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Die Puppe Toby
von Barbara Büchner

Diese Kurzgeschichte ist Teil der Kolumne:

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A. Bionda
5 Beiträge / 61 Interviews / 20 Kurzgeschichten / 16 Galerie-Bilder vorhanden
Crossvalley Smith Crossvalley Smith
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Prologstory zu GELIEBT IN EWIGKEIT
(TextLustVerlag)

„Du hast das Puppenhaus noch auf deiner Liste?“, fragte Keith, der Parapsychologe, seinen Freund und Kollegen Tom, wobei er über dessen Schulter in seinen Laptop blickte.
„Kannst du streichen. Das ist ausgebrannt.“ Damit meinte er im Jargon der Geisterjäger, dass der Spuk erloschen war.
„Sieh einer an!“ Tom klickte auf seiner langen Liste von Spukhäusern das eine an, von dem die Rede war. Ein hübsches Gebäude im Stil der amerikanischen Klassik erschien, dessen Rückseite in einem Polster grüner Gehölze ruhte, während die Vorderseite auf einen großen, sanft zum Straßenniveau hinunter abfallenden Garten blickte. „Davon wusste ich nichts. Wer hat den Geist gebannt?“
„Augenscheinlich die Besitzer selbst, ein junges Ehepaar aus dem Osten. Eines Tages platzten alle Scheiben im Haus, und von da an gab es nie wieder Ärger. Das Haus ist seither so unschuldig wie ein Osterlamm. Obwohl …“ Er zögerte unsicher.
„Raus damit!“, forderte Tom, der bei diesem Zögern die Ohren spitzte. „Einen Pferdefuß hat das Osterlamm also doch, oder? Was ist es?“
Keith holte seinen Laptop herbei, suchte in den Dateien und klickte schließlich ein Foto an, dessen Anblick Tom höchst unangenehm berührte. Was er vor sich sah, war eine sehr große und sehr altmodische Puppe in Matrosenkleidung, offenbar die Puppe eines Jungen, denn sie hatte absolut nichts Niedliches an sich. Das aus graugelber Baumwolle genähte und ausgestopfte Gesicht wies nur sehr rudimentär ausgeformte Züge auf, aber zwei riesengroße, blaue Augen aus Glasknöpfen blickten den Betrachter an – und zwar mit einem so fiesen und hinterhältigen Blick, dass Tom zurückwich, als könne das Scheusal aus dem Bildschirm springen.
„Darf ich vorstellen: Die Puppe Toby!“, sagte Keith. „Der Pferdefuß des lieblichen Hauses. Sie gehörte nicht von Anfang an zum Inventar, sondern das Bostoner Ehepaar erwarb sie auf einem Flohmarkt. Die Leute hatten sich in die amerikanische Klassik verliebt und kauften dauernd Zeug, das sie der Historical Society schenkten. Es sollen einige sehr gute Stücke darunter gewesen sein. Aber den Kerl hier hätten sie besser gelassen, wo er war.“
„Weiß man Näheres über ihn?“, fragte Tom und war erleichtert, als der Bildschirmschoner ansprang und das unheimliche Puppengesicht verdeckte.
