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Wichteln
von Mark Staats

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
98 Beiträge / 29 Interviews / 31 Kurzgeschichten / 5 Artikel / 66 Galerie-Bilder vorhanden
Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Der schrecklichste Tag im Jahr naht. Nein, nicht der Besuch meiner Eltern. Die leben auf Malle. Die Weihnachtsfeier der Abteilung steht an. Sozusagen befohlene Fröhlichkeit. Und weil das noch nicht genug ist, wichteln wir. Ich habe meinen Chef gezogen und noch nichts Passendes für ihn gefunden. Vielleicht gehe ich heute Nacht bei ihm Zuhause vorbei. Als Werwolf. Dann fällt mir schon was ein. Er ist ja lange verheiratet. Und seine Frau kann bestimmt davon profitieren. Ich habe sie einmal gesehen. Sie ist eher das unscheinbare Mauerblümchen. Liegt aber an den Klamotten.
Ich grinse bei dem Gedanken, nachts in das Schlafzimmer meines Chefs zu schauen. Mal sehn, was er so treibt. Wenn er überhaupt was treibt. Bei meinem Glück schnarcht er nur. Aber er riecht so gut.
Und was ziehe ich morgen auf der Feier an? Der nette Kerl vom Vertrieb kommt. Nicht gerade ein Wahnsinnstyp. Aber zumindest das, was ich gerochen habe, ist vielversprechend. Um auf Nummer sicher zu gehen, appelliere ich lieber an seine Instinkte. Und lasse ihn hinterher in dem Glauben, dass er mich abgeschleppt hat. Männer sind dann gleich einfallsreicher. Sie wollen ihren Sieg auskosten und zeigen, was sie können.
Die Erkenntnis, dass wir Frauen als Einzige die Wahl treffen, schlagen Männer gekonnt in den Wind. Tut man ihnen eben den Gefallen. Auch wenn es fern jeder Realität ist.
Nachdenklich schlürfe ich meinen Kaffee. Komisch, die unscheinbarsten Typen entpuppen sich als echte Kerle. Und die Schönen als Luschen. Vielleicht sollte ich zwischen den Jahren nach Irland fliegen. Roger suchen. Der ist schön und keine Lusche. Eben ein gestandener Werwolf.
Der Polizeifunkscanner rauscht vor sich hin. Ab und an eine kleine Durchsage. Nichts Aufregendes. Keine Tat die meine Aufmerksamkeit erfordert. Vielleicht hat Andrea recht? Vielleicht sollte ich nach Hannover ziehen. Und dort mein Leben bestreiten und Verbrecher jagen. Hier gibt es fast keine mehr. Ich schaue nachdenklich durchs Küchenfenster. Draußen fällt mal wieder Schnee. Die Weihnachtsbeleuchtung des Nachbarn erhellt die Straße. Besser als jede Laterne. Ein Lichterweihnachtsmann lacht mich an. Hat der Nachbar bestimmt extra so aufgestellt, nachdem ich gesagt habe, dass er einen Knall hat und lieber an die armen Kinder denken soll, das Geld besser spendet, anstatt es dem Stromversorger zu geben. Und er indirekt die Umwelt verpestet.
Als Antwort erhielt ich einen vielsagenden Blick auf meinen Polo. Gut, der knattert und rußt ein wenig. Aber er bringt mich zur Arbeit.
Schulterzuckend stelle ich die Tasse weg. Gehe ins Schlafzimmer und suche Klamotten für die Weihnachtsfeier aus. Ich ziehe ein Stück nach dem anderen heraus. Hosenanzüge, Kleider, Miniröcke.
