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Der Ruf der Raben von Helene Reckling
Gaby Hylla © http://www.gabyhylla-3d.de Ludwig! Ludwig!, drang die melodische Frauenstimme in sein Bewusstsein. Ludwig! Komm zu mir!
Mühsam fand sein Verstand den Weg aus dem Tiefschlaf zurück. Seine braunen Augen öffneten sich flatternd und versuchten vergebens in der Dunkelheit etwas zu erkennen. Nur langsam entsann er sich, wo er sich befand. Er lag in seinem Bett, in seinem alten Zimmer in dem Landgut seiner Eltern.
Ludwig Mahlsdorf befand sich auf dem Heimweg von Hamburg, wo er geschäftlich zu tun hatte, nach Potsdam und wollte, wie versprochen, einige Tage mit seiner Familie verbringen. Er war spät am gestrigen Abend eingetroffen und nach einem kleinen Imbiss todmüde ins Bett gefallen.
Wieder hatte er diese Stimme gehört. Wieder hatte sie ihn gerufen. Seit seinem übereilten Umzug nach Potsdam vor drei Jahren hatte sie ihn verschont. Nun war er wieder auf Gut Mahlsdorf und <ĭ>sie rief ihn.
Damals hatte er geglaubt den Verstand zu verlieren und war nahezu geflüchtet. Das Angebot eines Freundes in dessen Handelskontor eine Stelle anzunehmen, schien seine Rettung.
Seine Großmutter hatte ihm früher oft erzählt, dass draußen, tief im Wald, eine Hexe lebte, die aus Rachsucht die Männer der Mahlsdorfs in den Wahnsinn trieb. Er war ein Mann von dreißig Jahren, stand fest im Leben und glaubte nicht an diesen Spuk! Er war vermutlich einfach überreizt und brauchte etwas Ruhe.
Als hätte sie seine Gedanken gelesen und als würde sie sein Unglauben amüsieren, vernahm er ihr glockenhelles Lachen. Ludwig!, rief sie in einer Art Singsang. Komm zu mir!
Mit einem gedämpften Wutschrei warf er sich auf die Seite, zog die Decke über den Kopf und kniff die Augen fest zusammen. Sie existierte nicht! Höchstens in seiner Fantasie.
Du weißt, dass du mir nicht entkommen kannst!, provozierte sie ihn.
Lass mich in Ruhe!, fauchte er.
Wieder lachte sie übermütig. Niemals! Irgendwann wirst du zu mir kommen!
Ludwig Mahlsdorf knurrte ungehalten. Lass mich endlich in Ruhe!
Als der junge Mann am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich erschöpft und unausgeruht. Sein Kopf schmerzte und seine Stimmung war wenig gesellig.
Am Frühstückstisch empfing ihn das fröhliche Geplapper seiner Mutter und seiner Schwestern. Als er eintrat, stürzte sich die 16-jährige Annemarie mit lautem Freudengeheul in seine Arme. Sie war bei seinem Eintreffen schon zu Bett gewesen und hatte erst am Morgen von seiner Ankunft erfahren. Vermutlich konnte er froh sein, dass sie ihn nicht aus dem Schlaf gerissen hatte, um ihn zu begrüßen.
Annemarie war die Jüngste und bei weitem wildeste der vier Mahldorf-Sprösslinge. Sie vergötterte ihren großen Bruder und hielt sich wann immer möglich in seiner Nähe auf. Ludwig! Endlich! Wenn du nicht in den nächsten Minuten aufgestanden wärest, wäre ich dich wecken gekommen! Wollen wir nach dem Frühstück ausreiten? Bitte sag ja! Der kleine Rotschopf hing in seinen Armen und sah ihn erwartungsvoll aus diesen großen, grünen Augen an, wohl wissend, dass er ihr keinen Wunsch abschlagen konnte.
Gerne, erwiderte er und versuchte sich an einem fröhlichen Lächeln. Zufrieden ließ Annemarie ihren Bruder los und nahm wieder Platz.
Nachdem er auch die restlichen Familienmitglieder begrüßt hatte, setzte er sich ebenfalls. Wie gewöhnlich herrschte entgegen jeder Konvention rege Gesprächigkeit. Bald wurde er nach den Geschäften gefragt, bald nach den Damen in Potsdam und warum es noch keiner gelungen war, ihn an sich zu binden. Es wurde gelacht und gescherzt. Es gelang dem Sohn des Hauses sogar, für einige Minuten die Frauenstimme zu vergessen, die ihn wieder an seinem Geisteszustand zweifeln ließ.
