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Moral auf Diät von Gabi Thomas
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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FABYLON VERLAG
A. Bionda
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Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de/ Als Willi auf den Wecker schlug und verschlafen seine Füße aus dem Bett schwang, war die Welt noch in Ordnung. Er sah aus dem Fenster und reckte ausgiebig seine Glieder. Die Sonnenstrahlen, welche die Wiesbadener Innenstadt in ein warmes Licht tauchten, entlockten ihm ein Lächeln. Alles schien wundervoll. Erst als er aus dem Schlafzimmer trat, kam ihm der Verdacht, dass etwas nicht stimmte. Es fehlte der übliche Geruch nach frischen Brötchen, der ihm sonst in die Nase stieg. Ebenso schmerzlich vermisste er den Duft von frisch gebrühtem Kaffee. Irritiert lief Willi in die Küche, wo seine Frau Hilde am Tisch saß und ihn erwartete. Etwas Merkwürdiges lag in ihrem Blick, das ihn sofort stutzig machte. Eine wilde Entschlossenheit, boshaft, ohne Aussicht auf Gnade. Er kannte diesen Blick, das bedeutete nichts Gutes. Willi sah auf den Frühstückstisch. Vor ihm stand ein Teller mit einer Scheibe Knäckebrot, dekoriert mit einem Klacks Magerquark und einem Blatt Basilikum.
Ab heute machst du Diät, verkündete Hilde. Die Worte fuhren durch seine Brust wie ein Fleischermesser. Es wird Zeit, dass du in deinem Alter auf dich achtest.
Auf mich achten?, fragte Willi. In meinem Alter? Ich bin gerade mal 53!
Und eindeutig zu fett. Kaffee schadet dir auch, ich werde dir einen Kräutertee machen.
Lass den Quatsch!, fuhr Willi seine Frau an. Ich fühle mich wohl, so wie ich bin. Missmutig riss er die Kühlschranktür auf und blickte in einen grünen Urwald von Gemüse und Kräutern. Wo waren sie hin, all die Leckereien? Der Schwarzwälder Bauernschinken, der Camembert, die herzhafte Peperonisalami? Sie waren fort! Stattdessen lag dort Kaninchenfutter, das für mindestens zwei Wochen reichte. Willi ließ sich kraftlos auf einen Küchenstuhl sinken.
Du weißt anscheinend nicht, was gut für dich ist, bemerkte Hilde. Also müssen wir dich zu deinem Glück zwingen.
Wir? Wer ist wir?
Dein Hausarzt und ich. Er meinte, du musst dringend deine Lebensweise ändern, und das finde ich auch. Ich werde dich in einem Fitnessstudio anmelden. Du musst mindestens dreißig Kilo abnehmen.
Dreißig Kilo? Willi war entsetzt. Was ist dann noch von mir übrig?
Das reichte. Anscheinend hatte sich sein zänkisches Weib mit diesem Dr. Tunichtgut verbündet. Hilde, die so diszipliniert war, dass sie auch jetzt noch die Figur einer Zwanzigjährigen besaß, dafür aber das Gesicht einer Dörrpflaume. Er ließ sich ihren geradezu militärischen Drill schon viel zu lange gefallen. Das ging nun zu weit.
Dann esse ich eben außerhalb, triumphierte er grinsend.
Doch da war es wieder, dieses diabolische Blitzen in Hildes Augen.
Willi nahm seine Geldbörse aus der Jackentasche und überprüfte die Finanzen. Lediglich ein paar Münzen waren darin, die Bankkarte fehlte.
Ich habe mir schon gedacht, dass du schwach wirst, sagte sie. Deswegen habe ich vorgesorgt. Das Geld reicht für das Tagblatt. Bring es mir bitte mit.
Wutentbrannt zog Willi seine Kleidung an und packte seine Tasche für die Arbeit. Als er zur Tür hinaus wollte, drückte ihm seine Frau eine Plastikbox in die Hand.
Dein Mittagessen, sagte sie. Die Kantine wirst du schließlich nicht besuchen können.
Willi riss ihr wortlos den Behälter aus der Hand und schlug die Tür hinter sich zu.
Sein Magen knurrte ärgerlich. Schon jetzt bemerkte Willi, wie ihm die Kräfte schwanden. Seine gute Laune war ohnehin hinüber. Er lief die Treppe hinab und überquerte die Straße zum Kiosk.
