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Séance
von Susanne Posse

Wolfgang Sigl Wolfgang Sigl
© http://www.wolfgangsigl-grafiken.de/
„Jetzt mach schon, alle warten nur auf dich!“, zischt Monika.
„Ja doch!“ Wie kann man diesen Quatsch nur so ernst nehmen? Folgsam nehme ich meine Bierflasche vom Tisch, um Platz zu machen.

Ich werfe Diana einen Blick zu. Die verdreht die Augen in Richtung Monika und Tanja, die sich beide mit dem Séance-Brett beschäftigen.
Aus dem Wohnzimmer hören wir laute Musik. Die Jungs hatten keine Lust zu dem Hokuspokus, allmählich frage ich mich auch, wieso ich mich dazu habe überreden lassen, mit drei bekloppten Weibern eine Séance zu veranstalten! – Nein, streichen wir drei – nur zwei davon sind bekloppt: Monika und Tanja, Diana ist in Ordnung und lediglich mit von der Partie, weil sie genau so angetüddert ist wie ich.

Monika stellt ein Schnapsgläschen verkehrt herum auf das runde Brett und sagt bedeutungsschwer: „Jetzt legt alle euren linken Zeigefinger auf das Glas.“ Vier gut manikürte Fingernägel treffen sich. Monika schließt die Augen und konzentriert sich – seeehr wichtig! Tanja lässt das Brett nicht aus den Augen, sie wirkt angespannt. In die Stille hinein steckt sich meine liebe Freundin Diana den anderen Zeigefinger in den Hals und tut so, als müsste sie kotzen, woraufhin ich natürlich loslache.

Monika wirft mir einen bösen Blick zu. „Wenn du das nicht ernst nimmst, brauchen wir gar nicht erst anzufangen!“, sagt sie. Ihre Busenfreundin Tanja nickt strafend. Auch Diana sieht mich tadelnd an und macht „ts-ts-ts“.
Scheinheiliges Luder! Ich fühle schon wieder ein Glucksen in mir aufsteigen und hebe meine Hände. „Schon gut, soll nicht wieder vorkommen.“ Ein letztes Kichern kitzelt mich im Hals.

Wir legen alle wieder unsere Zeigefinger auf das Glas und Monika holt tief Luft. Ich werfe einen Blick auf meine Armbanduhr: Maaann, schon kurz nach Mitternacht, wenn das hier in diesem Tempo weitergeht, haben die Jungs das ganze Bier ausgetrunken, bis wir fertig sind.

Da endlich öffnet Monika wieder ihre Augen, wenn auch nur halb, sie sieht irgendwie ein bisschen high aus. „Lasst uns anfangen“, sagt sie mit Grabesstimme. Gegen meinen Willen bekomme ich eine Gänsehaut.

Monika zögert nicht, sondern fragt routiniert: „Ist jemand da?“ Wir alle fixieren das Schnapsglas.

Das gibt nie was: Unsere Fingerspitzen liegen nur ganz leicht am Glasrand. Selbst wenn ich aus Spaß ein bisschen daran herumschubsen wollte, könnte ich es nie gezielt in die Richtung eines Buchstabens bugsieren, genauso wenig wie die anderen.

Ich kann trotzdem meine Augen nicht von dem Brett abwenden – es ist scheinbar sehr alt und wurde schon häufig benutzt. Woher – zum Donnerwetter – hat Monika, diese Langweilerin, so was Abgefahrenes wie ein antikes Séancebrett? Die Buchstaben und Zahlen sind schon ein bisschen verblasst, ebenso die beiden einzigen Wörter darauf: „Ja“ und „Nein“. Dunkelrote Schrift auf dunklem Holz – die Umrisse waren offenbar mal vergoldet.

„Ist da jemand?“, fragt Monika noch einmal. Unter meinem Finger zuckt es ein bisschen. Meine Aufmerksamkeit kehrt zum umgedrehten Schnapsglas zurück, das sich jetzt in Bewegung setzt und langsam aber stetig in Richtung „Ja“ rutscht. Ich hebe eine Braue und sehe zu Diana hinüber, die jedoch nur auf das Brett glotzt.

