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Der Tag an dem die Welt verduftete von Ellen Norten
Heiko Schulze © http://www.falpico.wordpress.com Der Gestank war unerträglich; Kot, Urin und der Geruch nach billigem Klostein. Die öffentliche Toilette mußte noch knapp einen Kilometer entfernt sein, doch H. konnte ihre Ausdünstungen bereits riechen. Wahrscheinlich war das WC am Waldrand wieder seit Tagen verstopft. Das kam in den letzten Monaten häufiger vor, denn die Stadt mußte sparen und wartete ihre öffentlichen Bedürfnisanstalten seither deutlich seltener. H. bog in einen Seitenweg ab und entfernte sich so vom Ausgangsort der Pestilenz. Nach einigen Metern überwog wieder der Geruch nach frischem Laub und feuchter Erde. Darüber mischten sich einige Duftkomponenten die zusammen den für H. typisch-angenehmen Herbstgeruch ausmachten. H. atmete tief ein, die frische Brise tat ihm gut. Er setzte seinen Spaziergang fort und begann sich langsam zu entspannen. Das fiel ihm in den letzten Jahren zunehmend schwerer und schuld daran waren die Gerüche, auf die er immer sensibler reagierte.
H. hatte schon früher eine feine Nase besessen. Er konnte sich heute noch, nach fast 50 Jahren an den Geruch des Putzmittels erinnern, mit dem seine Mutter den speziellen Fußbodenbelag im Treppenhaus pflegte. Schon als Kind hatten Wohnungen für H. ihren eigenen unverwechselbaren Duft. Diese Erinnerungen waren für ihn schön, denn er verband mit solchen Gerüchen Besuche bei den Großeltern oder bei seinen Freunden. Doch dann vor einigen Jahren hatte sich sein Geruchssinn verändert. Kurz nach dem H. mit dem Rauchen aufgehört hatte, begann er auf einmal Dinge zu riechen, die andere Menschen überhaupt nicht wahrnahmen. Wie dieses vermaledeite Toilettenhaus. Seine Freunde hatten ihm solche Geruchseindrücke zunächst nicht einmal geglaubt und seine Frau, die Biologin verglich ihn lachend mit einem Insekt. Manche Schmetterlinge können ihren Geschlechtspartner noch auf einige Kilometer Entfernung riechen, Ihnen reichen wenige Moleküle um die Duftspur zu ihrem Partner aufzunehmen, dozierte sie amüsiert.
H. konnte darüber nicht lachen, denn sein empfindlicher Geruchssinn trieb ihn langsam in die Isolation. Öffentliche Verkehrsmittel waren Tabu. Das Sammelsurium aus Parfüms, Duschgels, Waschmitterückständen, Knoblauch, Schweiß und Mundgeruch verpestete für H. die Luft in Bus und Bahn und nahm ihm schier den Atem. Selbst hier im Wald blieb er vor solchen Duftattacken nicht verschont, wie das Ehepaar bewies, dass ihm nun auf dem Waldweg begegnete. Die Frau war parfümiert, irgendein teurer Designerduft, vollsynthetisch konzipiert, der durch die Nase direkt ins Gehirn schoß. Als die beiden auf seiner Höhe waren, bekam H. einen Hustenanfall. Die beiden schauten sich irritiert an und machten eine vermutlich abfällige Bemerkung. Natürlich konnten sie nicht verstehen, was im Moment geschah und was die Parfümkreation bei H. anrichtete. Die Duftmoleküle überlagerten alle anderen Sinneseindrücke und starteten ein Feuerwerk in seinem Kopf. H. drückte hilflos die Hände an seine Schläfen und hastete so schnell wie möglich vorwärts um der fatalen Parfümwolke zu entkommen.
Sein Weg führte ihn direkt nach Hause. H. war deprimiert. Selbst der Wald wurde für ihn langsam zum gesundheitlichen Risiko. Es gab einfach keinen geruchsfreien Raum. Es gab Stille, es gab Dunkelheit, doch den Gerüchen der Umgebung konnten seine Sinne nicht entgehen. Warenhäuser wurden künstlich beduftet, in Taxis überdeckten sogenannte Duftbäume den Schweißgeruch von Fahrer und Fahrgast. Es herrschte eine wahre Duftinflation. Selbst in der Werbung wurde auf den neuen vollsynthetischen Frischeduft gesetzt.
