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Schneeflöckchen Blutröckchen von Florian Gerlach
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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AGENTUR ASHERA
A. Bionda
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Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Sebastian öffnete die Tür des französischen Restaurants. Stimmengewirr und das Klirren von Gläsern vermischte sich mit dem Heulen des Windes. Der schwere Rotwein floss wie Lava durch seine Adern. Die Natur hatte bei der Erschaffung seines Körpers ein wahres Meisterwerk abgeliefert. Dunkelblonde Locken, die im Licht wie gesponnenes Gold wirkten, umrahmten ein fein geschnittenes Gesicht. Mit seiner athletischen Figur hätte er auch Michelangelo Modell stehen können. Seine strahlend blauen Augen hatten die Farbe eines Ozeans, auf dem sich die Sonne spiegelt. Es gab kaum eine Frau, die nicht nach wenigen Augenblicken darin ertrank.
Die dünnen Lippen verzogen sich zu einem diabolischen Lächeln. Der Vertrag in seiner Tasche garantierte ihm ein Leben im Überfluss. Die beiden Konkurrenten waren keine ernstzunehmenden Verhandlungspartner gewesen. Inzwischen gab es immer weniger Menschen, die ihm ebenbürtig waren. Irgendwann stolperte jeder über die Fallstricke der Moral oder verstrickte sich in den Fesseln seiner Gefühle. Das Leben war so viel einfacher, seit er sich von dem Ballast, den die Menschen Gewissen nannten, befreit hatte. Der skrupellose Manager war wie ein Raubtier im Dschungel der Zivilisation, das seine Gegner zerfetzte und sich nahm, was immer es wollte. Von dem nahegelegenen Weihnachtsmarkt drangen Fetzen eines alten Liedes an sein Ohr.
Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit?
Er hasste die Weihnachtszeit. Die Gefühlsduselei der jämmerlichen Versager ging ihm mächtig auf die Nerven. Als ob ein paar Tage geheuchelter Harmonie die Welt verändern würden! Der Siebenunddreißigjährige streifte sich die Lederhandschuhe über und schlug den Mantelkragen hoch. Dann machte er sich auf den Weg zum nächsten Taxistand. Der Schnee wirbelte um ihn herum, als wäre er in einer Glaskugel gefangen, die ein Kind unablässig schüttelte. In der weißen Pracht erkannte er einzelne rote Schneeflocken. Sebastian vermutete zunächst, dass sie das Licht der Ampel am Ende der Straße reflektierten. Als das Verkehrslicht umschaltete und immer mehr rote Flocken um ihn herumtobten, blieb er stehen und sah sich um.
Aber noch bevor er sich weitere Gedanken um das seltsame Phänomen machen konnte, zerschnitten die roten Schneeflocken seine fein geschwungenen Lippen. Blut quoll aus den Wunden und lief über sein Kinn Er schrie erschrocken auf und fuhr sich mit den behandschuhten Fingern über den Mund. Sofort bildete sich eine dünne Schneeschicht auf dem blutbesudelten Handschuh. Irritiert beobachtete er, wie einzelne Blutstropfen von den Schneeflocken aufgesogen wurden und sein warmer Lebenssaft durch die eisigen Adern der winzigen Kristalle strömte. Bald stoben blutrote Flocken in den Nachthimmel. Fragmente eines Liedes vermischten sich mit seinem Atem zu einer Melodie, zu der die Schneeflocken einen Reigen des Blutes tanzten.
Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit?
Weitere Flocken zerfetzten sein Gesicht, als wäre die Luft voller scharfkantiger Eissplitter. Immer mehr mit seinem Blut getränkte Schneeflocken stoben empor. Inzwischen drang eisige Kälte in seinen Mundraum. Seine rechte Hand war unter einer Schneeschicht verschwunden. Die Haut fühlte sich plötzlich seltsam wund an, als wäre der Handschuh mit grobem Sand gefüllt. Oder mit feinen Glasscherben. Einzelne Blutstropfen quollen heraus und tränkten den Bund seines weißen Hemdes.
Sebastian zwang sich zur Ruhe. Er war in einer Welt gefangen, die nur in einem Traum existieren konnte. Wenn er gleich die Augen aufschlug, würde er in seinem Bett liegen. Vielleicht konnte er sich sogar noch an den Namen des Flittchens neben sich erinnern. Meistens hatte er ihn allerdings schon vor dem Einschlafen wieder vergessen. Namen waren nur Buchstaben, die jemand willkürlich aneinandergereiht hatte, um den jungen Frauen so etwas wie eine Identität zu geben. Aber das war natürlich Blödsinn. Auch Hunde hatten Namen, ohne dass sie deshalb mehr waren als verlauste Fußabtreter.
Ein weiterer Schmerz in seiner rechten Hand riss ihn aus seinen Gedanken. Das Blut lief inzwischen in einem dünnen Rinnsal aus dem feinen Leder, das seine Hände normalerweise wie eine zweite Haut umschmeichelte. Er nahm die Fingerspitzen des Handschuhes zwischen die Zähne und zog die Hand mit einem Ruck heraus.
Fassungslos betrachtete er die Klauen, die einmal seine Finger gewesen waren. Schlimmer als der Schmerz, der kurz darauf wie eine Bombe in seinem Kopf explodierte, war die grauenvolle Erkenntnis, dass sich seine manikürten Finger in ein Stück blutiges Gewebe verwandelt hatten. Auf dem Handrücken hingen noch vereinzelte Hautlappen wie alte Stofffetzen. Die Fingerglieder sahen aus wie abgenagte Hähnchenschlegel.
