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Lucia im Schnee
von Tanja Bern

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
46 Beiträge / 49 Interviews / 102 Kurzgeschichten / 2 Artikel / 136 Galerie-Bilder vorhanden
Crossvalley Smith Crossvalley Smith
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Der Schnee türmte sich zu Bergen auf und Lucia fragte sich, ob die Prozession überhaupt stattfinden konnte bei diesem Wetter.
„Kind, mach dich bereit!“, rief ihre Mutter.
Vor Aufregung klopfte Lucias Herz wie ein kleiner Specht gegen ihren Brustkorb. Schon so lange wünschte sie sich, das Luciafest anführen zu dürfen. Aber ihr Name hatte diesen Wunsch bisher jedes Mal zerschlagen. Gerade weil sie Lucia hieß, wollte jeder davon Abstand nehmen. Warum sagte man ihr nicht.
Heute war es dennoch soweit! Ihr lang gehegter Traum erfüllte sich, weil keine der anderen Mädchen in den letzten Jahren Glück für das Dorf bringen konnte. Selbst der Spätherbst hatte so sehr gewütet, dass nun die Bergkuppe des schützenden Hügels zu einer Falle geworden war. Ein Sturm hatte dort die Tannen regelrecht umgeknickt und nichts bot den Schneemassen mehr Einhalt. Die Menschen blickten mit Furcht auf die steile Anhöhe. Lawinen würden ihr Zuhause verschütten, wie es vor dreißig Jahren schon einmal geschehen war.
Nun hatte man Lucias Drängen nachgegeben. Sie vermutete, dass man in ihr den letzten Funken Hoffnung sah, denn wenn alle versagten, so würde sie vielleicht endlich das Licht zurückbringen, so wie man es von diesem Tag erhoffte.
Lucia schlüpfte in das brautähnliche Kleid und band sich das rote Band um die Taille. Bei dem Kerzenkranz müsste ihre Mutter behilflich sein und man setzte ihn meist auch erst auf, wenn die Prozession begann.
Hier im Dorf mochte man es noch anders gestalten, als in den Städten. Lucia hatte gehört, dass dort die moderne Zeit immer mehr Einzug hielt. An ihrem Heimatort, der sich fernab jeder Gesellschaft befand, wirkte diese Strömung nicht. Hier brannten noch die Feuer in den Kaminen, die Mädchen stickten noch Verzierungen in die Tischdecken und man wurde schon als Kind einem Anderen versprochen.
Lucia war diesem Schicksal entschlüpft, denn keiner der Jungen war noch frei. Sie fragte sich, ob sie später als alte Jungfer enden würde, oder ob sie stattdessen auswandern würde. Letztere Vorstellung fiel ihr schwer, ihr Herz gehörte diesem Ort, diesen Bergen.
Lucia sah versonnen aus dem Fenster. Das Skandengebirge strebte wie eine fremde Welt zum Himmel, tief verbunden mit der Erde. Dort, so sagte man, lebten noch immer die Geister der Älvor, das alte magische Volk, das einst hier regiert und gelebt hatte. Ihre Prozession würde zu einem dieser Berge führen und sie repräsentierte in diesem Jahr die heilige Lucia in ihrem kleinen schwedischen Dorf.
Lucia riss sich von dem Anblick los und lief eilig zur Tür in die gemütliche Küche. Ihre Mutter wartete bereits mit dem Kranz aus Kerzen, den sie tragen würde. Anders als erwartet, sah sie keinen Stolz, sondern Besorgnis im Blick ihrer Vertrauten.
„Mutter, was ist denn?“
„Eine echte Lucia sollte nicht zur heiligen Lucia gemacht werden“, sagte sie leise.