„Man weiß einiges über eine Puppe, bei der es sich um diese hier handeln könnte. Sicher ist es allerdings nicht. Hör zu, willst du ihn dir nicht live ansehen? Er sitzt in einem Glaskasten im Kinderzimmer des Hauses. In vier Stunden sind wir mit dem Auto dort.“
„Was werden die Bostoner dazu sagen, wenn wir einfach hereinplatzen?“
„Nichts. Die wohnen nicht mehr dort. Als die Frau ein Baby bekam, ein Mädchen, zogen sie aus und gingen zurück nach Boston. Das Haus ist jetzt wieder in der Obsorge der Historical Society und wird von einer mexikanischen Familie betreut, bis sich neue Mieter finden. Wir können es uns nach Herzenslust darin bequem machen. Ein Freund vor Ort wird alles mit der Society regeln.“

Szenentrenner


Eine Woche später befanden sich die beiden Parapsychologen tatsächlich in dem Haus, das einer üblen Vergangenheit wegen das Puppenhaus genannt worden war. Sie betraten es an einem strahlenden Sommertag, an dem einem nichts ferner lag als der Gedanke an Geister. Tom gefiel es auf der Stelle. Den samtig grünen Rasen an der Vorderseite zierten zwei Blumenrabatten sowie ein etwas kitschiger Springbrunnen, und eine metallene Gartengarnitur lud dazu ein, die Mahlzeiten im Freien zu genießen. Dahinter erhob sich mit strahlend weißen Mauern und rotem Dach das Haus, mit Spalieren an der Vorderseite, an denen sich der Efeu emporschlängelte. 1890 erbaut, war es fast vollständig möbliert, in der zugleich kargen und eleganten Art, wie frühere Generationen sie geschätzt hatten. Es war ein Schmuckkästchen mit seinen glänzend gebohnerten Rotholzböden, den Möbel im amerikanischen Kolonialstil aus Kirsch und Walnuss, den historischen Gemälden, dem Harmonium und der mit blauen Delfter Kacheln verfliesten Küche.
Tom, der neben seiner wissenschaftlichen Ausbildung auch ungemein sensitiv war, spürte sofort, dass der Garten, die unteren Räume und die Wirtschaftsräume im Souterrain „sauber“ waren. Auch im ersten Stock, wo die Herrschaftszimmer lagen, bemerkte er nichts Besonderes, obwohl das ehemalige Spukzimmer immer noch verschlossen gehalten wurde. Anders sah es aus, als sie sich über eine steile Holztreppe der Mansarde näherten. Es wäre gar nicht notwendig gewesen, dass der mexikanische Hausmeister, der sie begleitete, plötzlich behauptete, irgendetwas Wichtiges im Souterrain erledigen zu müssen; sie würden doch alleine zurechtkommen?
Während der langen Autofahrt hatte Keith seinem Freund alles erzählt, was er über jene Puppe wusste, die möglicherweise mit dem Objekt ihrer Nachforschungen identisch war. Sie hatte einem Mann aus der kalifornischen High Society gehört, der von 1870 bis 1930 gelebt hatte. Dieser Harlan „Toby“ Addison hatte sich als Landschaftsmaler einen Namen gemacht. Seiner näheren Umgebung allerdings war er hauptsächlich wegen seiner Puppe in Erinnerung geblieben. Seit er sie als Fünfjähriger zum Geschenk erhalten hatte, war sie seine ständiger Begleiterin gewesen, und zwar weit über die Kindheit hinaus. Als Erwachsener hatte er sich genauso wenig von Toby trennen wollen wie als Knabe. Der einzige Unterschied war, dass er die ungefüge Puppe in seinen Mannesjahren nicht mehr in der Öffentlichkeit mit sich herumschleppte.
Es gab Leute, und zwar nicht wenige, die behaupteten, der kleine Namensvetter aus Baumwolle und Sägespänen hätte von Anfang an einen unerfreulichen Einfluss auf Harlan Addison ausgeübt. Das bis dahin freundliche und offenherzige Kind habe allmählich ein verschlagenes, in sich gekehrtes Wesen angenommen, wäre hinterhältig und boshaft geworden. Noch in einem Alter, in dem seine Eltern das bereits sehr unpassend fanden, habe er die Gesellschaft Gleichaltriger verschmäht, sich Stunden lang verkrochen und an heimlichen Orten intime Gespräche mit dem Matrosen geführt. Man war allseits der Meinung, es sei an der Zeit, dass der kleine Toby auf den Dachboden geräumt würde und sich der große Toby altersentsprechenden Beschäftigungen zuwende, aber seine Eltern hatten es nicht übers Herz gebracht, ein Machtwort zu sprechen. Das Thema schien ihnen äußerst unangenehm zu sein. „Fast so“, hatte Keith gesagt, „als hätten sie einmal versucht, den Lumpenkerl loszuwerden und sich dabei mächtig die Finger verbrannt.“