Nach einer Stunde bin ich fertig. Mein Schrank ist leer. Die Sachen wild verstreut. Gott sei Dank wohne ich allein. Kein Mann, der über das Chaos meckert. Ich habe also noch Zeit, wieder klar Schiff zu machen. Manchmal habe auch ich Glück. Abgesehen davon, ist es kein Chaos, sondern eine Bestandsaufnahme. Zu meinem Schrecken stelle ich fest, das ich kaum noch was zum Anziehen habe. Muss unbedingt wieder shoppen gehen. Mein fachmännischer Blick gleitet über die Sachen. Bleibt an einem Stück hängen. Ja, das ist es!
Mit dem engen roten Kleid in der Hand trete ich vor den Spiegel. Werfe mir bewundernde Blicke zu. Drehe mich hierhin, dorthin. Ja, das ist genau das Richtige. Es passt gut zu meinen Haaren. Die hohen Stiefel noch dazu. Perfekt.
Bestimmt werden sie sich das Maul zerreißen. Besonders die Neue. Die hat sich ja auch schon an den Chef rangeschmissen. Hat überhaupt keine Moral und denkt nur an das eine. Meine Miene verfinstert sich, doch im nächsten Moment verflüchtig sich dieser Gesichtsausdruck. Was soll ich mich aufregen? Und abgesehen davon, wenn ich wollte …
Ich schaue zum Wecker, muss mich fertig machen. Der Chef wartet.
Ich werfe noch einen Blick auf den Big Cock. Puh, er ist abgeschaltet. Also keine bösen Überraschungen heute Nacht. Dann lege ich das Kleid aufs Bett und schlendere ins Wohnzimmer, öffne das Fenster und schalte das Licht aus. Die kalte Luft, die hereinströmt, lässt mich frösteln. Doch es soll mich ja niemand als Werwolf sehen. Ich husche ins Bad. Schnell bin ich entkleidet. Nachdenklich schaue ich auf Andreas Geschenk. Es hängt wartend auf einem Bügel. Ich habe es noch nie getragen. Warum nicht dieses Mal? Gesagt, getan.
Im ersten Moment stelle ich mich etwas unbeholfen an. Der Latex klebt an meinen Beinen. Doch dann habe ich den Dreh raus. Die Geheimwaffe heißt Talkumpuder. Der Body fühlt sich kühl an, schmiegt sich eng an meinen Körper. Ich drehe mich vor dem Spiegel. Die Schnallen funkeln im Licht. Ich pruste los. Sexy und gefährlich. So wünschen sich Männer doch Frauen. Das macht sie an. Männer sind so einfach gestrickt. Nein, heute brauche ich das nicht. Vorsichtig ziehe ich es wieder aus und gehe ins Wohnzimmer. Lass mich auf alle viere nieder. Mein Blick fällt auf meinen Bauch. Mist, die Bikinizone könnte auch mal wieder eine Rasur gebrauchen. Das fällt in Werwolfgestalt nicht weiter auf. Sähe dann eher blöd aus, wenn überall Fell sprießt, nur da nicht.
Ich verwandele mich. Es ist immer das Gleiche. Erst dieses Ziehen auf der Haut. Gefolgt von dem Gefühl der Kraft in mir.
„Hatschi.“ Und eben die Allergie. Meine Zunge fährt über den Wohnzimmertisch. Schlabbert die zurechtgelegten Antihistamine auf. Sie sind leider zu klein für meine Pranken. Ich komme mir vor wie ein Hund. Fehlt nur noch eine Wasserschale. Aber wenn ich sie erst nach der Wandlung nehme, wirken sie besser.
Es ist Zeit.
Ein mächtiger Satz katapultiert mich nach draußen. Weite Sprünge folgen. Ich habe das Feld erreicht. Verschmelze mit der Dunkelheit.