Annemarie! Nicht so wild!, rief Ludwig Mahlsdorf seiner jüngeren Schwester nach, die ihre Fuchsstute gerade zum Galopp antrieb. Sein Brauner hatte keine Schwierigkeiten Schritt zu halten, doch es ängstigte ihn, dass das Mädchen so unbesonnen war. Das Gelände wurde hier uneben und das Pferd konnte sich leicht vertreten. Annemarie!
Du Langweiler!, rief sie ihm über die Schulter zu, zügelte ihre Stute aber zu einem gemäßigten Trab. Als er zu ihr aufschloss, funkelte er sie böse an. Du weißt genau, dass du nicht so wild sein sollst!
Schimpf nicht! Genieß lieber den schönen Tag! Ihr Lachen war übermütig und zeigte keinerlei Reue. Lass uns durch den Wald reiten! Im Herbst ist er wunderschön! Ich verspreche auch, brav zu sein. Tatsächlich ließ sie ihr Pferd im Schritt gehen, sobald sie den Wald erreicht hatten.
Hier war es herrlich friedlich. Ein leichter Wind bewegte die Äste der alten Eichen und ließ ihre sich bereits in allen Farben des Herbstes präsentierenden Blätter geheimnisvoll rauschen. Der Hufschlag der Pferde wurde auf dem weichen Waldboden gedämpft.
Annemarie Mahlsdorf seufzte glücklich. So viel Schönheit gibt es auf keinem Ball der Welt!
Ludwig nickte zustimmend. Leider gehören Bälle zu unseren gesellschaftlichen Verpflichtungen.
Das Mädchen schnaubte. Ich könnte darauf verzichten.
Ihr Bruder teilte diese Ansicht, schwieg aber.
Eine Weile ritten die Geschwister schweigend nebeneinander her, jeder in seinen eigenen Gedanken verloren. Erst der laute Ruf eines Raben in ihrer unmittelbaren Nähe brachte beide wieder ins Hier und Jetzt zurück. Beide sahen sich suchend um.
Sieh mal!, rief Annemarie Mahlsdorf überrascht aus und deutete nach links. Dort flatterten in etwa zwanzig Metern Entfernung gut zwei Dutzend Raben durcheinander. Ihr schwarzes Gefieder bildete einen beinahe undurchsichtigen Vorhang. Ihr Rufen wirkte beängstigend.
Das Mädchen hatte ihr Pferd angehalten und starrte mit offenem Mund zu dem Schwarm hinüber. Der Anblick war unheimlich. Eine eisige Gänsehaut überlief sie. Lass ... lass uns heimreiten, ja? Das ist gruselig. Sie sprach leise, sodass ihre Stimme über den Lärm der Vögel hinweg kaum zu verstehen war. Ludwig, bitte! Die Raben machen mir Angst! Das Mädchen wendete ihr Pferd und sah auffordernd zu ihrem älteren Bruder.
Seine braunen Augen hingen an den Vögeln. Er hatte noch etwas gesehen, das seiner Schwester hoffentlich entgangen war. Über den Lärm der Vögel hinweg vernahm er wieder dieses Lachen, <ĭ>ihr Lachen.
Ludwig, bitte!, flehte Annemarie beinahe in Tränen.
Urplötzlich löste sich einer der großen Vögel aus der Gruppe und hielt geradewegs auf Annemarie Mahlsdorf zu, wobei er ihren Kopf nur um Zentimeter verfehlte. Der Vogel schrie. Das Mädchen schrie. Die Pferde scheuten und verfielen augenblicklich in einen scharfen Galopp, jedes in eine andere Richtung.
Die jüngste Mahlsdorf-Tochter schrie weiter aus Leibeskräften und klammerte sich verzweifelt an ihrer Stute fest.
Ludwig Mahlsdorf zerrte hektisch an den Zügeln und fluchte dabei gotteslästerlich. Wieder kam einer der großen Vögel auf ihn zu, sein Pferd scheute, stieg auf die Hinterbeine und schlug mit den Vorderhufen nach dem Raben.
Der junge Mann verlor den Halt, rutschte aus dem Sattel und stürzte mit einem dumpfen Aufprall zu Boden, der ihm die Luft aus den Lungen presste. Für einen Augenblick konnte er sich nicht rühren.
Sein Pferd wieherte panisch, machte kehrt und ergriff die Flucht, wobei einer seiner Hufe ihn am Kopf erwischte. Das Letzte, was er vernahm, bevor er in eine tiefe Bewusstlosigkeit fiel, war der Rabe, der neben ihm landete und näher hüpfte.
Eine zarte Hand strich ihm über die Stirn, während eine sanfte Stimme liebevoll auf ihn einsprach. Ihre Berührung ließ den Schmerz in seinem Kopf abebben und der Klang ihrer Stimme beruhigte seine strapazierten Nerven. Sein Körper fühlte sich angenehm leicht und schmerzfrei an. Nichts schien ihn zu berühren.