Guten Morgen, Herr Wolcek, begrüßte ihn der Kiosk-Inhaber. Sie sind aber heute früh dran. Ich habe die Zeitungen noch gar nicht ausgepackt. Bitte warten Sie einen Moment. Er bückte sich unter den Tresen und kramte herum.
In diesem Moment sah Willi sie. Die Minisalamis, direkt vor seinen Augen. Die Schokoriegel. Er warf einen Blick in seine fast leere Geldbörse und lauschte auf das Knurren in seinem Magen. Der Inhaber des kleinen Lädchens war noch immer kopfunter, niemand sonst war hier. Es würde keiner bemerken, wenn er diesen winzigen Schokoriegel einfach so einsteckte. Noch nie hatte er einen Diebstahl begangen. Aber genau genommen war das ja auch keiner. Das war nur ein kleiner Mundraub, aus einer wirklichen Notsituation heraus. Herr Richter, ich wollte eigentlich gar nichts stehlen. Es war nur, weil meine Frau mich auf Diät gesetzt hat.
Oh, Diät, Sie bedauernswerter Mann. Nein, in so einem Fall kann ich Ihnen keine Schuld zuweisen.
Willi warf einen letzten Blick auf den hochgereckten Hintern des Verkäufers, dann griff er nach einer Minisalami und ließ sie in seine Tasche gleiten. Und weil es so einfach war, nahm er noch zwei Schokoriegel und eine Packung Bonbons.
Als der Kioskbetreiber Willi die Zeitung reichte, bezahlte er und lächelte freundlich zum Abschied. Er suchte schnell das Weite, um in einer Ecke seine reiche Beute gierig zu verschlingen. Wie gut das tat, richtiges Essen im Magen zu haben! Doch es war einfach nicht genug. Wie sollte er diesen Tag überstehen? Willi öffnete die Frühstücksbox, die ihm Hilde gegeben hatte. Zum Vorschein kam ein Brötchen, das von außen noch recht lecker aussah. Das Innenleben jedoch war weniger ansprechend. Was war das? Eine seltsame weiße Masse, nahezu geschmacksneutral. Aufgeweichte Küchentücher vielleicht? Er kratzte sie so gut wie möglich ab und aß das Brötchen. Aber wie lange würde ihn das satt machen? Konnte er bei einem Kollegen um Essen betteln? Nein, diese Blöße würde er sich nicht geben. Willi sah auf die Uhr. Noch eine gute Dreiviertelstunde bis Dienstbeginn, sogar etwas mehr, wenn er es sich zum ersten Mal in seinem Leben erlaubte, zu spät zu kommen. Er war bisher immer korrekt gewesen. Ihn überkam ein Anflug schlechten Gewissens, als er über die Tat im Kiosk nachdachte. Er hatte tatsächlich gestohlen. Doch schuld daran war nicht er, sondern seine Frau, diese blöde Ziege! Sie sorgte dafür, dass er kriminell wurde! Jeder würde das verstehen. Und ein gutes Gewissen war etwas für satte Leute!
Willi steuerte den nächsten Supermarkt an. Warum sich mit einem Kiosk begnügen, wenn man das Schlaraffenland haben konnte? Er nahm einen Einkaufskorb und legte eine Salatgurke hinein, die er verstohlen in die Ecke mit den Würsten trug. Er blickte sich unauffällig um. Niemand war in der Nähe. Ein Käseknacker wanderte heimlich in die Innentasche seiner Jacke. Und damit er nicht so alleine war, bekam er Gesellschaft von einer Packung Gouda. Willis Jacke beulte sich schon verdächtig aus, das Glas mit Wiener Würstchen musste in seiner Tasche Unterschlupf finden. Er trug den Einkaufskorb zur Kasse, wo sein Adrenalinspiegel in die Höhe schnellte und ihn eine einsame Kassiererin erwartungsfroh ansah. Willi stoppte, nahm die Gurke aus dem Korb und betrachtete sie kritisch. Er setzte eine Miene auf, als müsse er eine sehr wichtige Kaufentscheidung treffen, schüttelte schließlich den Kopf und reichte die Gurke der Kassiererin.
Ich nehme sie doch nicht. Tut mir leid.
