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Heimweh eines Cyborgs
von Christoph Marzi

Crossvalley Smith Crossvalley Smith
© http://www.crossvalley-design.de
–»The only excuse for making a useless thing is that one admires it intensely.«
Oscar Wilde

–000
Ein Schrei ist keine Entschuldigung, nein, ein Schrei, wenn er sich so anfühlt, wie meiner, ist eine Erinnerung. Er ist Furcht und Verzweiflung und Gewissheit. Ja, Letztere ist am schlimmsten, denn sie bleibt. Gewissheit also, und Erinnerung an das, was mich hierher gebracht hat. Sagt man nicht, dass man im Jetzt lebt? Dass alles, was einmal war, nur hergeführt hat und vorbei ist?

–091 bis –081
Die Kindheit. Ist sie es wert, sich an sie zu erinnern? Ein Dorf in Dorset, klein, dreckig, unbedeutend. Ein Mädchen, das schon damals zu hübsch war für diese Welt, in die es hineingeboren wurde. Die Eltern arm. Der Vater ein Arbeiter, die Mutter Hausfrau. Engstirnige alte Menschen, schon damals, als sie noch jung waren. Frei fühlte ich mich, wenn ich online war. Da draußen, das wusste ich schon früh, war die Welt. Die Schule war ein Nichts. Die anderen Kinder waren einfältig und leicht zu manipulieren. Mit einem Lächeln konnte ich alles haben. Von jedem. Ich lernte schon früh, wie man Menschen gegeneinander ausspielt. Es ist einfach, wenn man ein Kind ist und Kinder gegeneinander ausspielen kann. Manchmal gab es Ärger in der Schule. Der Schulpsychologe diagnostizierte etwas, das er narzisstische Störung nannte. Aber niemand glaubte ihm. Schon damals war ich gerissen.

–082 bis –070
Es gab wenige, die so schön waren, wie ich. Sport war meine Religion. Schon früh wusste ich, dass ein schöner Körper mehr sagen konnte als alle Worte. Die Jungs sahen mich, niemand konnte mich ignorieren. Sie starrten mich an und wünschten sich Dinge, die nie in Erfüllung gehen würden. Die meisten Jungs waren dumm und naiv. Sie waren hässlich und arm.
Ich lernte, um den Abschluss zu bekommen. Ich ging mit Jungs aus, um Erfahrungen zu sammeln. Alles war für etwas gut. Der Abschluss war mein Ticket nach draußen. London, Paris, Mailand, und darüber hinaus, so stellte ich es mir vor.
Ich fotografierte mich selbst und lud die Fotos in den Social Networks hoch. So lernte ich neue Leute kennen. Menschen mit Kontakten. Menschen mit Geld. Menschen, die wichtig waren. Männer! Ich lernte sie kennen und sie lernten mich kennen. Ich lächelte und sie zahlten. Sie fotografierten mich und ich ließ sie es tun. Sie wollten meinen Körper, doch nichts ist umsonst.

–069 bis –061
London. East End. Mit Mitte zwanzig kannte man mich überall. Mein Gesicht und mein makelloser Körper zierten die Magazine überall. Ein Traum in Hochglanz, nichts Geringeres war ich, damals schon. Henry, mein erster fester Freund, schenkte mir ein Loft an der Southside und später eine Villa in Südfrankreich. Jeden Wunsch las er mir von den Lippen ab. Vollere Lippen und neue Brüste. Glatte Haut und Laserbehandlungen. Makellos wollte ich sein. Und makellos war ich.

–060 bis –055
Ich verließ Henry, weil ich Marcello kennenlernte. Marcello war älter und reifer als Henry. Und mächtiger. Reicher. Besser. Ich bekam Gastrollen in Filmen und lernte Schauspieler kennen. Vielen von ihnen gefiel mein Lächeln, sie begehrten meinen Körper, und wenn sie mir gaben, was ich von ihnen verlangte, bekamen sie beides. Marcello, das wusste ich, war mir sehr ähnlich. Auch er wusste, was man bezahlen musste, um die Dinge, die man haben wollte, zu bekommen.
Wir heirateten in der Karibik und dann wurde ich schwanger. Es war ein Mädchen. Sie sah aus wie ihr Vater.

–054 bis –052
Das nächste Kind folgte zwei Jahre darauf. Ein Junge. Marcello besorgte ein ausgezeichnetes Kindermädchen und wir konnten unser Leben so weiterführen wie bisher. Ich sah meine Kinder selten, aber die Menschen, denen ich überall in der Welt begegnete, waren dafür mehr als ein Ausgleich. So war das eben, damals.

–051 bis –048
Die Konkurrenz schlief nicht, das hatte sie niemals getan. Junge Mädchen, hungrig und gut aussehend, zogen die Blicke auf sich. Ich hasste sie, allesamt. Die anderen sahen sie an, weil sie jünger waren. Meine Affären waren noch genauso prickelnd wie zuvor. Die Männer aber, junge Schauspieler, kernige Sportler, hübsche Models, sie lugten heimlich nach den jungen Mädchen, sie taten es, während sie mir in den Cafés und noblen Restaurants, in die ich sie führte, Komplimente machten. Sie sahen die Falten auf meiner Haut, betrachteten meine Hände und sahen mein Alter und verglichen mich mit all den anderen, die überall und zahlreich waren.

–047 bis –046
Eine Freundin empfahl mir ihren Chirurgen. Vier Eingriffe später hatte ich die jungen Männer wieder auf meiner Seite.