„Wer bist du?“, flüstert jetzt Tanja – seit wann hat die denn was zu sagen? Oder dürfen wir hier jetzt alle lustig durcheinander quasseln? Mann, hätte ich gerne eine Zigarette! – Das Gläschen ruckt wieder leicht, gleitet dann geschmeidig und ohne zu schwanken zu einem der Buchstaben: G. Monika und Tanja sagen beide andächtig: „G.“

Ich schüttele den Kopf, widerstehe jedoch der Versuchung, sie darüber aufzuklären, dass ich Augen im Kopf habe. Weiter geht's: E. Ich flüstere leise: „Ich kaufe ein R.“ Diana lacht – aber ehrlich gesagt klingt das ein bisschen hysterisch. Unbeeindruckt von meiner Respektlosigkeit fährt das Gläschen selbstbewusst aufs O, dann tatsächlich aufs R zu, um wieder zum G zurückzukehren. „Georg“, stellen Monika und Tanja fest. Ich nicke. Ich kannte mal einen echt doofen Georg – aber das ist jetzt vielleicht nicht der richtige Moment für einen Schwank aus meinem Leben.

„Georg, was führt dich zu uns?“, fragt Monika. Sie ist in ihrem Element, ganz das Medium. Das Glas schiebt wieder los und bildet nach und nach einen zweiten Namen: „Torsten“. Ich stutze. Alle gucken mich an. Ich stehe sofort auf, um nach nebenan zu gehen.
Mein Freund hockt vor den CDs und lamentiert gerade lautstark, dass es in dieser Wohnung keine einzige Platte mit auch nur annähernd akzeptabler Musik gäbe, als ich ihn leise bitte, mit rüberzukommen. Er runzelt die Stirn. „Was ist denn? Ich hab' doch gesagt, ich habe keinen Bock auf so was.“
„Es ist aber ...“ Fast hätte ich gesagt: ‚Es ist aber für dich', dann fällt mir auf, dass wir hier nicht von einem Telefonanruf sprechen. Also sage ich: „Es ist aber wichtig. Nur ganz kurz, komm schon.“

Torsten trottet hinter mir her, und als wir in der Küche ankommen, nimmt er das Bild der um den Tisch sitzenden Geisterbeschwörer grinsend in sich auf. „Ob ihr sie wohl noch alle habt?“, fragt er.
Ich drücke ihn auf den freien Stuhl zwischen Monika und Tanja. „Du musst dir das einfach angucken. Hier ist eben ein ... äh ... jemand aufgetaucht, der Georg heißt und uns was über einen Torsten erzählen will.“
Entgegen meinen Erwartungen fängt Torsten nicht an zu lachen, sondern hält sich an der Tischkante fest, als wäre er auf hoher See und die Wellen würden ihn jeden Moment vom Stuhl reißen. „Wer?“
„Georg. Kennst du einen?“
Er blinzelt kurz. „Äh – nee. Kenn keinen Georg.“
Monika wirft ihm einen Blick zu, der zu sagen scheint: „Wem willst du was vormachen, Freundchen?“
Langsam wird mir mulmig. Ich hatte gedacht, Torsten würde ein paar zynische Bemerkungen ablassen und die ganze Geschichte würde sich dadurch in Wohlgefallen auflösen, aber stattdessen sitzt er da, als hätte er – einen Geist gesehen!

Monika zeigt auf meinen Stuhl: „Setz dich wieder, wir müssen weitermachen. Georg ist noch immer da.“
Ich nehme meinen alten Platz wieder ein. Langsam lege ich den Zeigefinger zurück auf das Glas. Monika sagt: „Torsten ist jetzt hier, Georg. Willst du ihm etwas sagen?“

Das Glas fängt wieder an, sich zu bewegen. Erst ganz langsam und in kleinen Kreisen, ohne auf irgendeinen bestimmten Buchstaben zuzusteuern. Dann werden die Bewegungen schneller, die Kreise größer – es dreht sich und dreht sich und ich muss meinen Arm strecken, um den Kontakt nicht zu verlieren. Schließlich ziehe ich meinen Finger zurück, genauso wie Diana, nur Tanja und Monika haben die Finger noch auf dem Glas, das mit einem Mal vom Tisch springt und dann an der Wand zerschellt.