Ich will in den nächsten Ort. Dort wohnt mein Chef. Der Weg führt mich quer durch den Wald. Nach fünfzehn Minuten erreiche ich das Grundstück. Es ist groß, hat viele Bäume und dazwischen steht ein zweigeschossiges Haus mit bescheuerter Weihnachtsbeleuchtung. Alles sieht sehr nobel aus. Also dahin fließt das Geld, was er mit der Firma einnimmt. Nachdenklich reibe ich mir das Kinn. Hier ein paar Hunderttausend weniger investiert und wir könnten alle mehr Gehalt bekommen.
Geduckt springe ich über den Zaun. Renne zu einem Baum und spähe zum Haus.
Was mache ich eigentlich hier? Ausnutzen meiner Fähigkeiten? Darf ich das? Klar, ich kann ja auch Männer riechen. Nutze das ja auch. Aber da geht es ums Überleben.
Hier jedoch? Reines Privatvergnügen.
Ach – was soll’s. Ich zucke mit der Schulter. Schaue an dem Baum hoch und grinse breit. Meine Krallen bohren sich tief ins Holz. Ein Leichtes, eine Höhe zu erreichen, in der ich in die Fenster schauen kann. Ich hätte es besser nicht tun sollen. Mir verschlägt es den Atem.
Der ist doch Familienvater. Darf der das überhaupt mit seiner Frau machen? Mir wird schwindelig, wenn ich daran denke, was er mit dieser Peitsche anstellen kann. Die sollten wenigstens die Vorhänge zuziehen. So habe ich meinen Chef noch nie gesehen. Weiß jetzt wenigstens, was mich immer an seinem Geruch gestört hat. Auf so was stehe ich nun wirklich nicht. Selbst wenn es die Vorliebe des letzten Mannes auf Erden wäre.
Wie ein Kutscher schwingt er die Peitsche. Es knallt. Seine Frau jauchzt. Das darf doch alles nicht wahr sein. Von wegen Mauerblümchen. Tarnung ist das. Mir fehlen die Worte. Ich schließe die Augen, schüttele den Kopf, lasse den Stamm los und verliere das Gleichgewicht. Ich schwanke wild rudernd auf dem Geäst. Verzweifelt klammere ich mich an einen Ast über mir. Leider ist er morsch. Ich höre es knacken. Unterdrücke einen spitzen Schrei. Dann falle ich. Der Ast auch. Ich fuchtele aufgeregt mit den Armen. Versuche, mich zu drehen. Ich jaule und fühle den Schmerz im Rücken, als ich auf dem gefrorenen Boden aufpralle. Verfluchter Mist. Entsetzt schaue ich nach oben. Bedecke meine Augen mit den Pranken. Dann landet der Ast auf mir. Die Luft wird mir aus den Lungen gepresst. Wie kann ein morscher Ast nur so schwer sein? Das Ziehen in der Brust beachte ich schon gar nicht mehr. Denn weitere Probleme kommen auf mich zu.
Oben wird ein Fenster geöffnet. Ich blicke in das Gesicht meines Arbeitgebers. Starre auf sein Halsband. Sieht fast aus wie meins, das mir Andrea geschenkt hat.
„Scheiße“, zische ich. So schnell wie ich kann, hieve ich den Ast zur Seite, rappele mich auf und laufe davon. Mein Rücken schmerzt. Ich verkrieche mich im Schatten einer Hecke.
„Ist da jemand?“, höre ich die Stimme meines Chefs.
Anschließend die seiner Frau. „Komm, Schatz. Schließ das Fenster und mach weiter. Bitte, sei unartig.“
Das Fenster schließt sich wieder. Puh. Das war knapp. Ich schwöre, nie wieder werde ich meine Fähigkeiten für so was einsetzen.

