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Eisblau von Sabine Frambach
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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TEXTLUSTVERLAG
A. Bionda
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Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de »Unter das Eis? Alleine? Das ist zu gefährlich!«
Blau funkelte das Licht; Lene kniff die Augen zu. Ihren Kragen hatte sie bis über die Ohren gezogen. Vorsichtig blies sie einen Hauch verbrauchter Luft in ihre kalten Hände.
Bruck lächelte milde, überging den Protest seiner Tochter und rollte eine Karte aus. Auf brüchigem Papier waren fein säuberlich die Umrisse der bekannten Länder gezeichnet. Darüber klaffte eine weite Fläche; unbekanntes Land, so unschuldig wie ein leeres Blatt Papier. »Lene, du kennst mich. Solange auf dieser Karte weiße Flecken sind, werde ich reisen. Die Welt dort draußen wartet darauf, entdeckt zu werden!«
Lene zog die Nase kraus; über ihrer Braue entstand eine Falte des Zweifelns. »Dort draußen ja; aber doch nicht dort unten!« Ihr Blick schweifte über die endlose Eisfläche. »Du kannst auf deiner Karte einzeichnen, dass hier nichts als Eis ist. Genügt das nicht?«
Ihr Vater musste nicht antworten; Lene kannte diesen Blick voller Sehnsucht, seit sie ein kleines Mädchen war. So hatte er geschaut, ehe er mit einem Ballon über die Berge gestiegen war, so hatte er in die Ferne geblickt, bevor er mit einem Gleitschlitten die Wüste durchquert hatte.
Sie seufzte.
»Und wie willst du hinuntertauchen?«
Auf ihres Vaters Gesicht erschien ein freudiges Lächeln. Er deutete hinab. Dort, an der Seite des Schiffs, war etwas vertäut, das Lene bisher für einen Torpedo gehalten hatte. Die zylindrische Form endete in einem breiteren Heck. Jetzt erst erkannte sie eine Art Kuppel aus Glas am oberen Ende. Ein Rohr ragte mehrere Meter in die Höhe.
»Ich nenne es den Bruckschen Heuler; das kleinste Unterwasserboot der Welt! Dort oben ist das Sehrohr; es ist vom Steuerpult aus schwenkbar, sodass ich in nahezu jede Richtung blicken kann.«
Wieder bildete sich die Falte über ihrer Braue. »Was willst du dort unten sehen?«
Ihr Vater breitete die Arme aus. »Lene, wir wissen nicht, was dort unten ist, ehe wir nicht nachgeschaut haben! Vielleicht ist dort nichts! Aber vielleicht finde ich tief unten eine Welt voller Leben!«
Sanft schüttelte Lene den Kopf. Fast spöttisch erklärte sie: »Vater, ich denke, das einzig Lebendige dort unten wirst du selbst sein!«
Sie wusste, sie konnte ihn nicht umstimmen. Sie hatte gebettelt, doch er war in diesen Ballon gestiegen, sie hatte geweint, und er hatte sie gestreichelt, um sodann den Gleitschlitten zu besteigen. Die Tochter des Abenteurers Martin Bruck kannte eines genau den Rücken ihres Vaters, wenn er ging. Als Mädchen hatte sie nicht verstanden, was er suchte. Nun, als junge Frau, ahnte sie es. Kein neues Leben, kein unentdecktes Land, kein seltenes Metall; was Bruck suchte, war seine Freiheit.
Nochmals seufzte Lene, griff unter ihr aufgestecktes Haar und löste eine Kette. Ein kleiner Anhänger lag nun in ihrer Hand, geformt wie ein Schmetterling. Leuchtend blau glommen die Flügel. »Ich möchte, dass du ihn mitnimmst, Vater. Als Glücksbringer oder als Aufpasser. Er sieht aus wie ein Kronwicken-Bläuling. Leopold hat ihn für mich gemacht!«
»Leopold!« Lenes Vater hörte den Namen nicht gerne. Dass der Sohn seines Erzfeindes, Professor Kittemann, seiner Tochter den Hof machte, missfiel ihm zutiefst. Doch Lene wusste, sie lebten in modernen Zeiten, und sie konnte selbst wählen, mit wem sie ihre Zeit verbrachte. Fast zärtlich strich sie über den Schmetterling. »Leopold ist ein Künstler, schau: Wenn du den Kopf drückst, nimmt der Schmetterling auf einer Spule auf, was du sagst. Er nennt das einen Phonographen. Ziehst du an den Fühlern, spielt er die Nachricht wieder ab. Wenn du die Flügel zuklappst, löst du einen weiteren Mechanismus aus. Ein Ventil öffnet sich, und mit einem Stoß entweicht ein wenig Luft. So kann er fliegen, nicht hoch, aber ein kleines Stück.«
