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Der Rosengarten Europa
von Thomas Neumeier

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
46 Beiträge / 49 Interviews / 102 Kurzgeschichten / 2 Artikel / 136 Galerie-Bilder vorhanden
Gaby Hylla Gaby Hylla
© http://www.gabyhylla-3d.de
Alle Dinge von Bedeutung haben einen Namen. Erst ein formvollendeter verschafft Dingen Glanz, ein Gewicht und eine Gestalt. Deshalb gibt man auch unbedeutenden Dingen einen Namen, wenn man ihnen aus Gründen des Selbstzwecks oder des Eigennutzes Glanz, Bedeutung und Gewicht einverleiben möchte. Dieser Rosengarten, durch den ich so gerne spaziere und meine Lieder und Gedichte rezitiere, trägt den Namen Europa. Er ist bedeutsam und gewiss kein Projekt, dem man mit einem Namen künstlich Gewicht oder Gestalt geben müsste. Nein, Europa war schon immer von Bedeutung. Sogar von immenser Bedeutung. Vor allem für seine Rosen.
Es ist ein sehr schöner Garten. Sonne und ausgewogener Regenfall waren ihm nicht immer beschieden gewesen, doch seit inzwischen schon langer Zeit erfreuen sich die Beete guter Pflege und sorgfältiger Bewässerung. In Europa wachsen völlig unterschiedliche Rosen. Da sind zum Beispiel die weißen – sattsam und leuchtend in der Sonne, ausladend und fast überall präsent. Sie umfassen viele Beete in Höhen und Senken, verpflichten sich zur Zierde auf Mauerläufen und schmücken kunstvolle Rundbögen und Säulen. Ein zarter Duft von Frühlingsflieder umgibt sie, wo immer man ihnen begegnet. Deutlich zurückhaltender sind die schwarzen Rosen – zierlich und unaufgeregt, doch aufgrund ihrer Farbe nicht weniger auffällig und schön. Sie betten und hofieren ihre weißen Vettern und verleihen ihnen damit noch mehr Glanz und Kontrast. Düfte von Honig, getrocknetem Heu und frisch gemähtem Gras fliegen mit ihnen einher. Die gelben und orangen Rosen – weitere Vettern der voran genannten, leuchten in der Farbe der Sonne und des Morgenrots, duften nach Sommer und frischem Quellwasser und schlingen und klettern weit und fröhlich sämtliche Mauern hinauf, die sie finden können. Von ihnen umschmeichelt, verehrt und in allen Belangen unterstützt, gedeien die purpurnen Rosen mit dem Farbenspiel des Abendhimmels und den Düften von Enzian und Bergkräutern, dezent und würdig, erhaben und ungebrochen. Auf den Höhen sprießen blaue Rosen, hoch wie Bäume mit Blüten in der Farbe des Sommerhimmels und so umfassend als möchten sie einst die Sonne selbst umarmen. Ein satter Duft von Efeu und Baumharz geht von ihnen aus, und zu ihren Füßen unter ihren Blütendächern wachsen Heidekräuter und Wiesenblumen. Dominant und gleichwohl demütig wie nur die Poesie es sein kann, muten die roten Rosen an. Sie gedeihen in den Tälern, in den kleineren Beeten umschart von den anderen, und auf luftigen Pfaden, welche die Täler mit den Höhen verbinden. Ihr Duft ist gestaltgewordene Liebelei, mit der sie ihre Nachbarn und Passanten erfreuen und beglücken. Bis zu den Höhen ihrer blauen Vettern lustwandeln sie hinauf, necken und kabbeln sie und schenken ihnen damit Inspiration und Kraft. Mit Lust und Wonne spaziere ich schon seit so langer Zeit durch diesen herrlichen Garten, und so bekümmert mich auch sein neuerlicher Verfall.
Als mir der Schwund an Glück erstmalig ins Auge stach, war er keineswegs omnipräsent. Die meisten Rosen wuchsen noch stolz und unbelastet, zumindest im überwiegenden Teil der Beete. Nur an den Beeträndern entdeckte ich mehr und mehr schwache, gebeutelte, unbewässerte oder gar unachtsam zertretene Rosen. Ich versuchte dann, sie mit meinen Liedern und Gedichten wieder aufzurichten. Ich wollte sie stärken und erfreuen. Doch das wollte mir nicht gelingen. Sie verlangten nach Wasser, Fürsorge und Pflege, und ich konnte ihnen nichts davon geben.