Mit klopfendem Herzen passierte er die Kasse, ließ den Einkaufskorb stehen und verließ den Supermarkt so schnell es ging. Mit zitternden Knien blieb er in sicherer Entfernung stehen. Geschafft! Der letzte Raubzug war durchaus erfolgreich gewesen. Doch schlagartig fiel ihm ein, dass er das Brot vergessen hatte! Was sollte er mit all den leckeren Sachen tun ohne Brot? Er musste sie schließlich irgendwo drauflegen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als noch einen weiteren Diebstahl zu begehen. Und überhaupt, so eine Diät konnte lange andauern. Dreißig Kilo! Willi lachte verächtlich. Er musste dringend Vorräte anlegen. Entschlossen nahm er sein Handy aus der Tasche, rief bei seinem Arbeitgeber an und meldete sich krank. Schließlich konnte man eine Diät gut mit einer Krankheit vergleichen. Man wurde von beidem schwach, und es ging einem mies.
Der Tag gehörte ihm. Ihm und dem Essen. Jetzt, wo er sowieso ein Krimineller war, konnte ihn nichts mehr aufhalten. Willi lief in die Fußgängerzone. Er steuerte die Delikatessen-Abteilung eines großen Kaufhauses an. Jetzt würde er Nägel mit Köpfen machen. Zuerst besorgte er sich das Notwendigste und verstaute ungesehen eine Packung Toastbrot in der Tasche, dann machte er sich schnurstracks auf den Weg zur Feinkost. Willi war nicht dumm. Er wusste sehr wohl, dass sich hier Kaufhausdetektive herumtrieben. Es würde knifflig werden. Misstrauisch beobachtete er jeden, der sich in seiner Nähe aufhielt. Lief der Mann in der blauen Jacke ihm etwa hinterher? Willi las die Inhaltsstoffe der Trockenpilze aufmerksam durch und linste verstohlen nach links und nach rechts. Der Mann war fort, doch was zum Geier wollte er mit Trockenpilzen? Die Gänseleberpastete war schon eher sein Ding. Er nahm eine Dose, blickte um sich und konnte nichts Verdächtiges erkennen. Also ließ er sie in seine Tasche fallen.
Bezahlst du das auch?, fragte eine Stimme hinter ihm. Erschrocken fuhr er herum. Neben einer Palette mit unausgepackten Kartons stand ein kleines Mädchen und blickte ihn vorwurfsvoll an. Willis Gesicht nahm eine tiefrote Farbe an.
Klar, stammelte er. Ich bin doch kein Dieb. Das Wort Dieb flüsterte er und überzeugte sich, dass niemand das Gespräch mitbekam.
Warum tust du es dann in deine Tasche?
Weil ich keinen Korb habe, antwortete Willi.
Warum holst du dir dann keinen?
Ich brauche keinen.
Du willst es doch klauen, oder?
Nein, natürlich nicht.
Mami!
Willi schluckte. Mit dem Schrei wurden nicht nur die junge, blonde Mutter des Mädchens auf ihn aufmerksam, sondern auch eine Verkäuferin und vier weitere Kunden. Willi reagierte geistesgegenwärtig.
Ungezogenes Gör!, schimpfte er. Was fällt dir ein, mich als Fettklops zu beschimpfen. Das ist unhöflich. Natürlich esse ich keine ganzen Schweine. Er stapfte schnellen Schrittes davon, empört zeternd, eilte zur Rolltreppe und suchte so schnell er konnte den nächsten Ausgang. Er musste außer Reichweite sein, bevor das Mädchen die anderen aufklärte. Fast wäre das schief gegangen!
Völlig außer Atem schlug Willi den Weg Richtung Kurpark ein. All die kriminelle Energie hatte ihn hungrig gemacht. Er suchte sich eine Bank und packte sein appetitliches Diebesgut aus. Schon der erste Biss in den Käseknacker stimmte ihn versöhnlich mit seinem Gewissen. Doch jeder weitere machte ihn ärgerlicher auf seine Frau. Was bildete sie sich ein? Ihn zu bevormunden, wie ein kleines Kind! Warum kam er eigentlich nicht dagegen an? Immer wieder ließ er sich ihre Gemeinheiten gefallen. So konnte das nicht weitergehen.
