmsprung und die Reise nach New York. Es folgte die Hundeschlittenfahrt im ewigen Eis, die einsame Berghütte und die Flitterwochen zu den Pyramiden. Die Auswahl hätte umfangreicher sein können und Sonja konnte damals nicht glauben, dass die Volksweisheit tatsächlich stimmte. Das verflixte siebte Jahr hatte bei ihr und Jan zwei weitere Motive eingefordert.
Jetzt dachte Sonja an die Pause ihrer Beziehung. Zunächst hatten sie eine Paarberatung aufgesucht. Weshalb durfte sie nicht einfach dieser Jenny die ganze Schuld geben? Sie hätte doch den goldenen Ring an Jans Hand sehen müssen! Welche Frau konnte sich anständig nennen, die einen solchen Bund zerstörte? Jenny tat es und die Gespräche hatten Sonja dazu gezwungen, über ihre eigenen Fehler nachzudenken.
Sie hatten diese Krise überwunden, wieder zueinander gefunden, aber wer versicherte ihr, dass Jan nicht heute einen freien Tag gehabt und erneut diese oder eine andere Jenny besucht hatte? Nach einem gemeinsamen Frühstück im Bett, einer Shoppingtour mit Mittagessen beim Italiener und dem Aufenthalt in der Sauna könnte er nun müde und glücklich zu ihr zurückkehren.
Wieso diese Erinnerungen ausgerechnet heute aus Sonja heraussprudelten, wusste sie nicht. Inzwischen hatten sie fünf weitere Bilderrahmen bestücken können. Auf den letzten beiden waren sie nicht mehr allein. Ihr kleiner Sonnenschein strahlte mit ihnen gemeinsam in die Kamera.
Gleich würde Jan heimkehren und während Sonja über alles nachdachte, hatte sie einen Geistesblitz. Es war zuerst ein winziger Gedanke und sie sträubte sich, ihn zuzulassen – dann flammten ihre Emotionen auf, die Jans Affäre damals bei ihr ausgelöst hatte. So etwas durfte kein zweites Mal geschehen. Niemals wieder sollte sie nächtelang wachliegen und ins Dunkle starren, um auch am nächsten Morgen noch immer nicht schlafen zu können.
Sie musste sich entscheiden, bevor er heimkehrte, und es waren Vorkehrungen zu treffen. Plötzlich fiel ihr das Messer ein. Es musste scharf genug sein und während sie darüber nachdachte, war der Entschluss bereits gefasst. Es würde genau heute sein. Ein anderer Tag war ausgeschlossen.
Schon aus der Ferne konnte Jan sehen, dass die Abfahrt verstopft war. Es wäre besser, wenn er ihr eine Nachricht zukommen ließ. „Sonja schreiben: Ich stehe im Stau.“ Die Spracherkennung reagierte sofort und kontaktierte seine Frau. Jan fragte sich, warum sie ihm eine Filmdatei gesendet hatte. Wie jeden Dienstag übernachtete ihre Tochter heute bei seinen Eltern. Also konnte es sich nicht um ein Videotagebuch von ihr handeln, das er manchmal im Büro erhielt.
Im ersten Gang schob sich das Auto Meter für Meter näher zur Ausfahrt.
Mit einem Taschentuch in der Hand drehte sie die Flurlampe zweimal im Kreis und lockerte sie dadurch in ihrer Fassung. So könnte sie den Moment der Überraschung einplanen und Jan für einige Sekunden ablenken. Die Zeit würde ausreichen. Mit gezielten Blicken überprüfte sie ihre Vorbereitungen und hielt gleichzeitig den Metallstab in der Hand, um das Messer damit zu schleifen.
Sie würde in der Küche auf ihn warten. Dort trafen sie sich jeden Dienstag, um das Essen gemeinsam zu kochen. Rituale waren wichtig für eine Beziehung und heute würde sie ausnutzen, dass sie seinen Weg durch die Wohnung genau voraussagen konnte. Draußen war es dunkel und ohne Flurlicht müsste sich Jan zu ihr vortasten. Das Messer war scharf genug und sie platzierte es griffbereit.
Der Verkehr zwang ihn, den Wagen zu stoppen und Jan entschied, jetzt die Videonachricht zu betrachten. Der Anhang wurde geöffnet und startete automatisch. Es war dieselbe Sequenz, die schon Sonja gesehen hatte. Der Bildausschnitt erinnerte an den Vorspann vom Tatort, in dem wöchentlich blaue, durchdringende Augen ein millionenfaches Publikum anstarrten. Kaum jemand kannte den Mensch dazu, doch dieses Video unterschied sich nach wenigen Sekunden dadurch vom Sonntagskrimi, dass eine Stimme aus dem Off zu sprechen begann, während sich das Augenpaar veränderte. Die Farbe der Iris wurde dunkler und bewirkte, dass Jan langsamer atmete. Sein Puls beruhigte sich und er vergaß den Stau, in dem er gerade stand. „Höre mir genau zu ...“
Mehr erfuhr er nicht, denn die Autofahrer hinter ihm retteten Jan mit ihren Hupen aus dem Bann. Seine Hand zuckte und drückte dabei den seitlichen Knopf am Gehäuse, sodass die Augen verschwanden und er von seiner Tochter angelächelt wurde, die sich auf dem Hintergrundbild befand.