Einstmals hatte jedes Beet seinen eigenen Gärtner gehabt. Männer und Frauen mit Sachverstand, die sich mit Hingabe um ihre Rosen gekümmert haben. Sie waren geschult, die Bedürfnisse der ihnen zugeteilten Sprößlinge zu durchschauen und die nötigen Maßnahmen zu ergreifen, ihren Wuchs nicht zu behindern, sondern zu befördern. Abends saßen die fleißigen Gärntersleute in trauter Runde beisammen und lachten und diskutierten über ihre Schützlinge und freuten sich gleichsam über die Erfolge der Anderen. Sie schöpften Kraft und Zauber aus der Vielfalt des Gartens und gaben das an ihre Beete zurück. Sie staunten über die ungestümen blauen Rosen, die inspirierenden roten, die kultivierten schwarzen, die strahlenden gelben und orangen, die so prächtig zierenden weißen und die bedachtsamen purpurnen. Und sie hoben neue Beete aus und füllten sie mit bester Erde, um den Garten zu erweitern und zu verschönern.
Eines Tages aber setzte eine Veränderung in ihren Gemütern ein. Die Gärtner scharten sich zusammen und berieten, wie sie ihre Arbeit effizienter umsetzen könnten. Aus Gründen, die ich nicht verstehe, waren sie müde geworden, träge und bequem. Vielleicht auch nur allzu ehrgeizig und gierig. Ich weiß es nicht. Sie diskutierten Maßnahmen, wie ein Gärtner zwei oder gar mehrere Beete zugleich pflegen könnte, damit den übrigen Gärtnern mehr Zeit für andere Dinge bliebe. So gründeten die Gärtner eine Gilde. Und um dieser Gilde Macht, Glanz und Bedeutung einzuverleiben, gaben sie ihr einen Namen: Die Europäischen Umtriebigen nannten sie sich, kurz die EU.
Die neue Gärtnergilde, die EU, machte es sich zur Aufgabe, den Garten zu verändern. Seinen Glanz wollte sie unangestastet lassen, versprachen sie mit hehren Worten, doch sollte dieser einfacher und bequemer zu erhalten sein. Sie holten deshalb weitere Gärtner und andere Gesellen in ihre Gilde, bestrebt, den europäischen Garten mit Effizienz und Arbeitsteilung zu richten. Fortan lenkten sie ihre Aufmerksamkeit weg von den Beeten und hin zur Gestaltung einer großen Gartenlaube, wo sie diskutieren, Beschlüsse fassen und bei entsprechenden Anlässen feiern wollten. Aus der Gartenlaube wurde ein gewaltiges steinernes Monument. Ein mächtiges, über alles andere dominierendes Mauerwerk, das inzwischen zahllose Gärtner beherbergt, die noch nie eine Rose angefasst haben, geschweige denn begreifen, welch süßer Zauber von den Beeten ausgeht.
Die EU kamen schon bald zu der Einsicht, dass es große Anstrengungen bedürfe, all die unterschiedlichen und so vielfältig pflegebedürftigen Rosen zu hüten, zumal diese alle recht eigenwillig ihren Wuchs durchsetzten. Diese Form von Individualität gefiel den Gärtnern plötzlich nicht mehr, und so suchen und forschen sie seither nach einem speziellem Dünger und anderen Mitteln, die Rosen einander anzugleichen. Sie wollten eine neue Farbe für die Rosen finden. Eine einheitliche Farbe und Züchtung, die unkomplizierter zu pflegen wäre. Nacht für Nacht streuten sie seitdem ihre Mittelchen aus, um die Rosen zu zähmen und nach ihrer neuerlichen Vorstellung zu formen. Die weißen sollten nicht mehr auf den Mauern und den Bögen wachsen, sondern wie alle Anderen nur noch in ihren Beeten.
Die schwarzen sollten ihre beruhigende Schönheit absondern, die gelben und orangen weniger leuchten und von den Mauerwänden ablassen, die blauen nicht so weit in den Himmel hinaufwachsen, die roten weniger poetisieren und die purpurnen weniger Würde ausstrahlen. Sie sollten eine gemeinsame Farbe annehmen und zudem geordneter, gleicher und übersichtlicher wachsen, damit es den Gärtnern leichter fiele, die Zucht zu kontrollieren und in die gewünschten Bahnen zu lenken.