Jedenfalls war Toby Addison, da er seinen Gefährten in ein Internat nicht hätte mitnehmen können, zu Hause unterrichtet worden und hatte später als Erwachsener das Leben eines kränkelnden Sonderlings geführt, der sich von seinem Elternhaus genauso wenig trennte wie von seiner Puppe. Da er reich war und niemandem zur Last fiel, akzeptierte man diese Lebensweise als die Schrullen eines begnadeten Künstlers. Addisons Gemälde waren reizvoll, sie trafen den Geschmack seiner Zeit und seiner Gesellschaftsschicht, und über dem Interesse an dem gefragten Maler, dessen Bilder in allen Salons hingen, vergaß man die Puppe, die auf ihrem eigenen Stuhl im Atelier saß und nachts im Bett schlief. Nur selten flackerte das Gerede auf, das eine Verbindung herstellte zwischen dem Matrosen und dem durchaus unangenehmen, säuerlichen und misanthropischen Charakter des Künstlers. So populär seine Gemälde waren, so wenig wollte man mit Harlan Addison selbst zu tun haben. Sein Personal behandelte er grob und unhöflich, seine Verwandten stieß er vor den Kopf, Fremden wies er die Tür, und Frauen durften ihm überhaupt nicht unter die Augen kommen. Für die Kinder der Umgebung war er eine Art Butzemann; sie lauerten ihm auf und flohen dann kreischend, wenn er auf der Straße erschien mit seinem zu großen Kopf, an dem blonde Haarsträhnen hingen, seinen blauen Glotzaugen und den dünnen Händen, die wie kleine Rechen aus den Ärmeln eines blauen Mantels herausragten – immer desselben Mantels, denn geizig war er obendrein.
Nach dem Tod seiner Eltern wohnte er, Seite an Seite mit Toby, weiter in seinem ehemaligen Kinderzimmer, das er unverändert beließ. Toby saß bei Tisch in einem Kinderstuhl neben ihn, und bei Nacht schlief er wie in Kindertagen im Bett. Es konnte nicht ausbleiben, dass die Dienerschaft schwatzte, und bald ging in der Umgebung das Gerücht um, man höre nachts aus dem Turmzimmer, das sich die beiden Tobys teilten, schrilles Gelächter und murmelnde Gespräche von zwei verschiedenen Stimmen. Bald wollte niemand mehr für Addison tätig sein; schließlich musste er froh sein, ein altes Ehepaar zu bekommen, das die notwendigsten Arbeiten erledigte und für ihn kochte, aber auch sie kamen nur einige Stunden täglich ins Haus und immer nur bei hellem Tageslicht. Keiner von beiden betrat das Kinderzimmer, in dem Toby jetzt unumschränkt herrschte.
Als der Maler schließlich einsam und ohne Erben starb, wurde sein Hab und Gut bei einer großen Auktion verkauft, und von da an wusste man nichts Genaueres mehr darüber, was aus seinem mit Sägespänen gefüllten Freund geworden war.
„Ich bin aber ziemlich sicher“, hatte Keith seine Erzählung beendet, „dass es dieselbe Puppe ist, obwohl der Verkäufer auf dem Flohmarkt damals dem Bostoner Ehepaar nichts anderes sagen konnte, als dass sie sehr alt sei. Ich habe einen Freund gebeten, ein kleines Experiment vorzubereiten. Wenn wir im Haus sind, werden wir uns gemeinsam das Ergebnis ansehen.“
Tom fragte sich, was für ein Experiment das sein mochte. Er für seinen Teil war bereits überzeugt, dass Toby ein böses Stück war. Schon auf der steilen Treppe fühlte er die unverkennbare Verdichtung in der Atmosphäre, das Absinken der Temperatur, die Atemnot und das Gefühl der Desorientierung, das die Nähe einer Präsenz ankündigte. Vor allem aber fühlte er den Anhauch des Bösen.
Keith, der weitaus weniger sensitiv war, aber seinen Freund gut kannte, blieb vor der Kinderzimmer-Tür stehen und betrachtete ihn neugierig. „Du spürst ihn“, stellte er fest. Und fügte hinzu: „Mein Freund, der das Experiment für mich einrichtete, sagte dasselbe: ´Was müssen diese Eltern für Idioten gewesen sein, dass sie nicht merkten, was für ein Ding sie ihrem Sohn schenkten? Man riecht es nach fünf Minuten!´ Allerdings waren es gar nicht die Eltern, die Harlan die Puppe schenkten. Es war – pst! Horch!“
Die beiden Männer erstarrten. Den Blick fest auf die Tür gerichtet, die einen Absatz über ihnen lang, lauschten sie.