Nach dem Essen beobachtete Willi satt und glücklich die Enten. Gebraten waren die sicher köstlich. Er sah vor seinem geistigen Auge zwei verschiedene Visionen seiner Zukunft. In der einen Vision lebte er als Höhlenmensch in einem Erdloch im Kurpark, wo er täglich Gänse oder Enten jagte und sie nach Einbruch der Dunkelheit über offenem Feuer garte. Nicht schlecht.
In der anderen lebte er in seiner Wohnung, gemeinsam mit Hilde, wo er mit Salat und anderem Grünfutter versorgt wurde, bis ihm Fell und lange Ohren wuchsen. Und eines Tages tötete er Hilde mit einem Biss in die Halsschlagader, mit seinen neuen Nagezähnen, die ihm unweigerlich von all dem Kaninchenfutter gewachsen waren. Auch nicht schlecht.
Wohin sollte er nun gehen? Nach Hause konnte er nicht, schließlich wähnte Hilde ihn auf der Arbeit. Also spazierte er durch den Park, schlenderte ein Stück an den hübschen Villen Richtung Sonnenberg entlang und kehrte schließlich zurück in die Innenstadt. Ein Blick auf die Uhr zeigte, dass der Dienstschluss nahte. Aber wie konnte er so nach Hause zurückkehren, wo er nichts zu essen bekam? Sein Magen machte sich schon wieder bemerkbar. Sollte er noch mal stehlen gehen? Das letzte Mal war er mit einem blauen Auge davongekommen. Was, wenn er nun erwischt würde? Nein, er musste seine Taktik ändern. Wo bekam man sonst noch gutes Essen, ohne dafür bezahlen zu müssen? Als Zechpreller in einem Restaurant. Wunderbar. Die Abenteuerlust stieg in ihm auf und mehrte sich fruchtbar mit jedem Gedanken an ein gutes, kostenloses Essen. Hatte nicht in der Nähe der Wilhelmstraße dieser neue, schicke Italiener aufgemacht? Willi hatte das Restaurant unter alter Leitung einmal besucht. Er kannte die Räumlichkeiten und wusste, dass es in der Herrentoilette ein Fenster gab, aus dem man leicht klettern und abhauen konnte. Es wäre einfach. Lange konnte es nicht mehr dauern, bis das Restaurant öffnete. Willi zog sein Handy heraus und meldete seiner Frau, dass er Überstunden machen müsse.
Am Restaurant angekommen stierte Willi gierig durch die Scheibe, wie eine hungrige Katze ins Goldfischglas. Er trat ein, nahm Platz und studierte die Karte mit den geradezu paradiesischen Spezialitäten. Zur Vorspeise bestellte er sich Bruschetta und die Scampi in Knoblauchsoße, dann Ravioli mit Steinpilzfüllung und Sahnesoße, als Hauptspeise gegrillte Lammkoteletts und zum Nachtisch eine große Portion Panna Cotta mit Früchten. Dazu genoss er einen herrlichen Montepulciano DAbruzzo, den Abschluss bildete ein italienischer Kräuterschnaps. Langsam wurde es Zeit, die Toilette aufzusuchen. Er stand auf, und fragte den Kellner mit unschuldigem Blick nach dem Weg. Vor den Toiletten angekommen, bemerkte er zu seinem Unglück, dass man umgebaut, und die Toiletten vertauscht hatte. Wo immer die Herrentoilette gewesen war, prangte nun das Wort Ladies in goldener Schrift an der Tür. Willi gab die Hoffnung nicht auf, vielleicht gab es in der neuen Herrentoilette ja auch ein Fenster. Er öffnete die Tür und wurde bitter enttäuscht. Willi hielt inne und blickte auf das Ladies-Schild nebenan. Er zögerte. Es war kaum jemand im Restaurant. Wem würde es auffallen, wenn er die Damentoilette betrat? Es fiel der Toilettenfrau auf, die neben einem Schälchen mit Kleingeld saß, Zeitung lesend, unter dem Fenster, das ohnehin vergittert war. Überhaupt sah alles ganz anders aus, als er es in Erinnerung hatte. In ihm keimte der Verdacht auf, dass er irgendetwas verwechselt hatte. Kriminelle haben es schwer, dachte sich Willi mit einem Seufzen. Mit ungutem Gefühl im vollen Magen setzte er sich wieder an den Tisch, ließ seinen Blick durch das Lokal schweifen. Zur Tür war es kein langer Weg. Aber was dann? Dieser agile, sportliche Kellner würde ihn sofort eingeholt haben. Vor dem Restaurant schlenderten viele Leute vorüber. Ein Taxi stand in Reichweite, doch würde es auch losfahren, wenn man ihn verfolgte? Eine Frau ging mit ihren Hunden spazieren, ein Mädchen stand neben ihrer Vespa und plauderte mit einer Freundin, ein alter Mann fütterte Tauben.
