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Existenzminimum
von Margret Schwekendiek

Andrä Martyna Andrä Martyna
© http://www.andrae-martyna.de/
Eine Jacke! Eine richtig gute Jacke, mit nur wenigen kleinen Löchern. Was machte es da schon, dass sie gut zwei Nummern zu groß war?
Elisabeth warf rasch einen Blick rundum. Beachtete jemand ihr Tun? Gab es womöglich andere Obdachlose, die es selbst auf diese Jacke abgesehen hatten? Nein, die ältere Frau bemerkte niemanden, der sich für sie und den Inhalt dieses Müllcontainers interessierte. Liz, wie sie von einigen auf der Straße angesprochen wurde, zog und zerrte, um die warme Jacke aus dem Unrat herauszuziehen. Unglaublich, was man alles im Müll finden konnte.
Die Frau blickte eher teilnahmslos auf das bleiche Gesicht des toten Mannes, der sich inmitten von benutzten Einkaufstüten, verfaultem Obst, Zigarettenkippen und anderem Abfall befand. Dieser Tote spielte keine Rolle für Liz. Aber er hatte noch immer einen Arm in der Jacke. Das ging gar nicht! Liz hatte die Jacke bereits als ihr Eigentum deklariert. Außerdem, ein Toter brauchte keine warme Jacke, als obdachlose Frau hingegen war man darauf angewiesen. Sie zog und zerrte weiter, bis die Jacke endlich freikam.
Liz betrachtete ihre Beute glücklich und schlüpfte gleich hinein.
„Da hast du wohl Pech gehabt“, erklärte sie dem Toten im Müll. „Aber du kannst sicher sein, dass ich gut auf die Jacke aufpassen werde. Ein so gutes Stück findet man nicht oft.“
Sie machte sich keine Gedanken darüber, dass der Tote von mehreren Kugeln getroffen worden und demnach ermordet worden war. Die Schüsse hatten die kleinen Löcher hervorgerufen, die nach Ansicht der abgerissenen Frau nur kleine Schönheitsfehler waren. Der Ermordete interessierte sie nicht weiter, sie hatte auch nicht vor, die Polizei darüber zu informieren. Die Polizei war der Feind aller Obdachlosen.
Bei all diesem Tun hatte Liz ihren Einkaufswagen nicht aus den Augen gelassen, schließlich befanden sich darin ihre gesamten Habseligkeiten; es wäre nicht das erste Mal, dass jemand mit dem Eigentum eines Anderen davonzog. Eine schwache Frau wie Liz konnte unter solchen Umständen froh sein, mit dem Leben davonzukommen.
Ein erfolgreicher Tag, wirklich! Eine Autofelge, leere Getränkedosen – sie würde wenigstens drei bis vier Dollar bekommen, wenn sie ihre Beute beim Trödler verkaufte. Ein kleines Vermögen, das sie zu dem übrigen Geld hinzufügen würde, das in einer Kiste in einem absolut sicheren Versteck lagerte.
Der Abend brach früh über Washington herein, es wurde Zeit, einen Schlafplatz für die Nacht zu finden. Zum Glück hatte sie jetzt eine warme Jacke und würde nicht frieren. Der Herbst war schon fortgeschritten, die Temperaturen sackten nachts bereits empfindlich ab. Der Mantel, den Liz bisher getragen hatte, besaß eine Reihe von Rissen und Löchern, er war eher für den Sommer geeignet. Sie legte ihn sorgfältig zusammen und verstaute ihn in einem der drei Koffer, die sich in ihrem Einkaufswagen befanden. Dort waren ihre wertvollsten Habseligkeiten vor neugierigen Blicken verborgen.
Jetzt brauchte sie nur noch ein Paar neue Schuhe, nicht so etwas Verrücktes mit hohen Absätzen und aus Kunststoff. Nein, es mussten schon ein Paar gute Schuhe sein, aus festem Leder, mit einer flachen haltbaren Sohle.
„Morgen“, sagte sie zu sich selbst, „morgen werde ich sicherlich auch noch die richtigen Schuhe finden.“
Mit diesen erfreulichen Gedanken schlief sie ein.