Seine Lider hoben sich flatternd und seine Augen sahen zu ihr auf. Das Erste, was er sah, waren ihre dunklen, durchdringenden Augen, die in einer Mischung aus Fürsorge, Triumph und Schadenfreude auf ihn herabblickten. Ihr kleiner Mund wirkte unnatürlich rot in dem milchigen Weiß ihres Gesichts, das von dichten, schwarzen Locken umrahmt wurde. Ihre Schultern waren nackt. Noch mehr makellose, schneeweiße Haut, die nur unzulänglich durch ein durchsichtiges, schwarzes Seidenkleid verdeckt wurde. Um den Hals trug sie einen künstlerischen Kragen, der durch flügelschwingende, schwarze Raben geschmückt wurde. Ihre Endlosbeine steckten in schwarzen Netzstrümpfen, die mit Kreuzbändern versehen waren. Ich habe dir doch gesagt, dass du eines Tages zu mir kommen würdest!, sagte sie leise, geradezu neckend.
Seine Lippen öffneten sich, er konnte aber kein Wort hervorbringen. Auch seine Versuche sich aufzusetzen scheiterten kläglich.
Na na! Beweg dich nicht, mein Liebling! Ihre Linke legte sich auf seine Schulter und drückten ihn sanft zu Boden, dann legte sie sich wieder auf seine Stirn.
Ludwig Mahlsdorf spürte, wie ihn ein tiefer Frieden erfüllte. Seine Augen schlossen sich und er stieß die Luft in einem letzten, tiefen Seufzen aus.
Die junge Frau beugte sich über ihn, berührte seine Lippen kurz mit den ihren, bevor sie sich wieder aufrichtete, den Kopf in den Nacken legte und ihre Raben rief.
Schon war die Luft erfüllt von Flügelschlag und einem vielstimmigen Raab Raab. Der Schwarm ging über der Szene nieder, und als er sich kurz darauf wieder erhob, war in ihrer Mitte ein weiterer Vogel aufgenommen.
Tiefe Trauer und bedrückende Stille beherrschten Gut Mahlsdorf. Seine Bewohner betrauerten den Verlust des einzigen Sohnes der Familie, der vor wenigen Tagen bei einem Reitunfall ums Leben kam. Seine Eltern und Schwestern waren untröstlich. Die Zeit schien stillzustehen und der Alltag hatte jede Relevanz verloren.
Die Bediensteten huschten durchs Haus, bemüht kein unnötiges Geräusch zu machen. Sie litten mit ihren Herrschaften, war der junge Herr doch gütig und gerecht gewesen. Doch des Abends, in der Gesindestube, schworen sie einander, <ĭ>sie hätte ihn geholt, so wie sie es am Tag seiner Geburt geschworen hatte.
Die Gebieterin der Raben war an jenem kalten Januartag erschienen und hatte dem frisch gebackenen Vater geschworen, sie würde ihm seinen Sohn nehmen als Rache dafür, dass er sie verschmäht hatte. Der hatte die Drohung nicht für bare Münze genommen nicht einen weiteren Gedanken daran verschwendet, bis er und einige Männer seinen leblosen Sohn im Wald gefunden hatten. Seither dachte er an nichts anderes mehr. Seit der Beerdigung am Vortag saß er in Schweigen gehüllt in seinem Studierzimmer. Weder seine Frau noch seine Töchter konnten zu ihm durchdringen.
Vor dem Fenster senkte sich langsam die Nacht über das Land. Der Wind nahm zu und heulte um das große Haus.
Etwas klopfte gegen das Fenster, das darauf aufsprang und ein großer, schwarzer Rabe kam hereingeflattert. Als er auf dem polierten Holzfußboden landete, verwandelte er sich in die Herrin der Raben. Guten Abend!, begrüßte sie ihn mit dieser sanften, melodiösen Stimme.
Warum hast du das getan?, flüsterte der Vater mit brüchiger Stimme.
Ich habe es dir geschworen, mein Liebling. Und ich habe bisher noch immer mein Wort gehalten. Doch sei beruhigt. Deinem Ludwig geht es gut bei uns. Er ist glücklich. Die Frau wies mit dem Kinn zum offenen Fenster hinüber. Sein Blick folgte der Geste und dort auf der Fensterbank saß völlig regungslos ein zweiter Rabe. Seine dunklen Augen beobachteten ihn aufmerksam. Etwas an ihm schien unheimlich vertraut.
Bevor der Vater etwas sagen konnte, verwandelte <ĭ>sie sich wieder. Beide Raben krächzten laut, breiteten die schwarzen Flügel aus, erhoben sich in die Lüfte und entschwanden gemeinsam in der Ferne.
20. Sep. 2015 - Helene Reckling
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