„Steht das Fenster offen?“, flüsterte Tom. Die Geräusche hörten sich nämlich so an, als sei ein Vogel in den Raum geflogen, der den Ausgang nicht wieder fand und, schrill zwitschernd vor Panik, darin herumschwirrte. Dann endete das Zwitschern plötzlich auf einer hohen, dissonanten Note – etwas plumpste leise – eine dünne Stimme kicherte boshaft – in das Kinderzimmer kehrte wieder Stille ein.
Es war Keith, der sich mit einem tiefen Atemzug aufrichtete, energisch die letzten Stufen hinaufschritt und die Klinke niederdrückte. Tom folgte ihm.
Sie standen in einer hübschen, als Kinderzimmer eingerichteten Mansarde mit einem runden Fenster an einer Wand, dessen Flügel weit offenstand. Durch dieses Fenster hatte sich tatsächlich ein kleiner Vogel herein verirrt. Offenbar war er in seiner Panik irgendwo angestoßen und hatte sich das Köpfchen eingedrückt. Als sich Keith jedoch bückte, um die traurigen Überreste aufzuheben, trat er einen Schritt zurück und sog scharf den Atem ein.
„Sieh dir das an!“, zischte er.
Was da auf dem Boden lag, war ein toter Vogel, aber Tom hätte jeden Eid geschworen, dass er schon vor Wochen gestorben war, so staubig, grau und verschrumpft lag das Häuflein steifer Federn da. Auf keinen Fall sah es aus wie der Kadaver eines Vogels, der vor Minuten noch gezwitschert hatte. Irgendetwas hatte alles Leben, das in ihm gewesen war, herausgesaugt.
Ohne dass sie ein Wort miteinander gesprochen hätten hoben beide Männer gleichzeitig den Kopf und blickten die Vitrine mit der Puppe an. Tobys Gesicht mit den plumpen, einer Schweineschnauze ähnlichen Zügen war ihnen zugewandt, seine blassblauen Glasaugen starrten sie mit einem ebenso feindlichen wie insolenten Ausdruck an. Tom dachte daran, was sein Freund ihm erzählt hatte: Dass seinerzeit auch im Kinderzimmer des Addison´schen Haushalts merkwürdige Dinge vor sich gegangen waren. Oft und oft hörten die Diener und auch die besorgten Eltern selbst, wie Toby offensichtlich mit zwei verschiedenen Stimmen Selbstgespräche führte. Riss die Mutter dann unversehens die Tür auf und stürzte in den Raum, so fand sie ihren Sohn verschreckt in einem Winkel kauernd vor, während die Puppe auf ihrem Stuhl saß und ihn anstierte. Es war bald offenkundig, dass der Junge seinen Gefährten ebenso liebte, wie er ihn fürchtete; Letzteres leugnete er jedoch entschieden ab, und die zweistimmigen Diskussionen erklärte er als „Theaterspiel“.
Tom musste sich zusammenreißen, um näher zu treten und das Ding genau in Augenschein zu nehmen. Er notierte insgeheim: Toby war fast neunzig Zentimeter groß, der gesamte Körper bestand aus Baumwolle, die vermutlich mit Sägespänen oder Häcksel gefüllt war. Er hatte keine Haare, keinen Mund, keine Ohren, kein richtige Nase. Seine Augen, die keine Pupillen aufwiesen, waren bläulich glasig wie die Augen eines Verstorbenen, sie starrten durch die beiden Männer hindurch; dennoch fühlte sich der sensitive Tom an zwei bereifte Fenster erinnert, hinter denen eine unsichtbare Gefahr lauerte. Seine Kleidung war mit großer Sorgfalt gearbeitet. Er trug Schuhe aus rotem Leder, einen Matrosenanzug aus blau-weißem Drillich und ein dazu passendes Käppchen.