Der einzig nahezu sichere Ort waren die eigenen vier Wände, denn nur hier hatte H. annähernd die Kontrolle über die Qualität seiner Atemluft. Mit dicken Vorhängen vor Türen und Fenstern versuchte H. sein Haus vor den Gerüchen der Außenwelt zu schützen. Er selbst benutzte geruchsneutrale Seife und unparfümiertes Waschpulver. Doch je mehr er Gerüche mied, umso feiner wurde seine Nase. Kam ein Freund zu Besuch, so roch er diesen schon, bevor dieser überhaupt geklingelt hatte. War dann der Freund in seinem Zimmer, so erschnupperte H. unfreiwillig die Aktivitäten, die der Freund zuvor unternahm: Ein Besuch im Schnellimbiss, in der Autowerkstatt oder im Fotokopierladen - jede Lokalität hatte ihren eigenen Duft am Körper des Freundes hinterlassen. Dabei konnte es durchaus geschehen, dass auch Details mitgeliefert wurden, die man mit man mit Fug und Recht als intim bezeichnen durfte. So passierte es eines Nachmittags, dass ein Freund bei H. Rat suchte und ihm gestand, seine Frau zu betrügen. Das Geständnis war für H. keine Überraschung. Er hatte es bereits ganz konkret gerochen und wußte sogar, wer die Geliebte des Freundes war, bevor dieser ihm ihren Namen nannte. Die Frau stammte nämlich aus dem gemeinsamen Freundeskreis und H. kannte ihren Geruch. Nun überlagerten sich die beiden Gerüche also bei seinem Freund, H. zählte eins und eins zusammen und griff dem Freund im Gespräch voraus. Er lag richtig, doch der Freund war hierrüber irritiert und H. schämte sich für die indiskrete Äußerung. Aber er konnte die Gerüche um sich herum einfach nicht ignorieren, die Duftbuketts erzählten ihm ihre eigene Geschichte eine Geschichte, die in keiner anderen Form so eindringlich für H. sein konnte.
Abends sprach H. mit seiner Frau über die Begebenheit. Die war keineswegs erstaunt darüber und verwies wieder einmal ins Reich der Tiere. Die Tierwelt würde von Gerüchen bestimmt, erklärte sie. Wie könne der blinde Maulwurf denn anders sein Weibchen finden? Oder der Löwe seine Beute wittern? Die meisten Tierarten würden ohne Geruchssinn aussterben. Nur beim Menschen spiele der Geruchssinn eine untergeordnete Rolle und würde deshalb fatalerweise in seiner Bedeutung unterschätzt führte sie weiter aus, denn Gestank würde schließlich auch warnen.
Das kannte H. nur allzu gut. Wenn im Viertel die Biotonnen geleert wurden konnte er mehrere Stunden lang das Haus nicht mehr verlassen. Der verwesende Inhalt stank nicht nur, er gefährdete mit seinen Pilzsporen und Fäulnisgasen auch Umwelt und Gesundheit. Doch darauf achtete heute kaum noch jemand. Stattdessen wurden viele natürliche Gerüche mit synthetischen Düften übertüncht. H. roch jede dieser Einzelheiten, ob er es wollte oder nicht.
Eigentlich hätte er mit seiner Fähigkeit bei Wetten dass auftreten können, gleich mit mehreren Wetten im Angebot: So konnte er mit verbundenen Augen sicher über 100 Menschen seiner Umgebung allein am Geruch identifizieren. Oder Verpackungsmaterialien erkennen: H. wußte welches Tafelwasser in welche Flaschen abgefüllt wurde, die modernen Plasikflaschen hinterließen alle ein für H. typisches Aroma im Getränk. Selbst Glasflaschen hatten für H. ihren besonderen Duft. Ein Schluck Wasser reichte aus und er konnte sowohl den Markennamen, als auch das Flaschenmaterial benennen. Doch H. hatte keine Lust mit seinen Fähigkeiten anzugeben. Außerdem wäre ein Auftritt im Fernsehen auch viel zu gefährlich. Was wäre wenn der Moderator ein Rasierwasser benutzen würde, oder die Gäste auf der Couch ihn mit ihren Parfüms die Luft verpesteten? Nein, da ging H. lieber zu seiner Astronomiegruppe. Einmal in der Woche traf sich ein Kreis älterer Herren in der alten Sternwarte der Universität. Gemeinsam wurden dann die eigenen Sternbeobachtungen ausgetauscht. Und natürlich wurden die anstehenden Himmelsereignisse wie besondere Konstellationen der Himmelskörper, Sternschnuppen oder vielleicht sogar das Erscheinen eines Kometen ausführlich diskutiert. Die Herren waren eher bodenständig, um nicht zu sagen hausbacken was für H. den großen Vorteil mit sich brachte, dass keiner von ihnen raffinierte Herrendüfte benutzte. Die einzige Geruchsquelle im Raum war gleichzeitig der Stolz der Hobbyastronomen: In einer doppelt gesicherten Glasvitrine lagerte ein winziger Meteorit, besser gesagt ein Körnchen eines Meteoriten, der vor einigen Jahren in Bayern im Garten eines Bauern gelandet war. H. nahm deutlich die Zusammensetzung des Objekts wahr. Der Geruch nach Rost, da das Gestein Eisen enthielt; dazu eine metallische Komponente nach Nickel mit einer Spur von Aluminium. H. hatte dieses Duftbouquet den anderen Hobbyastronomen beschrieben und bei ihnen damit großen Eindruck gemacht. Denn obwohl H. die genaue Zusammensetzung des Meteoritensplitters nicht kannte, hatte er dessen chemische Zusammensetzung allein über den Geruchssinn liefern können.