Szenentrenner


Sonntagmorgen. Von irgendwoher läuteten Kirchenglocken, der Verkehr auf den Straßen von Washington war deutlich geringer als an Wochentagen, die Passanten trugen ihre Sonntagskleidung und waren häufig auf dem Weg zur Kirche oder zu einem Freizeitvergnügen.
Liz stand von ihrem Nachtlager auf und überzeugte sich, dass all ihre Habseligkeiten noch vorhanden waren. Sie war in der Nacht mehrmals aufgeschreckt, doch es waren nur Tiere gewesen, die ungewöhnliche Geräusche verursacht hatten. Die Frau rappelte sich auf, suchte in ihrem Einkaufswagen herum, bis sie eine noch geschlossene Dose Milchkaffee fand, gleich darauf nahm sie einen Bagel aus einer Plastiktüte. Der war nur einmal angebissen worden, wie konnte man den einfach wegwerfen?
Liz verzehrte ihr Frühstück mit gesundem Appetit und machte sich dann auf den Weg zum Garfield Park. Sie ignorierte betont die abfälligen oder mitleidigen Blicke der Passanten, die hier im Park etwas Erholung finden wollten. Sie war nicht die einzige Obdachlose, die an diesem strahlenden Herbstsonntag das Leben im Park genießen wollte.
Auf einer Bank sah sie zwei Männer sitzen, die sich eine Flasche Schnaps in einer braunen Papiertüte teilten, deren Wagen standen griffbereit neben der Bank. Liz warf den beiden argwöhnische Blicke zu und beeilte sich, weiterzugehen.
Irgendwo blieb sie stehen. Nicht weit entfernt befand sich ein Spielplatz, der von vielen Familien besucht wurde. Kinder lachten, schrien und tobten, hockten im Sandkasten oder kletterten auf den Spielgeräten herum. Väter und Mütter behielten die Kinder im Auge, unterhielten sich oder beschäftigen sich mit Smartphones, Musik und Büchern.
Liz schaute aufmerksam umher. Sie wusste, an diesem Ort war die Wahrscheinlichkeit hoch, Frauen mit geeignetem Schuhwerk zu entdecken. Es gab tatsächlich zwei Paar, die genau ihrem Beuteschema entsprachen, doch mit Sicherheit würde keine der Frauen freiwillig ihr Eigentum an die Obdachlose abtreten. Aber Liz hatte Geduld. Früher oder später würde sich eine Gelegenheit ergeben.
Sie benahm sich absolut unauffällig, kaum jemand bemerkte die ältere Frau in der überdimensionalen warmen Jacke.
Am späten Nachmittag leerte sich der Spielplatz, es wurde Zeit mit den Kindern nach Hause zu gehen, Essen zu kochen und sich auf die neue Arbeitswoche vorzubereiten.
Liz wirkte ziellos, als sie in ruhigen Schritten den Weg zum Ausgang des Parks einschlug, konzentriert darauf bedacht, den gefüllten Einkaufswagen ohne Unfall vor sich herzuschieben.
Eine knappe Stunde später glitt ein Lächeln auf ihr Gesicht, in dem jede einzelne Falte eine eigene Geschichte erzählen konnte. Im Müllcontainer, den Liz gerade kontrollierte, lagen genau die Schuhe, die sie vor gar nicht langer Zeit zum Ziel ihrer Wünsche auserkoren hatte. Hocherfreut zog sie einen nach dem anderen vom Fuß der Frau, die tot im Abfall lag.
„Nur nichts verschwenden“, murmelte Liz und betrachtete die Leiche mit mäßigem Interesse. „Der Herbst ist da, ein Schal wird mir helfen, keine Erkältung zu bekommen“, stellte sie fest und nahm der Toten auch noch den seidenen Schal ab, der so gut zu dem hellen Pullover gepasst hatte. Die teure Armbanduhr, den Ehering und die goldene Halskette rührte sie nicht an. Die Gegenstände waren sehr persönlicher Besitz, und Liz hatte schon als Kind gelernt, dass man nicht stehlen durfte. Sehr persönlicher Besitz anderer Leute musste respektiert werden. Jacken, Schuhe und Kleidungsstücke fielen jedoch nicht in diese Kategorie, das waren Gebrauchsgegenstände, die von den bisherigen Trägern nicht mehr benötigt wurden. Die Kleidung war noch immer wertvoll, also durfte sie nicht verschwendet werden.
Während Liz den Seidenschal in einem der Koffer verstaute, berührten ihre Finger einen Revolver, dessen Lauf vom Gebrauch noch warm war. Liz machte sich in Gedanken eine Notiz, die Waffe musste gereinigt werden. Es war wirklich lästig, dass sie von Zeit zu Zeit nachhelfen musste, wenn die Leute ihre gebrauchten Sachen nicht einfach abgeben wollten. Diese Verweigerungshaltung zwang Liz förmlich dazu, auf ihre ganz persönliche Art das Müllaufkommen der Stadt Washington zu steigern. Sie würde allerdings nie etwas einfach auf der Erde liegen lassen, alles gehörte ordentlich in einen Container.
Liz hatte heute besonderes Glück, die Schuhe passten wie für sie gemacht. Großartig! Sie warf einen prüfenden Blick rundum, aber niemand interessierte sich dafür, was die armselige Gestalt dort trieb. Obdachlose waren ein alltäglicher Anblick und wurden einfach nicht bemerkt.
Liz schob ihren Einkaufswagen weiter. Eine Kirchturmuhr schlug mehrmals, acht Uhr abends. Liz stand auf dem Bürgersteig und schien gespannt zu überlegen. Zögernd setzte sie sich wieder in Bewegung, schlug nun aber einen Weg ein, der von Obdachlosen nur selten genutzt wurde. Zielstrebig bewegte sie sich auf die Innenstadt zu. Neben einer großen Tiefgarage befand sich ein Depot, in dem Lagerräume angemietet werden konnten. Liz holte einen Schlüssel hervor, den sie an einer stabilen Kette um den Hals trug. Sie öffnete einen der Lagerräume, schob den Einkaufswagen hinein und schaute sich noch einmal um. Niemand beobachtete sie. Rasch schlüpfte sie selbst ins Lager und verschloss das Rolltor.
Einige Minuten später öffnete sich das Tor erneut, eine sportlich gekleidete Frau in gerader aufrechter Haltung trat heraus. Ihr Aussehen deutete darauf hin, dass sie beim Einkaufen kein Limit beachten musste. Allerdings würde sie ihr Aussehen noch verbessern können, wenn sie etwas Make-up benutzte. Sie besaß soviel Selbstsicherheit, dass es ihr nicht das Geringste auszumachen schien, keine perfekte Darstellung abzuliefern. Ein Blick auf eine teure Omega-Uhr ließ ihre Bewegungen etwas rascher werden. Sie lief in die Tiefgarage und stieg in einen gepflegten Jaguar E, mit dem sie davonfuhr.
Niemand hätte in ihr die Obdachlose erkannt, die vor kurzer Zeit mit einem Einkaufswagen durch die Straßen gezogen war. Der innere Zwang, aus dem wohlgeordneten Leben auszubrechen und eine zweite Existenz am Rande der Legalität zu führen, war zunächst einmal wieder befriedigt. Für wenigstens eine Woche konnte Liz in die Routine der Wohlhabenheit zurückkehren. Sie stellte sich selbst nicht die Frage nach dem Warum, sie gab einfach dem inneren Drängen nach, eine andere Persönlichkeit am Rande des Existenzminimums anzunehmen.