„Die Arbeit eines geschickten Amateurs“, bemerkte Tom. „Die Kleidung ist so sauber gesäumt wie für ein richtiges Kind.“
„Es ist auch die Kleidung für ein richtiges Kind“, erwiderte Keith. „Harlan zog ihm seine eigene an. – Aber sieh einmal das hier!“
Die Puppe saß auf einem dicken, etwa siebzig mal neunzig Zentimeter großen Federkissen, das eindeutig aus neuerer Zeit stammte.
„Mein Experiment!“, erläuterte Keith. „Mach die Vitrine auf und zieh das Kissen heraus, dann wollen wir sehen, ob es funktioniert hat.“
Tom wünschte, sein Kollege würde diese Arbeit selbst tun, aber an einem hellen Vormittag in einem freundlich von der Sonne erleuchteten Kinderzimmer wollte er keine Angst zeigen. Rasch sperrte er den Glaskasten auf, fasste die Puppe unter den Achseln und hob sie heraus. Eine Welle von Abscheu durchschauderte ihn, als er den künstlichen Körper so dicht an dem seinen fühlte. Obwohl die Kleidung frisch gewaschen war und auch der Körper einen sauberen Eindruck machte – wahrscheinlich hatte die Historical Society ihn chemisch reinigen lassen, um sicherzugehen, dass kein Ungeziefer darin hauste – strömte er etwas Verdorbenes aus, und seine Arme schlenkerten auf eine Weise, als wollten sie den Mann packen und sich an ihm festkrallen. Tom atmete auf, als er ihn auf dem Boden abgesetzt hatte. Jetzt noch das Kissen! Das war eindeutig neu, aber es dünstete etwas ähnlich Widerliches aus wie die Puppe.
Keith ergriff es, trug es zu dem Tisch unterm Fenster und zückte ein Stanley-Messer. Bevor er aber zustach, erklärte er: „Ich habe mich schon länger mit einer Abart von Spuk befasst, die man Bettenspuk nennt. Wenn eine verfluchte oder verhexte Person in einem Bett schläft, bilden sich häufig eigentümliche kleine Objekte im Kissen und im Federbett. Ich wollte ausprobieren, ob das hier auch der Fall ist. Das Kissen habe ich neu in einem großen Warenhaus gekauft – eines von Hunderten, die dort gestapelt lagen.“ Er stach das Messer ins Linnen und zog einen langen Schnitt.
Daunen wölkten heraus, und dann – Tom traute seinen Augen nicht – fischte Keith struppige, grauweiße Gebilde aus dem Inneren des Kissen. Sie sahen aus, als hätte ein farbloses Wachs die Daunen verklebt und zu etwas geformt, das Herzen, Vogelnester oder Brotlaibe sein mochten.
„Et voilá!“, rief Keith. „Wie ich gedacht habe! Die Objekte sind nicht sehr ausgeprägt, aber was willst du schon von einer Puppe erwarten?“
„Das sind Materialisationen?“, fragte Tom.
„Nennen wir es Artefakte. Ich habe schon viele gesehen, manche davon sehr kompliziert – Zöpfe, Haarschnecken, Wickelkinder, sogar eine Art Lebkuchen-Reiter auf einem Pferd. Sie entstehen, wenn eine unbewusste oder jenseitige Macht am Werk ist, die sich auszudrücken versucht. – Und jetzt“, fuhr er fort, wobei sich seine Stimme merkwürdig bedrohlich veränderte, „möchte ich mir den Jungen von innen ansehen.“
Tom zog scharf den Atem ein. Die Puppe war zweifellos zu wertvoll, um sie einfach aufzuschneiden, und außerdem hatte er das Gefühl, dass Klein Toby nicht obduziert werden wollte.
Keith war aber bereits am Werk. Er packte die Puppe und trug sie ohne viel Federlesens zu dem Tisch am Fenster, wo er sie hinlegte. Seine Finger nestelten an der Kleidung.