Nicht alle Rosen sind von Natur aus dazu imstande, diesen seltsamen Wünschen der Gärtner nachzukommen. Etliche widersetzten sich, weil sie stolz und froh waren mit der Form und Farbe, die ihnen die Natur geschenkt hat. Solche entwurzelten die Gärtner kurzerhand und verpflanzten sie in sonnenärmere Beete, wo ihnen kein gesundes Wachstum mehr beschieden war und sie in Vergessenheit gerieten. Über manche Regionen des Gartens spannten sie künstliches Sonnenlicht oder stellten Schirme auf, um ganzen Tälern und ihren Beeten nur noch ein gefiltertes Sonnenlicht zukommen zu lassen. Was sie sich davon versprachen, weiß ich nicht. Dem Wasser der künstlichen Bewässerungsanlagen mischten sie ihre Mittelchen bei, um die neue Züchtung schneller voranzutreiben und widerspenstige Gewächse zielgerichtet ausfindig zu machen.
Lange habe ich die EU bei ihrem mir unverständlichen Treiben beobachtet, und meine Sorge wuchs. Die einzelne Rose, gleichgültig ihrer Form und Farbe schien ihnen nichts mehr zu bedeuten. Ungefällige Wüchse rissen die Gärtner einfach heraus, anderen verweigerten sie die Bewässerung oder trennten sie mit Draht und Stein von ihren Vettern, schlossen sie aus und schwiegen sie tot. Die einst prächtigen Farben der Rosen verblassten, und mit ihren Farben verschwanden auch ihre Düfte, ihre Anmut, ihre Pracht und Poesie. In ihrem gewaltigen Gartenpavillon feierten die EU regelmäßig Feste, doch frage ich mich, was sie feiern. Ich sehe keinen Anlass und auch keinen Nutzen dafür. Die Gärtner scheinen vergessen zu haben, wozu sie da sind und wozu sie tatsächlich gebraucht werden. Es kümmert sie nicht mehr. Sie kümmert nur noch ihre Bequemlichkeit in ihrem selbsthuldigenden Bauwerk, aus dem sie die Rosen nur noch aus der Ferne schauen.
Die Gärtner, denen dieser Tage die Pflege der Rosen auferliegt, kommen ihrer Pflicht weder mit Liebe noch mit Sorgfalt nach. Oftmals entdeckte ich weggeworfenen Müll zwischen den Beeten. Manch einer der Gärtner wagte es sogar, seinen Abfall zwischen den Rosen zu vergraben. Und wieder andere reißen des Nachts heimlich ganze Scharen von Rosen aus, um sie fortzuschaffen und zweckzuentfremden. So manch eine Rose sticht mit ihren Dornen, sobald sie merkt, dass man ihr Unrecht tun will. Doch auch dazu wissen die EU eine probate Lösung: Die neue Züchtung soll einfach keine Dornen mehr haben. Mit den richtigen Mittelchen lässt sich das über kurz oder lang bewerkstelligen.
Früher verstanden sich die Gärtner als Freunde und Förderer des Gartens. Sie haben den Rosen mit Lust und Leidenschaft gedient. Inzwischen scheinen sie zu glauben, die Rosen hätten ihnen zu dienen; hätten ihnen gefällig zu sein, hätten ihre Lieder zu singen und ihre Farbe anzunehmen. Auch sprechen die Gärtner immer weniger von Europa, sondern nur noch von den EU. Stolz und voller Bewunderung rufen sie ihren selbstgewählten Namen aus. So als sei das hässliche Bauwerk mit seinem aufgeblasenen Verwaltungsapparat die Krone des Gartens und wichtiger als seine Rosen.
Als der Tag kam, an dem mich die Verelendung des Gartens so sehr schmerzte, dass ich bitterlich weinte, sammelte ich gleichermaßen Kraft. Ich wählte die schönsten und kraftvollsten meiner Lieder und Gedichte aus und trug sie auf dem Tablett meines Herzens in den Garten hinaus. Ich sang und klagte so laut es mir möglich war, ignorierte die Gärtner um mich herum – mit ihren Spritzen und Schläuchen, die sie ins Erdreich jagten, ihren Spitzhacken und Schaufeln, mit denen sie ungefällige Rosen isolierten, und ihren lauten Maschinen, mit denen sie die Beete unterhöhlten, um sich an den Wurzeln der Gartengewächse zu vergehen. Viele Rosen lauschten meinen Worten interessiert, doch die meisten waren von den Maschinen und von dem Gegröhle der Gärtner zu sehr abgelenkt, um meine Warnungen und Hilfeschreie zu verstehen. Die EU versprachen ihnen gutes Wasser und eine bessere Sonne, und die Rosen glaubten ihnen. Sie wollten ihnen glauben. Das liegt in ihrer Natur. Rosen wollen nur blühen, und solange man ihnen eine prächtige Blüte aus ihren Knospen in Aussicht stellt, geben sich die meisten zufrieden.