In wenigen Sekunden war die verletzte Hand unter einer dünnen Schneeschicht verschwunden. Blutgetränkte Schneeflocken stoben immer wieder auf und wirbelten durch die Luft. Das Fleisch, das mit den roten Eiskristallen in Berührung kam, gefror binnen weniger Augenblicke. Wenn die Kälte sein Herz erreichte, würde es einfach zu einem gefühllosen Klumpen erstarren. Was es, wie böse Zungen immer wieder behaupteten, schon längst war. Die Schneeflocken rissen seine Adern auf wie Schläuche, die man mit rostigen Nägeln füllt. Bald war sein ganzer Unterarm taub. Als er einen Finger berührte, brach er ab und fiel zu Boden.
Sebastian spürte, wie die Kälte langsam in seine Schulter kroch und dabei jede einzelne Zelle seines Körpers in Eis verwandelte. Plötzlich musste er an die rothaarige Schönheit Celine denken, die ihn mit ihrer weißen Haut immer an eine Porzellanfigur erinnert hatte. Und die genauso zerbrechlich gewesen war. Nachdem sie ihm mit ihrer Unschuld das wertvollste Geschenk gemacht hatte, war sein Interesse an dem naiven Dummchen schnell erloschen. Die Schlampe hatte damals sogar bittere Tränen geweint, als er sie aus dem Schlafzimmer und seinem Leben geworfen hatte. Die Zurückweisung hatte ihre Seele zu Eis erstarren lassen. Als sie ging, hatten ihre Augen jeden Glanz verloren. Bei ihrem Abgang bewegte sie sich wie die Puppe, die sie für ihn immer nur gewesen war.
Ihre Leiche wurde vor genau einem Jahr mit aufgeschnittenen Pulsadern im Stadtpark gefunden. Ein kräftiger Wind hatte damals für Schneeverwehungen und unpassierbare Straßen gesorgt. Als man sie nach mehreren Tagen endlich fand, hatte sich ihr Körper in eine Eisskulptur verwandelt. Der Schnee, der sie in den ewigen Schlaf gebettet hatte, war von jenem unschuldigen Weiß, das man als Frau nur ein einziges Mal tragen durfte. Am Tag der Hochzeit. Natürlich hatte er ihr die Ehe versprochen. Wie so vielen anderen Frauen vor ihr. Versprechen waren für den Verführer aber nur weitere Schmeicheleien, mit denen er seine Gespielinnen bei Laune hielt.
Inzwischen spürte er, wie sich die Kälte langsam in seinem Brustkorb ausbreitete. Der rechte Arm war bereits vollkommen gefühllos. Rote und weiße Schneeflocken wirbelten um ihn herum, als tanzten sie zu der Melodie, die nur er hören konnte. Und an die er sich aus seiner Zeit mit Celine erinnerte.
Schneeflöckchen, Weißröckchen, wann kommst du geschneit?
Celine. Die Frau, der er einst ewige Liebe geschworen hatte. Und die gekommen war, um diesen Schwur endlich einzulösen. Erst jetzt erkannte er, dass der Schnee ihre Gestalt angenommen hatte. Die roten Schneeflocken waren mit dem Blut getränkt gewesen, das sie für ihn vergossen hatte. Schneller, immer schneller drehte sich die eisige Braut um seinen Körper, der inzwischen vor Kälte vollkommen erstarrt war. Dann presste sich seine verschmähte Geliebte in einer eisigen Umarmung an ihn. Sebastian spürte, wie die Kälte sein Herz erfasste. Bald würde es erfrieren. So wie ihre Seele in dem Moment erfroren war, als sie seine Worte der Liebe als das entlarvte, was sie in Wirklichkeit waren. Lügen.
Inzwischen konnte er sich nicht mehr bewegen. Schnee hüllte seinen Körper ein wie ein eisiges Tuch. In einer letzten Umarmung spürte er ihre kalten Lippen auf den seinen. Er erwiderte den Kuss. Als der eisige Hauch des Todes in seine Lungen strömte, verwandelte sich sein Herz endgültig in einen Eisklumpen. Celine hatte das Leben nicht mit ihm teilen können. Nun aber würde sie die Ewigkeit mit ihm verbringen. Alles war so, wie er es versprochen hatte. Zusammen würden sie jenseits der Zeit zu einem Lied tanzen, das nur für sie komponiert wurde.
Schneeflöckchen, Blutröckchen, nun kommst du geschneit!
Ein betrunkener Penner mit einer albernen Nikolausmütze wurde wenig später auf ihn aufmerksam. Sebastian stand wie eine Statue mitten auf dem Gehweg, die Arme in einer innigen Umarmung um den eigenen Leib geschlungen. Sein Körper war von einer dünnen Schneeschicht bedeckt. In den Reflektionen seiner blinkenden Mütze erkannte der Obdachlose rote Schneeflocken, die sich von dem erstarrten Körper lösten und in der Luft herumwirbelten. Aber davon würde er niemandem etwas erzählen. Auch nicht von dem Lied, das eine glockenhelle Frauenstimme sang.
Schneeflöckchen, Blutröckchen,
nun kommst du geschneit!
Du wohnst in der Hölle,
dein Weg ist nicht weit.
Der Mann betrachtete den Erfrorenen einen Moment. Dann zog er eine Schnapsflasche aus der Manteltasche und gönnte sich einen großen Schluck. Bevor er einfach weiterging, wünschte er ihm ein fröhliches Weihnachtsfest. Der verwahrloste Mann würde niemals erfahren, dass er der erste Mensch war, der Sebastian jemals fröhliche Weihnachten gewünscht hatte.
21. Dez. 2013 - Florian Gerlach
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