Szenentrenner


Langsam und unter Schmerzen schleiche ich nach Hause. Lege mich ins Bett und starre an die Decke. Die Geschenkfrage ist leider immer noch nicht geklärt. Und ich hoffe, ich kann meinen Chef noch anblicken und nicht nur den unartigen Kerl in ihm sehen. Angewidert rümpfe ich die Nase. Werde ihm wohl doch eine Tasse kaufen. Oder ob ich noch mal zu ‚Rudis Lack- und Lederwelt’ gehe? Ich schüttele energisch den Kopf. Autsch, das zieht im Rücken. Auch wenn es verlockend wäre. Seine entgleisenden Gesichtszüge zu sehen, wenn er vor allen Kollegen sein Päckchen aufmacht. Aber danach müsste ich mir einen neuen Job suchen. Ein Grund mehr, Hannover anzupeilen. Allerdings befürchte ich, dass er und seine Frau dort eh Stammkunden sind. Also im Lackshop, nicht in Hannover. Muss mal Andrea fragen. Die kennt bestimmt jeden da.
Nein, er bekommt nur eine Kaffeetasse.

Szenentrenner


Nach der Arbeit am nächsten Tag besorge ich sie schnell. Irgendeine unverfängliche Tasse. Und eine Karte. Das ‚Immer schön artig bleiben’ unter meiner Unterschrift, kann ich mir aber doch nicht verkneifen.
Als ich ‚Schmidts Landgasthof’ betrete, dudelt mir Weihnachtsmusik entgegen. Das kann ja lustig werden. Hätte mir vielleicht ein Geweih aufsetzen sollen. Eine Bedienung nimmt mir mein Geschenk ab. Soll ja erst einmal anonym sein. Bis jeder seins auspackt. Alle sind schon da und starren mich an. Einige schütteln die Köpfe. Ich zucke zusammen. Vielleicht doch das falsche Kleid? Es hebt sich von ihren gediegenen Farben aber gut ab. Oder ist es der knallige Lippenstift? Farblich passend zum neonroten Nagellack. Vielleicht auch die Stöckelschuhe. Wissen die eigentlich, was man alles tun muss, um einen Partner zu bekommen? Wahrscheinlich nicht. Die haben ja alle einen. Bestimmt durch die Bank Langweiler.
Ich grüße freundlich und schaue mich um. Mist, der Kerl vom Vertrieb ist nicht da. Wird ja ein toller Abend. Ich setze mich und bestelle den ersten Roten. Das Essen und die Gespräche lasse ich über mich ergehen. Beides ist nicht wirklich der Knaller. Der Wein dafür schon.
Dann ist Wichteln angesagt.
Als mein Chef sein Päckchen öffnet, schluckt er. Ich höre es deutlich. Während er die Karte liest, wirft er mir einen irritierten Blick zu. Habe ich es übertrieben? Nein, das ist die Rache für die vielen Präsentationen und Jahresrahmenverhandlungen, die ich immer auf die letzte Minute für ihn erledigen musste. Und für die Rückenschmerzen. Ausgleichende Gerechtigkeit nenne ich so was. Nebenbei wickele ich mein Geschenk aus. Ein Buch. Vielleicht ein Krimi? Ich mag Krimis.
Arrg. Eine Typberatung. Für was soll das denn gut sein? Ich lese die Karte. Ist von Astrid, der Neuen. Die Beratung braucht sie doch selbst. So wie sie sich immer anzieht. Denkt wohl, je mehr Ausschnitt, desto mehr Blicke vom Chef. Mein Puls steigt. Ich brauche Alkohol, um mich zu beruhigen. Also greife ich zu meinem Glas. Es zerspringt unter meinem Händedruck. Der Wein ergießt sich auf die Tischdecke.
„'tschuldigung, das hatte bestimmt schon einen Sprung“, sage ich lächelnd und erröte. Astrid kichert, die anderen schütteln die Köpfe.
„Na klar“, höre ich meine neue Kollegin leise lästern, „wer es glaubt. Sie sollte keinen Alkohol trinken, wenn sie keinen verträgt.“
Die Bedienung bringt mir einen neuen Wein. Tupft den Fleck trocken. Mein Blick gilt Astrid. Er ist tödlich. Sie schaut weg. Mir wächst ein Zahn vor Wut. Ich springe auf und gehe auf die Toilette. Yoga ist angesagt. Langsam beruhige ich mich. Dann rufe ich Andrea an. Sie verspricht, mich abzuholen. Will mit mir in die Disco. Ein letztes Mal atme ich tief durch, dann gehe ich zur Feier zurück. Trinke meinen Wein aus und entschuldige mich anschließend mit einer dringenden Familienangelegenheit. Dann verabschiede ich mich der Reihe nach. Tut man ja so. Unmerklich schnuppere ich. Den Geruch von Astrid werde ich mir merken. Ist auch nicht schwer. Ihr Parfüm kostet 2,49 Euronen und gibt’s im Discounter.
Ich greife nach dem Buch und verlasse die Feier.

Szenentrenner


05. Sep. 2013 - Mark Staats

Bereits veröffentlicht in:

BETTINA MÜLLER - WERWÖLFIN MIT SEXAPPEAL
M. Staats
Roman - Modern Mystery - Fabylon - Nov. 2009

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