„Sei vorsichtig!“, warnte Tom. Er spürte deutlich, wie sich um den plumpen, steifen kleinen Körper herum die Atmosphäre verdichtete. Etwas zog Wärme, Licht und Sauerstoff aus dem Raum und wandelte diese Stoffe in eine bösartige Energie um. Rund um den behelfsmäßigen Operationstisch wurde es zusehends kälter, ein Schatten umhüllte ihn, als sei eine Gewitterwolke vor die Sonne gezogen, und die Luft wurde so dünn wie auf dem Gipfel des Mount Everest. Tom schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen, als er nähertrat. Er fragte sich, ob die Puppe imstande war sich zu bewegen, ob sie körperlichen Widerstand leisten würde wenn Keith zum Messer griff. Es war nicht das erste Mal, dass er solche haunted dolls sah; wirklich bewegt hatte sich noch keine von ihnen, aber sie brachten es fertig, eine unerträgliche Atmosphäre um sich herum zu schaffen. So war es auch hier: Was Toby in sich einsaugte, hauchte er als eine giftige Wolke wieder aus, die es Tom unmöglich gemacht hätte, sich ihm zu nähern. Obwohl er schlaff auf dem Tisch lag, wirkte er gespannt wie eine Sprungfeder – die verkörperte böse Absicht.
Keith, der in diesen Dingen weitaus weniger empfindsam war, zog die Puppe aus, wobei ein straff gestopfter Schlauch aus Baumwolle mit angenähten Armen und Beinen zum Vorschein kam. Und dieser Körper bildete einen zweiten, einen Astralleib, wenn man bei einer Puppe davon sprechen konnte. Es war, als waberte feiner Rauch aus Tausenden Poren. Der Rauch verdichtete sich zusehends, bis ein substanzloser, aber dennoch energiegeladener zweiter Leib den künstlichen Körper umgab, eine dunkle, pulsierende, wie Öl schillernde Hülle, durch die Toby um ein gutes Drittel größer und breiter wurde. Es brauchte viel Energie, um diesen Scheinleib zu bilden, so viel, dass sogar der dickfellige Keith fröstelte und nach Atem rang.
Er war aber nicht der Mann dazu, sich von solchen Phänomenen in seinem Forscherdrang hindern zu lassen. „Halt ihn fest – pack seine Arme, damit er mir nicht verrutscht.“ Ein Befehl, den Tom nur sehr widerwillig befolgte. Dann setzte er das Stanley-Messer auf der linken Körperseite an, dort, wo bei einem Menschen das Herz sitzt. Mit einem kräftigen Stoß durchtrennte er den mürben, alten Stoff und holte aus dem Loch eine Handvoll Häcksel heraus. Toby, sah Tom, war mit klein gehacktem Maisstroh gestopft worden.
Und noch mit etwas anderem.
Keith stieß einen unterdrückten Jubelschrei aus. „Dachte ich es doch!“ Er fuhr tiefer hinein, grub im Häcksel herum und zog dann in der geschlossenen Hand etwas ans Licht. Als er sie öffnete, sah Tom ein Säckchen aus verblasster rosa Seide, mit einer Zugschnur geschlossen. Sein Kollege zog die Schnur auf, stülpte es um und ließ den Inhalt auf den Tisch fallen. Ein seltsames Sammelsurium kam zum Vorschein: gelochte Münzen und Steine, die auf ein Stück Schnur aufgefädelt waren, eine Vogelkralle, die Federn und Rädchen einer Taschenuhr, vor allem aber ein etwa spannenlanges Gerät, mit dem keiner der beiden Männer etwas anfangen konnte. In zierlich gedrechseltes Walnussholz gefasst war eine gläserne Sanduhr, nicht unähnlich einer gewöhnlichen Eier-Uhr, aber statt mit Sand waren beide Teile mit einer bröckligen, rotbraunen Masse gefüllt. Eine feste Masse jedenfalls war es, als Keith das Ding hervorholte, aber bei der Bewegung verflüssigte sich das Zeug wie Tomaten-Ketchup, wenn man die Flasche schüttelt. Es wurde hellrot, und in beiden Teilen schwebte inmitten der Flüssigkeit eine Luftblase, die aufgeregt hin und her sprang.