–045 bis –044
Ich reiste viel und genoss das Leben. Meine Kinder besuchten erlesene Privatschulen in England. Sie schickten mir Mails und Fotos. Sie duldeten mich in ihren Netzwerken. Mehr wollte ich nicht.
Mein Leben bestand aus Partys, Premieren, Modeschauen.
Ich war da, wo der Sommer war, und wenn ich Schnee haben wollte, brachte mich ein Jet in den Winter. Ich begehrte und wurde begehrt. Das Leben war so, wie es sein sollte.

–043 bis –041
Ein neuer Eingriff, diesmal durch NanoTec. Sie injizierten mir Nano-Mikroben, die Hautpartikel ersetzen konnten. Wie frische, junge Mädchenhaut, so sah es aus, wenn die Mikroben fertig waren. Es tat nicht weh. Nur eine Spritze, nicht mehr. Man konnte dabei zusehen, wie sie arbeiteten. Für immer jung zu sein und perfekt, ist es nicht das, wofür wir leben?

–040 bis –039
Mein Sohn starb an einer Überdosis Slash/dot. Das Zeug war der letzte Schrei in dem Jahr, in dem ich ihn nicht retten konnte. Die Beerdigung fand in Kalifornien statt. Unsere Tochter sahen wir dort zum letzten Mal. Sie schrie mich an, warf mir vor, nie eine Mutter gewesen zu sein. Es war peinlich. Im Internet kursierte ein Foto von ihr, mit mir. Trotz Klagen schafften wir nicht, es verschwinden zu lassen. Eine Niederlage, ohne Zweifel. Immerhin sah ich auf dem Foto jünger als sie aus. Wut macht hässlich, hatte ich ihr schon als Kind beizubringen versucht. Ohne Erfolg.

–038 bis –029
Weitere Besuche bei NanoTec. Mit jedem Jahr, das verging, sah ich jünger aus. Die Haut wurde glatt und die Falten um die Augen herum schwanden. Gewebe wurde von den Nano-Mikroben synthetisch erneuert. Alles, was natürlich dem Alterungsprozess unterworfen ist, wurde ausgebessert. Regelmäßig ließ ich mir die neuen Modelle injizieren. Sie arbeiten vorzüglich. Sie reparierten Defekte überall im Körper, erneuerten Organe, bauten Muskelgewebe auf. Das Leben war schön.

–028 bis –027
Marcello starb am Neujahrstag nach einer Party, auf die ich ihn nicht begleiten konnte. Er vermachte die Hälfte seines Vermögens einem Model, mit dem er zusammengelebt hatte. Die Kleine bekam auch das Penthouse in New York und die Villa in Marbella.

–026 bis –022
Zuviel Alkohol schädigt die Nano-Mikroben. Ich musste mich zurückziehen. Die Therapie auf Marthas Vineyard tat mir gut. Ich fand wieder zu mir selbst und lernte neue Männer kennen. Gut aussehende Männer, die mir mein Alter nicht anmerkten. Sie begehrten mich. Gut so.

–021 bis –015
Das Leben wurde immer schneller. Die Injektionen mit Nano-Mikroben machten mich schöner und begehrenswerter. Niemals würde ich eine alte Frau sein. Für immer jung.

–014 bis –006
Die Welt gehörte wieder mir. Reisen bestimmten mein Leben. Partys und Sex. Keiner meiner Partner wusste um mein Alter. Niemand hätte es geahnt. Ich sah aus wie Mitte zwanzig. Ein Körper, der für die Sünde gemacht war. Ein Lächeln, das jung war, so jung wie die Männer, die es betörte.
Ich vermied es, die ScanScreens zu benutzen. Die Ärzte taten dies oft genug. Sie zeigten mir, wie die Nano-Mikroben arbeiten. Nur einmal im Jahr musste ich mich so sehen. In den Spiegeln war ich so schön wie in den Augen meiner Betrachter, aber die ScanScreens zeigten mir das Alter, das ich betrogen hatte. Sie zeigten mir, was niemand sehen wollte.

–005 bis –001
Ein neuer Freund. Er war Schauspieler, Ende zwanzig. Er trieb Sport und hatte einen Körper, der voller Kraft war. Die Nano-Mikroben leisteten immer bessere Arbeit. James las mir jeden Wunsch von den Augen ab. Ich begleitete ihn zum HoloGym, wir gingen gemeinsam essen und schwimmen. Er verhielt sich wie jemand, der glaubte, verliebt zu sein.
Dann lernte ich Nigel kennen, während einer Modenschau in Mailand. Nigel ist anders als James – und die Gunst des Augenblicks habe ich noch nie verstreichen lassen.
In einem Café in Nizza wog ich beide Alternativen ab.
Nigel saß mir gegenüber. Er besitzt ein Mode-Label und ist reich. James war nur Schauspieler. Ich rief James an und teilte ihm mit, dass es zu Ende sei.

–000
James hat sich in meine Datenbank gehackt. Das verfickte Dreckschwein hat einen Shot der ScanScreens gemacht und überall hochgeladen. Es ist vorbei. Fast die Hälfte meines Körpers besteht aus Nano-Mikroben, die Gewebe simulieren. Alle können es sehen. Nicht einmal weinen kann ich, weil mein linkes Auge nur aus winzigen Schaltkreisen besteht. Also schreie ich, ja, ich schreie und schlage alles, was um mich ist, kaputt, ich schreie und kreische und der Augenblick ist grell wie die blaugelben Funken, die stinkendes Fleisch und Schaltkreise in dunklem Blut ertränken.

Minus

000

»It was not till they had examined the rings that they recognized who it was.«
Oscar Wilde

12. Dez. 2013 - Christoph Marzi

Bereits veröffentlicht in:

HEIMWEH EINES CYBORGS
A. Bionda (Hrsg.)
Anthologie - Dark Fiction / Social Fiction / Fantasy Fiction - p.machinery - Jun. 2012

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