Szenentrenner


„Nicht schuldig“, lautete das einstimmige Urteil der Jury an diesem Freitagnachmittag, das Wochenende war gerettet.
Mit ungläubigem Gesichtsausdruck saß die Angeklagte auf ihrem Stuhl und wusste sichtlich nicht, was sie als Erstes tun sollte. Endlich sprang sie auf und umarmte ihre Anwältin, die vor Gericht Unglaubliches vollbracht hatte.
„Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll“, stammelte die Frau.
„Denken Sie einfach daran, meine Rechnung pünktlich zu bezahlen“, empfahl die Anwältin ironisch.
Ein Mann machte die Frau auf sich aufmerksam. „Würden Sie einen hoffnungslosen Fall übernehmen?“, fragte er mit Verzweiflung in der Stimme.
Sie zuckte die Schultern. „Nichts ist wirklich hoffnungslos. Lassen Sie sich einen Termin geben, kommen Sie in die Kanzlei, und erzählen Sie mir von dem Fall, dann werde ich entscheiden.“
„Es geht um meinen Bruder“, rief der Mann hastig und versuchte, zwischen den hinausdrängenden Zuschauern seinen Platz zu halten. „Mein Bruder wird beschuldigt, drei Leute getötet zu haben. Sie haben von den Leichen in den Müllcontainern gehört?“
„Aber das waren doch nur zwei“, sagte Elisabeth Mary Roose-Gardiner, die Frau, die vor Gericht einen hervorragenden Ruf als Verteidigerin genoss, mehr zu sich selbst.
„Die Polizei behauptet, Harry habe auch den Taxifahrer am Jefferson Square umgebracht. Ich flehe Sie an, mir zu glauben, mein Bruder ist unschuldig.“
„Das weiß ich, zumindest bei den Leichen im Müll“, murmelte Liz so leise, dass niemand sie hörte. Diese Ungerechtigkeit konnte sie jedoch niemandem durchgehen lassen. Die Polizei sollte gefälligst ihre Arbeit sorgfältig erledigen und nicht Unschuldige verhaften. „Der Fall interessiert mich“, sagte sie laut und reichte dem Mann ihre Karte. „Ich werde sehen, was ich tun kann. Sie erreichen mich am Montag wieder, bis dahin kümmert sich meine Assistentin um Sie.“
Liz schaute auf die Uhr, winkte ihrer Assistentin kurz zu und fuhr mit dem Jaguar davon.
Knapp eine Stunde später trat die ältere Obdachlose aus dem Depot und schob mit vorsichtiger Aufmerksamkeit ihren Einkaufswagen vor sich her. Es war an der Zeit, die Müllcontainer zu kontrollieren, die Leute warfen heutzutage so viele Sachen weg. Bald schon kam der Winter, Liz brauchte dringend warme Strümpfe, und sie hatte ihren Blick schon auf ein Paar sehr hübsche Exemplare geworfen. Mal sehen, was im Müll sonst noch zu finden war.

30. Aug. 2013 - Margret Schwekendiek

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