Lucia strich ihrer Mutter zärtlich eine verirrte Haarsträhne hinter das Ohr. „Ach Mutter, nun sag doch nicht so was.“
Als sie die Tür öffnete, wehten ihr bereits erste Flocken entgegen. Ihr Vater hatte den Schnee vom Weg frei geräumt und stellte nun die Schaufel beiseite, sah sie bewundernd an. Lucia fror in ihrem leichten Kleid, aber sie weigerte sich, die Reinheit dieses Gewandes zu bedecken.
Am Dorfbrunnen warteten die Menschen auf ihr ausgewähltes Mädchen und Lucia schritt ehrwürdig auf sie zu. Andere Maiden versammelten sich um sie, kicherten und alberten herum, doch Lucia konnte sich dem heute nicht anschließen. Sie war die Lichtbringerin zur bevorstehenden Wintersonnenwende. Nichts würde sie aus ihrem hohen Gefühl reißen, das sie in sich trug, wie einen Schatz.
Wind pfiff durch die kleinen Häuser und bauschte die Kleider der Frauen auf. Trotzdem hielten die Kerzen stand, als würde ein Zauber auf ihnen liegen. Ihre Mutter setzte ihr den schweren Kranz auf den Kopf, reichte ihr zusätzlich eine Handkerze und entließ sie mit einem gehauchten Kuss.
Lucia kannte den Weg. Schon so oft war sie ihn gegangen, hinter den anderen Mädchen, nur als Begleiterin. Heute erfüllte sich ein Traum für sie.
Auf dem Waldweg beruhigte sich das Wetter. Die kahlen Bäume ließen nur vereinzelte Flocken zu ihnen hindurch und die hohen Tannen, die dazwischen wuchsen, behüteten sie vor dem Wind.
Das Flüstern der Mädchen verstummte. Lucia warf einen letzten Blick auf den großen Julbaum, der in der Mitte des Dorfes aufgebaut war. Er verblasste im Licht der Dämmerung.
Sicheren Schrittes lief Lucia den Pfad entlang. Der Kranz aus Kerzen auf ihrem Kopf fühlte sich vertraut an, als trüge sie in nicht zum ersten Mal. Das Licht in ihrer Hand flackerte leicht. Irgendwo dumpf in ihrem Inneren spürte sie einen leichten Schmerz am Kopf, doch der verging so rasch, wie er gekommen war. Immer weiter führte sie die Prozession zum Fuß der Berge. Ruhe umgab sie, nur ihre eigenen Tritte raschelten auf dem Schnee. Sie wandte sich zaghaft um − und bemerkte, dass sie allein war.
Nebel wallte hinter ihr auf, verbarg den Wald und die Berge. Die Mädchen, die Dorfleute blieben verschwunden, auch als sie ein Stück des Weges zurückging. Niemand antwortete, als sie leise rief.
Was geschah hier?
„Lucia.“
Eine sanfte Stimme zerteilte die erdrückende Stille. Sie fuhr herum und schaute auf einen Hang. Dunkel lag er vor ihr, mit blassen Schemen, die wie Geister dort ausharrten.
„Wer ist da?“, fragte sie vorsichtig.
Die Kälte kroch ihr nun unter das Kleid, eine leise Angst lähmte sie.
Als ein junger Mann auf sie zutrat, blickte sie ihm verwundert entgegen. Sie klammerte sich an ihre Handkerze.
„Bist du nicht hier, weil du uns suchtest, Lucia?“
Das schwarze Haar fiel ihm in Wellen um das Gesicht, er blickte mit freundlichem Ausdruck auf sie hinunter. Der Fremde überragte sie sicher um eine Kopfeslänge.
„Ich führe das Luciafest an“, hauchte sie. „Ich … ich suche niemanden.“
„Du weißt, dass das nicht wahr ist.“
Lucia wich zurück. „Wo sind die Anderen?“ Furcht schlich sich wie ein Schatten in ihr Inneres.
„Hier ist niemand. Nur wir beide und die Älvor auf dem Hang.“
Die Älvor?!
„Aber … aber sie sind Geister!“ Tränen schossen ihr in die Augen.