„Was hast du mir geschickt, Sonja?“
„Nachricht an Sonja senden“, antwortete die Spracherkennung.
„Abbrechen.“ Mit seiner rechten Hand rieb sich Jan eine Weile die Nasenwurzel, um wieder klar sehen zu können.
Nachdem er endlich den Stadtring verlassen und die Landstraße erreicht hatte, verlief die weitere Autofahrt problemlos.
Das Haus befand sich am Ende eines Neubaugebietes und von der Garage führte eine Tür direkt in den Wohnbereich. So war alles, das in den Kofferraum ein- und ausgeladen wurde, vor den neugierigen Blicken der Nachbarn geschützt. Diese Idee war Sonja während der Planung mit dem Architekten gekommen.
Wenn wir einmal einen Teppich verladen müssen, aus dem Füße hängen, dann bleibt das wenigstens unser Geheimnis, hatte sie damals lachend erwähnt.
Wie geplant hatte die Lampe keinen Stromkontakt und reagierte nicht auf den Lichtschalter, sodass sich Jan laut bemerkbar machte. „Sonja?“
Das Messer glitt einfacher ins Fleisch, als sie gedacht hätte. Sie spürte kaum Widerstand und blickte in Jans verwunderte Augen.
In der Mail von Sonja waren zehn Empfänger aufgeführt. Auch ihre beste Freundin Veronique gehörte zu ihnen. Sie kannten sich aus der Schulzeit und waren damals Sitznachbarinnen gewesen.
„Was sendest du mir denn da?“ Mit ihrem Finger tippte Veronique auf die Tischplatte und überlegte. „Ich kann doch nicht einfach ein Video blind an meine Freunde senden! Wer weiß, was die dann zu sehen bekommen?“
Vielleicht hatten die Besuche bei der Paartherapeutin mehr ausgelöst, als sie damals gedacht hatte. Sonja sollte über ihren Schatten springen!
Das Messer setzte ein weiteres Mal an und Sonja beobachtete gleichzeitig ihren Mann.
Es hatte Veronique noch nie gefallen, auf Anweisungen zu hören. Und ihr Drang nach Selbstbestimmung hatte sogar ihre berufliche Karriere gefördert. Also war es nicht verwunderlich, dass Veronique das Video öffnete, ohne es vorher an Menschen weiterzuleiten, die ihr besonders wichtig waren.
Auch bei Veronique verlangsamte sich der Atem und sie geriet allmählich in Trance und wurde von der fremden Stimme hypnotisiert. Der Befehl war eindeutig. Nachdem er in Veroniques Geist gepflanzt war, befolgte sie den abschließenden Befehl und löschte die Nachricht samt Anhang von ihrem Laptop.
„Wieso tust du das?“ Noch immer stand Jan fassungslos im Türrahmen und blickte abwechselnd in Sonjas Gesicht und das Messer in ihrer Hand.
„Unseren Jahrestag wollte ich ganz besonders feiern. Es sollte eine Überraschung sein.“
Jan musste sich sammeln und den Anblick verarbeiten.
Die letzten Worte wurden schwächer in Veroniques Kopf und gleich wären sie für immer vergessen, doch sie waren nicht fort. In ihrem Unterbewusstsein sollten sie sich ausbreiten und Veronique zu einer Handlung bewegen, die ihren Freund betraf, mit dem sie seit einem halben Jahr zusammenlebte. Er befand sich gerade im Wohnzimmer.
„Denke an einen wichtigen Menschen für dich.“ Die Stimme hatte eine kurze Pause gemacht.
„Mache diesem Menschen eine besondere Freude.“
Mit einer einladenden Geste lud Sonja ihren Mann zu sich in die Küche ein.
„Du hast noch nie ein Fleichgericht für mich gekocht. Bist du seit heute keine Vegetarierin mehr?“
„Es ist unser Jahrestag und du hast dir diese Überraschung verdient. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber ich möchte eine Ausnahme machen und mit dir gemeinsam diesen Braten essen, den du noch eingefroren hattest.“
„Die Flurlampe funktioniert nicht.“ Jan setzte sich an den gedeckten Küchentisch, an dem Sonja gerade das Fleich angeschnitten hatte.
„Das gehörte zu meiner Überraschung. In der Dunkelheit musstest du dich darauf konzentrieren, nirgendwo anzustoßen. So wollte ich dich vom Essensgeruch ablenken.“
„Du bist verrückt, aber ich freue mich auf die nächsten hundert Jahre mit dir.“
Veronique betrat das Wohnzimmer und setzte sich in einem transparenten Negligé zu ihrem Freund aufs Sofa. „Ich möchte dir eine Freude machen“, hauchte sie.
19. Jul. 2013 - Arne Kilian
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