Er zögerte, doch dann steckte er den blauen Schmetterling ein. »Ich nehme ihn mit. Aber eine große Hilfe wird er dort unten nicht sein. Ein Schmetterling weiß nichts von Schnee und Eis!«
Er strich ihr über das Haar, wie er es immer getan hatte. Wenig später drehte er ihr den Rücken zu. Bruck stieg eine Leiter hinab, bis er sein Unterwasserboot erreicht hatte. Dort betätigte er einen Hebel; es knirschte, und die Glaskuppel bewegte sich. Sekunden danach erklang ein quietschender Ton, hell wie das Maunzen einer hungrigen Katze, und die Kuppel blieb halb geöffnet stehen. Bruck übersah Lenes kritischen Gesichtsausdruck, stieß mit der Hand gegen das Scharnier und drückte. Nochmals quietschte es, und er konnte einsteigen. Seine Augen leuchteten erwartungsvoll. »Du weißt ja, Lene, wenn ich es nicht mache
«
Sie beugte sich vor und rief: »Ich weiß! Wenn du es nicht machst, dann macht es keiner!«
Er schüttelte lachend den Kopf. »Nein, wenn ich es nicht mache, dann macht es Kittemann! Aber dieses Mal bin ich schneller als er!«
Lene wusste es. Ihr Vater versuchte alles, um irgendwo vor Kittemann zu sein. Er war mit dem Ballon gelandet, und Kittemann hatte ihn auf der anderen Seite empfangen. Er hatte die Wüste durchquert, und Kittemann hatte in einem Zelt am Ziel gewartet. Sorgenvoll sah Lene zu, wie ihr Vater einstieg; doch von Herzen hoffte sie, dass er dieses Mal wirklich schneller war.
Bruck winkte und zog die Kuppel wieder zu. Seine Hände strichen über die Armatur; die rechte umfasste den Flugzeugknüppel, die linke presste den blauen Schalter. Schon pumpte es, und das Boot machte einen Satz voraus. Dort trudelte es um die eigene Achse; Bruck hielt den Knüppel und bediente zugleich die Ventile für die Trimmer, um das Boot zu stabilisieren. Nach einer weiteren Drehung blieb es gerade im Wasser liegen. Langsam drehte er am Rad und öffnete ein Ventil, um die Tanks zu fluten. Das Gewicht nahm zu, und das Boot versank senkrecht im eisblauen Meer.
Um ihn herum schäumte das Wasser; die Gischt schlug an die Kuppel, das Meer tobte. Dann wurde es still.
Zart wie ein verglimmendes Feuer spendete die Sonne einen letzten Lichthauch. Rasch entzündete Bruck die vorderen Laternen; einen weiteren Hebel presste er auf die Einstellung kleine Fahrt voraus und glitt mit dem Boot unter die Eisdecke.
Bruck stellte den Kristallhorcher an und lauschte; es rauschte, und weit entfernt ertönte ein Klicken. Ein Hindernis, doch außer Reichweite. Schon stellte er auf große Fahrt voraus und sauste unter dem Eis entlang. In seinem Kopf schwirrten die Gedanken, in seinen Ohren sprudelte das rauschende Meer. Immer schneller schoss das Boot unter dem Eis entlang, vorbei an bizarr geformten Eisbergen und kraftlosen Pflanzen.
Grünlich schimmerte das Wasser um ihn; Bruck betätigte die Trimmer und ließ weiteres Wasser in die Tanks sprudeln. Er musste tiefer hinab!
Es knirschte; das Boot ruckte und warf ihn aus dem Sitz. Er drückte sich zurück in Position. Sachte betätigte Bruck die Trimmer. Ein Schaukeln entstand, doch das Boot blieb hängen. Ein Blick durch das Sehrohr zeigte nichts als grüngefärbtes Wasser. Doch, dort war etwas! Bruck schwenkte das Sehrohr soweit wie möglich nach rechts. Etwas glänzte so hell wie Tafelsilber im Sonnenlicht. Grimmig presste er den Hebel nach vorne und stellte auf große Fahrt voraus. Er musste das Boot freibekommen!
Ein Pumpen, Rattern, Keuchen; sanft vibrierte das Metall, die Düsen schnauften, und gepresste Luft entwich. Doch das Boot bewegte sich keinen Millimeter. Bruck fühlte Zorn aufsteigen; so tief war er nicht gekommen, um auf halber Strecke hängenzubleiben! Er verlagerte sein eigenes Gewicht nach links, legte sich auf die Seite und betätigte nur einen Trimmer.
Das Boot wankte; mit einem Lachen spürte er, wie es zur Seite kippte. Schon rauschte das Wasser, das Boot trudelte und sank. Schneller als erwartet ging es hinab! Bruck versuchte, zurück auf den Sitz zu gelangen. Seine Hände griffen ins Leere; er tastete, zog sich hoch und krachte mit dem Kopf gegen den Sitz, fluchte und griff die Lehne. Wo war er? Und wo war unten? Sein Kopf hämmerte, während er mit aller Kraft auf den Sitz kroch und rasch den Knüppel ergriff. Einige Schlenker machte das Boot, ehe es weiter hinuntersackte.