Der Mann schüttelte den Kopf. „Wir sind real, so wie du, nur auf andere Weise.“
Ängstlich wagte sie einen Blick auf die Bergkuppe. Die vom Sturm zerrissenen Bäume lagen wie Kriegsopfer darnieder, von Schnee bedeckt. Dazwischen standen Gestalten, dessen Gesichter sie nicht ausmachen konnte.
„Wir warten schon sehr lange auf dich, Lucia.“ Seine Fingerspitzen strichen sachte über ihre Wange. In seinen dunklen Augen lag ein zartes Glimmen. „Sie haben dich ferngehalten, weil sie sich vor uns fürchten. Doch in diesem Jahr erkannten sie endlich, dass niemand seinem Schicksal entfliehen kann.“
„Und … und was ist mein Schicksal?“
„Du gehörst hierher, Lucia! Deine Mutter gebar dich am Fuß dieses Berges und wir retteten ihr das Leben. Aber sie wusste, dass unser Zauber dich an uns band.“
Lucia hatte von dieser Geschichte noch nie zuvor gehört! Sie war hier geboren und ihre Mutter hatte dabei um ihr Leben gerungen? „Ich weiß nichts, von dem, was du sagst“, entgegnete Lucia leise.
Tief in ihrem Inneren hörte sie flüsternde Stimmen.
Bring uns das Licht zurück! Lass uns nicht im Stich!
„Was … was wollt ihr denn von mir?“
Der Mann, dessen Gesicht ihr zeitlos erschien, beugte sich zu ihr, und sie wagte nicht zurückzuweichen. Er hauchte einen Kuss auf ihre Stirn. „Zünde unsere Kerzen an. Gib uns das Licht zurück.“
„Nur das?“
„Und schenke uns dein Herz.“
Lucia wich entsetzt zurück, doch der Fremde hob beschwichtigend die Hände. „Nur im übertragenen Sinne gemeint!“
Langsam hob sie die Kerze, dessen Flamme unauslöschlich brannte, entzündete den Docht an der Kerze, die in seiner Hand erschien. Sein warmes Lächeln drang tief in ihr Herz und auch wenn sie jung war, konnte sie seiner Anziehung nicht entfliehen. Heimlich wünschte sie sich, dass solch ein Mann einmal auf sie wartete.
Als würde er ihre Gedanken lesen, hielt er inne und betrachtete sie. Fast widerwillig löste er den Blick, wandte sich zu einer der Gestalten im Nebel und entzündete deren Kerze. Als das kleine Feuer mit einem leisen Zischen aufflammte, konnte sie plötzlich das zarte Gesicht einer Frau erkennen. Diese drehte sich zur Seite, um die Kerze ihres Nebenmannes anzuzünden und binnen kurzer Zeit erstrahlte die Bergkuppe von den Lichtern, die sich immer weiter ausbreiteten. Wie Glühwürmchen schwebten sie über den zerstörten Bäumen.
Von weit her hörte Lucia plötzlich die Stimme ihrer Mutter. Der Mann, von dessen Anblick sie sich kaum losreißen konnte, verblasste, und sie sah das Bedauern in seinen schönen Augen.
„Lucia!“
Abrupt wechselte die Sicht und für einen Augenblick wurde es dunkel, bis Lucia merkte, dass ihre Lider geschlossen waren. Verblüfft öffnete sie diese und sah in den verzweifelten Blick ihrer Mutter, die das Mädchen erleichtert in ihre Arme nahm.
„Was ist denn passiert?“
„Du bist über das lange Kleid gestolpert und hast dir den Kopf an einem Felsen gestoßen!“
Dann war alles nur ein Traum?
Traurigkeit breitete sich in ihr aus und sie konnte das Gesicht des Mannes nicht aus ihrer Erinnerung vertreiben. Sie musste Gewissheit haben! „Mutter, bin ich hier geboren? Hier am Fuße der Skandenausläufer?“
Als hätte sich ihre Mutter verbrannt, wich sie zurück. „Komm, wir müssen sehen, ob du verletzt bist!“
„Aber die Prozession!“
„Du hast uns weit genug geführt, es muss reichen“, sagte ihre Mutter mit scharfer Stimme, die keinen Widerspruch erlaubte.