Moment mal, eine Vespa! Vermutlich hatte das Mädchen gerade losfahren wollen, als es die Freundin traf, denn der Zündschlüssel steckte. Willi schaute zu dem Kellner, der gerade hinter der Bar Gläser abtrocknete. Als er ihm den Rücken zuwandte, stürzte Willi los. Er riss die Tür auf, rannte auf die Straße, warf das Mädchen beiseite und packte die Vespa. Während er mit der Freundin des Mädchens rangelte, zündete er bereits und schaffte es schließlich, sich freizukämpfen. Untermalt von italienischen Flüchen und empörten Rufen der Passanten trat Willi die Flucht an. Er raste die Straße entlang, Richtung Wilhelmstraße. Er schnitt einen BMW, der mit lautem Hupen antwortete, und überholte eine grüne Ente. Hinter ihm ertönte bald eine Polizeisirene. Willi hatte keine Ahnung, ob sie ihm galt. Er gab Gas, steuerte die Rhein-Main-Hallen an, bog von der Straße ab und hoppelte schließlich über den Rasen der Reisinger-Anlage, von dem einige Jugendliche erschrocken aufsprangen. In einer Ecke ließ Willi die Vespa fallen und rannte zu Fuß weiter. Hatte er seine Verfolger abgeschüttelt?
Willi stürmte über den ersten Ring, in den Bahnhof hinein und suchte Schutz in der Menge einer riesigen Reisegruppe. Ständig blickte er zum Haupteingang, ob nach ihm gesucht wurde, doch nichts passierte. Als er vermutete, dass die Luft endgültig rein war, setzte er sich auf eine Bank und ließ den Tag Revue passieren. Er war bis heute ein rechtschaffener Mann gewesen, noch nie hatte er sich etwas zuschulden kommen lassen. Und nun hatte er gestohlen! Erst eine Kleinigkeit, dann mehr, dann ein ganzes Menü und zum Schluss noch ein Fahrzeug. Wie weit war es mit ihm gekommen? An nur einem Tag, aus Hunger und der Angst, nicht überleben zu können! Weil man ihm das genommen hatte, was ihm im Leben am liebsten war: gutes Essen! Wie weit musste er noch gehen, damit er sein altes, friedliches Dasein wiederbekam?
Ihm stand der Sinn nach Rache an der Person, die ihn so weit gebracht hatte. Er verspürte die Lust, Hilde in den Keller zu sperren, an einen Stuhl zu fesseln und sie mit Möhren zu füttern, bis sie platzte. Sie zu foltern mit einem Büschel Petersilie zu kitzeln, bis sie sich totlachte. Ach was, diese Frau besaß so wenig Humor, dass sie auch dabei nicht lachen würde. Besser er erschlug sie gleich mit einer Familienpackung Tiefkühlspinat. Aber Mord? War das nicht eine Nummer zu groß für ihn? War er dazu fähig? Nein, er würde das nicht können. Zumindest nicht eigenhändig.
Willi starrte ins Leere und dachte nach. Ihm fiel Matze ein, sein alter Schulfreund. Er konnte ihm sicher helfen. Es würde nicht billig werden, sicher nicht. Aber Matze war ein echter Profi. Wenn der seine Arbeit getan hatte, wäre Willi frei, und könnte wieder essen, was er wollte. In Wahrheit liebte er das Essen mehr als Hilde. Weit, weit mehr. Matze wohnte nicht weit vom Bahnhof entfernt. Willi machte sich sofort auf den Weg. Jetzt musste getan werden, was schon lange fällig war. Als er vor dem prachtvollen Altbau stand, in dem Matze lebte und arbeitete, hielt Willi noch einmal inne und fragte sich, ob er wirklich das Richtige tat. Doch dann drückte er entschlossen die Klingel. Während er darauf wartete, dass man ihm öffnete, betrachtete er das Schild am Hauseingang.
Matthias Herzlich
Scheidungsanwalt
17. Sep. 2013 - Gabi Thomas
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