Bruck betätigte die Pressluft; der Hebel klemmte. Immerhin rutschte er nicht weiter hinab. Mit der rechten Hand kurbelte er das Tiefenmesser aus; an der Oberseite des Bootes öffnete sich eine winzige Klappe und ließ einen Schwimmer mit dünnem Seil aufsteigen. Bruck kurbelte weiter und weiter. 300 Meter; 320 Meter. Der Schwimmer stieß nicht an das Eis. Er fluchte. 360 Meter. So tief war er noch nie getaucht; schon glaubte er, die Scharniere des Bootes ächzen zu hören. Nochmals ruckelte er am Hebel, doch er klemmte starr in der Mitte und ließ keine Luft hinaus.
Im selben Augenblick sah er das Licht.
Lene wartete. Trotz der Kälte trat sie immer wieder an Deck, zog eine Jacke über das Kleid und schlug den Kragen hoch. Die Sonne versenkte ihre Strahlen im Wasser; düster glänzte die eisige See.
Wieder zog sie ihre Taschenuhr hervor und betrachtete die unerbittlichen Zeiger; die Zeit hielt nicht an, die Welt wartete nicht, und das Eis lag ungebrochen da. Fünf Stunden wollte er auf Tauchfahrt gehen; mittlerweile war die siebte Stunde angebrochen. Mit zugekniffenen Augen ließ Lene den Blick schweifen. Nichts. Um sie herum blieb all das Leben zu Eis erstarrt. Kälte kroch durch ihre Kleidung, Frost bedeckte ihr Haar. Wieder hauchte sie auf ihre Finger, knetete diese und rieb sie aneinander. So taub fühlte sich ihre Wange an, dass eine winzige Träne unbemerkt hinunter tropfte, auf den Boden perlte und zersprang.
Da sah sie es. Zunächst glaubte Lene, sich zu täuschen. Sie kniff die Augen zusammen und starrte auf das Eis. Doch, dort vor ihr stieg etwas in die Luft! Es flimmerte und verging in sprühendem Licht. Nichts blieb als ein blauer Schimmer. Rasch suchte sie das Fernrohr, zog es auseinander und schaute hindurch.
Auf dem Eis inmitten des Wassers saß der Schmetterling. Lene legte das Fernrohr weg, hastete zur Steuerung und holte den Anker ein. Sie warf die Maschine an; dumpf brodelte der Kessel, es dampfte, zischte, und das Schiff schob sich durch das Eis. Mit festem Griff hielt Lene auf den blauen Punkt zu. Unter ihr knirschte und krachte es; die Eisdecke zerbarst. Bis kurz davor steuerte sie, ehe sie die Maschine drosselte; nun glitt das Schiff so langsam durch das Wasser, als habe sie auch die Zeit eingefroren.
Lene beugte sich über die Reling, doch ihr Arm war zu kurz. Zentimeter fehlten, um den Schmetterling erreichen zu können. Schon zückte sie einen Magneten und hielt ihn in die Richtung.
Der Schmetterling bebte, rutschte und flog das kleine Stück, klackte auf den Magneten und lag ruhig in ihrer Hand.
Lene umfasste das Metall; es war kalt, sehr kalt. Doch in ihrer Hand nahm es die Wärme auf. Vorsichtig fasste Lene die Fühler und zog.
Es knackte; ein Rauschen erklang, wie Wellen, die aneinander stoben. Von weit entfernt und doch so nah erklang die Stimme ihres Vaters.
Lene. Ich weiß nicht, was geschehen ist. Das Boot ist tiefer gesunken, in eine Art Spalte oder Loch. Bei der letzten Messung zeigte der Tiefenmesser 410 Meter. Ich kann nicht mehr aufsteigen; warte nicht auf mich. Doch Lene, was ich hier unten gefunden habe, ist atemberaubend! Aus dem grünen Wasser erscheinen plötzlich Fische, und sie schillern in tausend Farben. Offenbar erzeugen sie selber dieses Licht! Ich habe ein Wesen gesehen, das einer Schnecke ähnelt, doch es hat Flügel! Ein riesiger, grünhäutiger Kraken schwamm neben mir, und Pflanzen bunter als die wilden Blumenwiesen wachsen auf glimmenden Steinen. Vor mir scheint ein helles Licht; ich werde dort hineinfahren, mit voller Kraft voraus! Den Schmetterling habe ich in eine der Torpedokugeln gesteckt und diese senkrecht in die Höhe geschossen. Nun weißt du, wo ich bin. Ich hoffe, dass diese Nachricht dich erreicht. Bitte weine nicht, Lene; ich hatte recht, hier unten ist Leben, und es ist wunderschön!
20. Jan. 2014 - Sabine Frambach
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