Im selben Augenblick ging ein Schlag durch den gesamten Tisch, den Tom – wäre der Tisch nicht aus Holz gewesen – für einen Stromschlag gehalten hätte. Beide Männer sprangen unwillkürlich zurück. Dabei rutschte die Phiole aus Keiths schweißnassen Fingern und zerbrach auf dem Boden. Die rote Flüssigkeit – in der Menge etwa ein Likörglas voll – rann heraus. Ein säuerlicher Dunst stieg daraus auf, der organisch oder chemisch sein mochte, und mit dem Dunst ein immer dichter werdender Nebel.
„Raus!“, schrie Tom, und beide stürzten zur Tür. Sie hatten sie kaum hinter sich geschlossen, als auf der anderen Seite etwas dagegenprallte. In dem Zimmer krachte und knisterte es, als schlurfe jemand durch Stroh und trete auf trockene Zweige. Dann wurden torkelnde Schritte hörbar und ein Anstoßen an Möbel, Wände und Tür, sodass Tom nicht anders konnte als sich vorzustellen, wie der Puppenkadaver blindlings im Raum herumstolperte und dabei überall anrannte. Ein bösartiges Summen wurde hörbar, als hätte jemand ein Hornissennest in das Zimmer geworfen. Nach etwa einer Viertelstunde jedoch wurden die Schritte und das Summen leiser und verstummten schließlich ganz. Was im Zimmer sein Unwesen trieb, hatte offenbar seine Batterien aufgebraucht.
Keith öffnete vorsichtig die Tür. Als er den Flügel aufschob, rutschte etwas Schweres dahinter beiseite – die ihres Herzens beraubte Puppe. Die Scherben der Phiole glitzerten im Sonnenlicht. Die Flüssigkeit, die sich darin befunden hatte, war in den Dielenboden und dessen Ritzen gesickert. Sie musste ätzend gewesen sein, denn sie hatte einen handtellergroßen, mit weißem Grind überzogenen Fleck in die Dielen gebrannt.
Aber es war die Verwandlung des Zimmers, die den beiden Parapsychologen klar machte, wie knapp sie durch ihre Flucht einem grässlichen Schicksal entgangen waren.
Es sah aus, als wären Jahrhunderte darüber hinweggegangen. Was immer in der Phiole gewesen war, hatte alle Lebenskraft aus dem Raum gesaugt, allen Glanz, alle Frische. Die Tapeten waren zu einem schmutzigen Graubraun verblasst und hingen in Fetzen an den Wänden. Der Teppich hatte sich in ein fahles Gewirr brüchiger Fäden verwandelt, die Vorhänge in missfarbene Lumpen. Selbst die Bodenbretter und das Holz der Möbel waren so ausgetrocknet, dass sie beinahe zu Staub zerfielen.
Weder Tom noch Keith sagten ein Wort. Sie wussten beide, was der Mexikaner vorgefunden hätte, wenn er sich von ihrer langen Abwesenheit alarmiert endlich wieder in die Mansarde gewagt hätte: zwei Häufchen dürrer Knochen, zwei verwitterte Totenschädel inmitten brüchiger Lumpen, die einmal Männerkleiung gewesen waren.