In den letzten Monaten nahm H. im Freien einen Geruch wahr, der stark an den des Meteoriten in der Sternwarte erinnerte. Allerdings war dabei der Eisenanteil höher und auch ein Rest von Ammoniak war deutlich vertreten. Zunächst trat der Geruch nur sporadisch auf, dann einen Monat später roch er ihn ständig und stellte zudem fest, dass der Geruchseindruck zunehmend stärker wurde. H. konnte sich das Phänomen nicht erklären. Er dachte an Bauarbeiten, bei denen vielleicht Gesteine vulkanischen Ursprungs freigelegt wurden. Doch als H. einmal seine Schwester besuchte, die fast 200 km von ihm entfernt lebte, war der Geruch dort genau so vorhanden und damit waren die Bauarbeiten als mögliche Ursache für den Geruch wiederlegt. H. grübelte und grübelte und landete dann bei einem fast absurden Gedanken. Was wäre wenn die Geruchsquelle gar nicht auf der Erde, sondern im Weltall liegen würde, wenn sich ein Meteoroid oder gar ein Asteroid der Erde nähern würde? Laut Internet entsprach das von ihm wahrgenommene Duftbouquet durchaus der chemischen Zusammensetzung eines Asteroiden. Doch die Entfernung zu einem der in Frage kommenden Objekte war einfach zu groß. Er verwarf die Idee wieder und suchte nach anderen Erklärungen - vergebens. Der Geruch nahm zu und H. konnte das Phänomen nicht mehr ignorieren. Immer wieder kam ihm der Asteroid in den Sinn. Was wäre, wenn dieser seine Bahn änderte, näher an der Erde vorbeiflöge oder gar auf diese zuraste? Als er diese Fragen in der Astronomiegruppe stellte, stieß er nur auf Kopfschütteln und Gelächter. Die Beobachtungen der Weltraumteleskope seien ja wohl eindeutig: Keine Gefahr! H. hätte zweifelsohne eine feine Nase, aber diesmal mache er sich nur lächerlich. Frustriert ging H. heim. Er setzte sich an den Computer und recherchierte selbst die nächsten Asteroiden. Die NASA und auch die europäische Weltraumorganisation machten dazu klare Angaben. Alles in weiter Ferne, keine Gefahr für die Erde. Weitere Fragen zum Thema konnte man sogar direkt per e-Mail an die Weltraumorganisationen absenden. H. überlegte hin und her, wie er sein Anliegen, ja seine Sorge formulieren könne. Dann faßte er dies in zwei knappen Sätzen zusammen:
Achtung, es gibt eine Gefahr durch einen Asteroiden. Der Asteroid hat bereits die Atmosphäre der Erde verändert!
H. wartete vergeblich auf eine Antwort. Stattdessen bestätigte nach gut 3 Wochen die BILD Zeitung seinen Verdacht. Da hieß es in Riesenlettern: Das Ende der Welt naht Asteroid rast auf Erde zu. Es blieb nicht bei dieser Schlagzeile; Sondersendungen im Fernsehen folgten. Politiker gaben hilflose Kommentare zum bevorstehenden Himmelsereignis. Der Katastrophenschutz lieferte Evakuierungsspläne, die beim genaueren Hinsehen völlig sinnlos waren. Die Kirche sprach vom Tag des Jüngsten Gerichts und die Menschen gerieten in Panik. H. konnte den Asteroiden inzwischen mit bloßem Auge sehen und der zunächst winzige Punkt am Firmament wurde jeden Tag größer. Makaberer Weise bescherte ihm der Duft des Himmelskörpers jedoch eine gewisse Lebensqualität. Der gleichförmige Geruch, der mittlerweile für ihn alle anderen Gerüche überlagerte führte bei H. zu einer Beruhigung der Sinne. Die schlimmen Hustenanfälle blieben aus und in seinen gereizten Nerven bereitete sich eine nie gekannte Ruhe aus. So war er dem Asteroiden in einer Art traurigen Resignation sogar dankbar. Statt Angst zeigte H. zunehmend Gelassenheit wenn er dem stetig wachsenden Ball am Himmel entgegen sah. Dann ging alles sehr schnell. Zunächst setzte ein ohrenbetäubendes Getöse ein, danach breitete sich Dunkelheit aus. Der Einschlag selbst war ein riesiger Lichtblitz. In einer gigantischen Explosion riß die Erde auseinander. Kleine und größere Brocken schossen mit unvorstellbarer Geschwindigkeit in sämtliche Himmelsrichtungen. H. wußte nicht, ob er träumte oder schon tot war. Als er in den Tiefen des Universums seinen letzten Atemzug nahm, geschah es das erste Mal, daß H. überhaupt keinen Geruch wahrnehmen konnte. Das Vakuum des Weltalls hatte ihm seinen letzten großen Wunsch erfüllt.
aus Abschied von Bleiwenheim, Anthologie AndroSF 36, p.machinery, Murnau 2013
15. Dez. 2015 - Ellen Norten
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