Jene, die sich nicht damit zufrieden gäben, würden spätestens mit der neuen Züchtung zu einem Einsehen gezwungen werden. Dafür würden die Gärtner sorgen.
Viele Rosen haben mich gehört und haben verstanden, worin meine Sorgen liegen. Doch die EU berauben sie zunehmend auch ihrer Sprache und ihres Verstandes. Die neue Züchtung soll auch ihre Düfte und ihre übrigen Ausdrucksformen anpassen, und bis dahin sondern sie widerspenstigen Rosen aus, versagen ihnen gesundes Erdreich und strafen sie mit Brackwasser bis sie verstummen und ihre Blüten in sonnenlosen Ecken verkümmern.
Mittlerweite wüteten die Gärtner fast jeden Tag mit ihren Maschinen, ziehen unförmige Drahtgehäuse hoch und verschandeln den Garten systematisch. Den Rosen versprechen sie weiterhin bestes Wasser, besten Dünger und gesündeste Erde, und die Rosen, unlängst geschwächt von der langen Behandlung der Mittelchen und Spritzen nehmen es hin, unfähig sich noch zu wehren.
„Alles wird gut!“, werden die EU nicht müde zu versichern, während weiterhin Beete unterhöhlt, Wasser verunreinigt und Müll vergraben wird.
„Eine neue, gemeinsame Farbe und ein gleichmäßiger Wuchs ist das Beste für alle Rosen und Gärtner!“, prangt auf ihren Maschinen und Werkzeugen, während der Glanz und der Frohsinn im europäischen Garten mehr und mehr schwindet.
„Widerspenstige Wüchse müssen bestraft werden!“, proklamieren sie unentwegt, um den Aushub ganzer Beete zu legitimieren.
„Subversives Liedgut, Poesie und Sprache sind eine Gefahr für den Frieden!“, verbreiten sie lauthals, um zu rechtfertigen, mir und anderen das Singen und Dichten zu verbieten.
Mit diesen Parolen versuchen sie die Rosen in einen stummen Dämmerschlaf zu wiegen. Ich hingegen bin nicht müde geworden, verzweifelt meine Lieder und Gedichte hinauszutragen. Doch der Maschinenlärm und die Befehlsschreie der Gärtner übertönten meine Poesie. Jüngst haben die EU eine strenge Verordnung eingeführt, das Dichten und Singen im europäischen Garten zu verbieten. Sie wollten mir damit meine Stimme und mein Herz nehmen, damit die Neuformung des Gartens schneller voranginge und nicht länger gestört würde. Allenfalls Lieder und Gedichte, die sie vorab genehmigten, hätte ich noch vortragen dürfen. Lieder ohne Herz und gefüllt mit ihren Parolen und Diktaten. Mit anderen Liedern und Gedichten durfte ich den Garten nicht mehr betreten. Sie verbannten mich und verboten mir die Rückkehr.
Doch ich weigerte mich, dem Garten fernzubleiben, den ich so sehr liebte.
Weigerte mich, meine Stimme verstummen zu lassen, die noch so viel zu sagen und zu warnen hatte. Weigerte mich, das traurige Schicksal des Rosengartens Europa hinzunehmen, der schon bald allen Glanz und alle Pracht eingebüßt haben würde.
Ich sang und klagte weiter. Da sperrten sie mich ein.
Und so sitze ich heute als Verbannte in einem einsamen Turm und schaue aus meinem Fenster auf den einst so blühenen Garten Europa hinaus, wo sich zwischen monströsen Maschinen und unter künstlichen Sonnen eingepfercht und eingeschüchtert die Rosen im rauen Wind neigen und traurig eine neue Farbe annehmen.

03. Okt. 2013 - Thomas Neumeier

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