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Die vierte Stufe von Sören Prescher
Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:
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TEXTLUSTVERLAG
A. Bionda
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Crossvalley Smith © http://www.crossvalley-design.de Als Ralph Hoffmann elf Jahre alt war, wollte er mit seiner drei Jahre jüngeren Schwester Lisa zum Spielen hinausgehen. Seine Eltern besaßen einen kleinen Bauernhof, der zum größten Teil aus Wiesen und Feldern bestand. Worauf man prächtig Fußball spielen konnte, wie Ralph früh herausfand. Er kannte zwar die Regeln nicht sonderlich gut, wusste aber zumindest, dass man versuchen musste, mit dem Ball ins gegnerische Tor zu treffen. Meist war seine jüngere Schwester Lisa diejenige, die ihn daran zu hindern versuchte.
An einem lauen Maisonntag nahm er seinen Lederfußball und fragte Lisa, ob sie ihn begleiten wolle. Während sie sich Jacke und Schuhe anzog, ging Ralf in die Küche, um sie abzumelden. Seine Mutter willigte ein und bat ihn, gut auf die kleine Schwester aufzupassen. Mach ich doch immer, versicherte er.
Wie gewöhnlich stellte er sich draußen auf die oberste Stufe der vierstufigen Steintreppe, holte Schwung und sprang nach vorn. Nur eine Sekunde später landete er sicher auf dem staubigen Erdboden. Als Lisa sicher war, die volle Aufmerksamkeit ihres Bruders zu besitzen, nahm sie trotz ihres wild klopfenden Herzens Anlauf und sprang ebenfalls.
Ralph lächelte stolz, doch schnell erstarb es wieder. Kurz bevor Lisas rote Schuhe den Boden berührten, explodierte unter ihr ein gleißendes Licht. Instinktiv riss er die Hand vor die Augen, aber die Helligkeit verschwand genauso plötzlich, wie sie erschienen war. Doch nicht nur das.
Der Fleck, auf dem seine Schwester hätte aufkommen müssen, war leer. Auch auf der Treppe war niemand zu sehen. Lisa war verschwunden.
Bestürzt rief er ihren Namen. Panik erfasste ihn wie ein gefräßiges Raubtier. Seine Beine zitterten, sein Herz raste. Er hörte noch, wie das A von Lisas Namen seinen Mund verließ, und spürte, wie ihm der Ball aus der Hand glitt, aber wie er auf dem Boden aufschlug, bekam er schon nicht mehr mit.
Als Ralph zwei Stunden später aus der Ohnmacht erwachte, fand er sich auf dem Wohnzimmersofa seiner Eltern wieder. Über ihn gebeugt standen Mama, Papa, Hausarzt Dr. Wagner und ein uniformierter Polizist. Seine Mutter sah, wie er blinzelte und drückte den Jungen fest an sich. Mit besorgter Stimme fragte sie nach Lisa.
Ich weiß es nicht, flüsterte er kaum hörbar. Alles, woran er sich erinnerte, war, dass seine Schwester und er zum Spielen gehen wollten.
Lisa Hoffmann blieb unauffindbar. Die Polizei durchsuchte den nahe befindlichen Wald mit Spürhunden, hatte aber keinen Erfolg. Selbst Ralphs letzte Hoffnung, das Geheimversteck am Rand der Getreidefelder, brachte keine neuen Erkenntnisse.
Nach dem Vorfall wurde es sehr still im Hause Hoffmann. Der Elfjährige wurde immer verschlossener und erfand alle möglichen Ausreden, das Haus nicht verlassen zu müssen. Manchmal, wenn er nachts in seinem Bett lag, träumte er, dass seine Schwester jetzt in einer anderen Welt war. Aber wenn er aufwachte, hatte er diese Träume längst wieder vergessen.
Selbst jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, er war inzwischen verheiratet und hatte zwei Kinder (seine erste Tochter hieß zum Gedenken an seine Schwester ebenfalls Lisa), besaß er nicht den Hauch einer Ahnung, wo sie sich befand. Aber hin und wieder, wenn er nachts schlaflos in seinem Bett lag und seine Frau fest neben ihm schlief, dachte er an Lisa. Manchmal träumte er noch immer von ihr.
Jedes Mal, wenn er eine Treppe hinabging, blieb er auf der vierten Stufe von unten stehen und sprang. Jedes Mal kam er auf dem Boden auf und fühlte eine große Enttäuschung, die er sich nicht erklären konnte. Ebenso wenig war ihm bewusst, weshalb es stets die letzten vier Treppenstufen waren, von denen er sprang.
Seinen Kindern hingegen verbot er ausdrücklichen, jemals von einer Treppenstufe zu hüpfen und wachte mit Argusaugen darüber, dass es eingehalten wurde. Er selbst hatte zwar versucht, es sich abzugewöhnen, damit jedoch keinen Erfolg gehabt. Genauso unerklärlich wie das Springen von der Treppenstufe war ihm, weshalb er sich vor grellem Licht fürchtete. Er zuckte jedes Mal zusammen und ihm schoss ein einziges Wort durch den Kopf: Lisa.
24. Jul. 2014 - Sören Prescher
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