Keith stärkte sich mit einem Schluck aus seiner Taschenflasche, dann reichte er sie Tom, der – ganz gegen seine Gewohnheit – ebenfalls einen langen Schluck nahm. „Ist dir so etwas schon einmal begegnet?“, fragte er heiser. „Ich meine, weil du so rasch reagiert hast?“
Tom schüttelte den Kopf. „Nein, das war reine Intuition. Eine unbestimmte Ahnung hatte ich schon, als ich den toten Vogel sah, aber dann brach es einfach über mich herein. Schneller als ich denken konnte stand mir alles vor Augen. Der Vogel – der Gedanke daran, wie verdrießlich, wie verbittert und verhärtet Harlan Addison wurde, sobald die Gegenwart der Puppe ihre Wirkung zeigte – der Nebel …“ Plötzlich wandte er sich dem Freund zu. „Du hast mir noch nicht gesagt, wer Klein Harlan seinerzeit die Puppe geschenkt hat. Du wolltest es tun, aber da wurden wir vom Lärm des Vogels unterbrochen.“
Keith nickte. „Eine Freundin seiner Mutter schenkte sie ihm. Es gibt ein hässliches Gerücht, dass diese Frau ursprünglich eine Freundin des Vaters war, sogar seine Verlobte, und die spätere Mrs Addison ihr den Mann wegschnappte … dass sie sich gab, als hätte sie den Verlust längst überwunden, aber in Wirklichkeit von Hass und Bitterkeit zerfressen wurde, wenn sie das Familienglück sah, das eigentlich ihr hätte zuteilwerden sollen, und auf dem Umweg über das Kind Rache übte …“
Tom entnahm seiner Tasche einen geräumigen Plastiksack und schob die Puppe, ohne sie zu berühren, mit der Schuhspitze hinein. „Das Ding sollte jetzt wohl entschärft sein, dennoch würde ich es lieber verbrennen. Ich hoffe, die Besitzer werden nichts dagegen haben.“
„Nicht, nachdem sie die Mansarde gesehen haben“, erwiderte Keith und machte sich daran, seinen kalifornischen Freund anzurufen, damit der die Angelegenheit mit der Historical Society regelte.

Anmerkung
Der wirkliche Name der Puppe, die hier Toby genannt wird, lautet Robert, und ihr Besitzer war der amerikanische Maler Gene Otto, der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in Key West, Florida, USA, lebte. Die Puppe wurde ihm von seinem Kindermädchen zum Abschiedsgeschenk gemacht, als sie nach einem Streit mit seinen Eltern das Haus verlassen musste – einer Frau, die ursprünglich aus Jamaika stammte und vermutlich einige Kenntnisse des Voodoo besaß.
Vom ersten Augenblick an konnte sich Gene nicht mehr von der Puppe trennen, sie begleitete ihn überall hin, saß bei Tisch in einem Kinderstühlchen an seiner Seite und schlief nachts in seinem Bett. Dass er mit Robert redete, war bei alledem selbstverständlich. Was Dienerschaft und Eltern jedoch Angst einjagte, war, dass Robert offensichtlich antwortete. Jedenfalls wurden hinter der Türe des Kinderzimmers häufig Gespräche in zwei verschiedenen Stimmen gehört. Auch kam es im Haus immer wieder zu boshaften Streichen, für die Gene bestraft wurde, die er aber als Roberts Werk bezeichnete: “Robert hat es getan!“ Glas wurde zerschmettert, Diener auf ihren nächtlichen Rundgängen eingesperrt, Bettzeug zerrissen und zerknüllt. In tiefer Nacht hörte man eine Stimme kichern, die nicht Genes Stimme war.
Gene Otto verließ sein Elternhaus auch als Erwachsener nicht. Nach dem Tod seiner Eltern gehörte es zur Gänze ihm und Robert. In seinem Kinderzimmer, das sich in einem viktorianischen Türmchen des Hauses befand, war die Einrichtung niemals verändert worden, Möbel und Dekorationen mussten bleiben, wie sie in seiner Kindheit gewesen waren. Bald galt es als Spukzimmer. Nachts hörten Vorübergehende immer wieder das Gelächter einer hohen, schrillen Kinderstimme aus dem offenen Fenster dringen. Die beiden alten Leute, die als Einzige noch bereit waren, für den Künstler zu kochen und sein Haus zu besorgen, weigerten sich strikt, dem Turmzimmer in die Nähe zu kommen oder nach Sonnenuntergang im Haus zu bleiben.
Nach dem Tod seines Besitzers wurde Robert einem Museum in Key West zum Geschenk gemacht, wo er heute noch in seinem Glaskasten zu besichtigen ist. Übrigens ist die Puppe zu verkaufen. Wer Geld und Mut genug hat, kann sich bei der Museumsdirektion als Interessent melden.

Wenn Sie mehr über das »Spukhaus« lesen wollen, können Sie das in der Novelle GELIEBT IN EWIGKEIT, Band 12 der Reihe »Teezeitgeschichten«

24. Mar. 2015 - Barbara Büchner

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