Lucia blickte auf den Hang, suchte unsicher nach den Älvor, nach ihm. Doch alles blieb dunkel und neblig. Ihre Kerzen waren erloschen und die Hände fühlten sich taub an, weil sie im Schnee gelegen hatten. Lucia unterdrückte ein Schluchzen, ihre heißen Tränen konnte sie nicht aufhalten.

Szenentrenner


Die Wintersonnenwende nahte und Lucia war jeden Morgen zum Fuß des für sie nun besonderen Berges gegangen, aber die Landschaft blieb still, schwieg im Kälteschlaf des Schnees. Trotzdem wollte sie nicht den Stimmen der Leute im Dorf glauben, die sie wahrscheinlich für verrückt hielten.
„Ich habe euch das Licht gebracht“, rief sie. „Ich habe euch … nein, ihm mein Herz geschenkt. Nun helft uns! Ein Schneesturm kündigt sich an und die drohende Lawine wird uns töten, denn der Schnee hat uns längst eingeschlossen.“
Tränen, wie aus Silber, rannen ihre Wangen hinunter und schmolzen den pudrigen Schnee zu ihren Füßen.
Mit einem leisen Seufzen fiel sie auf die Knie und senkte den Kopf. Als sich Schritte näherten, schaute sie auf und glaubte zu träumen. Ein Mann mit schwarzem Haar kämpfte sich durch den Schnee. Er trug einfache Kleidung, nicht einmal einen Beutel mit Habseligkeiten hatte er bei sich. Mit Augen wie aus Obsidian sah er auf sie herab. Lucia schnappte nach Luft, denn sie kannte ihn. Zitternd gesellte er sich zu ihr und lächelte erschöpft.
„Du … bist …!“ Mehr brachte sie nicht hervor.
Das übernatürliche Glühen in seinen Augen war fort und er schlang frierend die Arme um sich, sank zu ihr in den Schnee. „Ich ahnte nicht, wie kalt es für euch ist, wenn der Schnee kommt“, sagte er mit heiserer Stimme.
„Bist du …?“
„Ja. Ich kam zu dir, denn ich sah dein Herz. Und meines sah ich ebenso.“
Lucia hob die Hand, befühlte zart die kalte Haut seiner Wange. „Du bist wirklich“, raunte sie.
„Und du noch ein wenig jung, aber ich warte“, sagte er mit einem leisen Lachen.
„Dieses Dorf ist dem Tod geweiht“, flüsterte sie erstickt.
Er schüttelte den Kopf. „Mein Opfer war nicht umsonst. Sieh!“
Opfer? Was hatte er gegeben? Seine Unsterblichkeit?
Vor ihren Augen richteten sich die Bäume der Bergkuppe auf, als hätte der Sturm sie nie zerstört. Lucia verfolgte mit Erstaunen dieses Schauspiel und blinzelte verstört.
„Wie kann das sein?“
„Es ist so, Lucia. Nimm es an und frage nicht nach dem Zauber.“
„Wie nennt man dich?“, wollte Lucia leise wissen.
Er nahm ihre Hand, hauchte einen Kuss auf ihren Handrücken. „Der Name, den ich trug ist nur noch Nebel. Nenne mich Älvor, damit niemand je vergisst, von wessen Volk ich komme.“
„Dann komm. Ich werde meiner Mutter sagen, dass ich nun doch nicht als alte Jungfer enden werde.“
Sein melodisches Lachen hallte durch den Wald und als sich Lucia umwandte rauschten die Tannen im Wind und der Schnee haftete an ihren alten Stämmen, die keine Lawine durchlassen würden.

25. Dez. 2013 - Tanja Bern

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