Wir starren auf die Splitter. Niemand sagt ein Wort. Bis wir plötzlich ein ungesundes Würgen hören: Monika scheint das Spektakel doch auf den Magen geschlagen zu sein; es sieht aus, als würde sie gleich auf den Tisch brechen. Sie würgt noch ein bisschen, öffnet ihren Mund und spuckt – eine Schraube in ihre offene Hand.

Faszinierend. Fünf Leute glotzen auf eine ziemlich große, schleimige und vor allem rostige Schraube. Wie hat sie es bloß fertig gebracht, die zu verschlucken?!

Torsten macht ein komisches Geräusch. Als ich zu ihm hinsehe, ist er kreidebleich. Er klappt den Mund auf und zu, aber es kommt kein Ton heraus. Ich will gerade aufstehen, um zu ihm hinzugehen, als er hochspringt und aus der Küche rennt.

Na toll! Wann habe ich eigentlich aufgehört in der Welt der Normalen zu leben? Plötzlich fliegen Gläser durch die Luft, werden Schrauben ausgespuckt und mein Freund verlässt die Party einfach ohne mich. Ich hole meine Jacke und gehe ihm nach.

***

Torsten läuft, bis ihm die Luft ausgeht. Kurz vor der Hauptstraße bleibt er stehen, lehnt sich an eine Häuserwand, beugt sich vor und ringt keuchend nach Atem. Er muss husten und hat das Gefühl, als schmecke er Blut. Langsam rutscht er an der Hauswand hinunter und bleibt dort hocken. Sein Herz hämmert, Tränen laufen ihm über die Wangen, er wischt sie wütend weg.

„Schlechtes Gewissen?“, hört er Georg leise fragen. Die Gänsehaut, die seine Unterarme überzieht, kommt und geht in Wellen. Ein Schluchzen will aus seinem Hals, er wippt langsam auf den Hacken vor und zurück. Vor und zurück, vor und zurück – wie damals auf der Schaukel. Er schließt die Augen. Alles ist wieder da:

Sie waren zwölf. Jeden Abend, kurz bevor sie nach Hause mussten, veranstalteten sie ein Wettschaukeln. Georg gewann immer – einfach immer, weil er mutiger war und so hoch schaukelte, dass er sich fast überschlug. Anschließend machten sich alle lustig über Torsten, weil er sich wieder nicht getraut hatte mitzuhalten. – Wenn er doch nur ein einziges Mal dieses Scheiß-Wettschaukeln gewinnen könnte!
An jenem Donnerstag war er eine halbe Stunde vor den anderen zum Spielplatz gegangen. Er hatte an der linken Schaukel die rostige Schraube, die die Halterung von einem der Seile hielt, so weit gelöst, bis sie nur noch gerade eben im Stahlrahmen hing. Leider sah man jetzt an den silbernen Kratzspuren um den Schlitz herum, dass jemand erst vor kurzem daran herumgeschraubt hatte, also würde er die Schraube später verschwinden lassen müssen. Aber ein bisschen Risiko war ihm der Spaß wert, denn heute würde er nicht verlieren, das war klar.

Später waren die anderen gekommen, und Georg hatte gesagt: „Du gibst es auch nie auf, was?“ Er war auf die linke Schaukel, seine Schaukel, gestiegen und hatte siegessicher gelacht. „Los, Torsten, du nimmst die Loser-Schaukel, wie immer!“ – Und dann hatten sie angefangen, und Torsten hatte so viel Schwung geholt, dass er schon nach kurzer Zeit höher war als Georg. Der sah irritiert zu ihm rüber und bemühte sich, den Vorsprung einzuholen.

Weil die anderen Georg anspornten, hörten sie nicht das Quietschen der losen Halterung. Als Georg fast gleichauf mit Torsten war und schon wieder dieses fette Grinsen im Gesicht hatte, löste sich die lockere Schraube endgültig und der ungeschlagene Schaukelchampion flog davon – weit, weit bis in die Büsche, die den Spielplatz umgaben.

Bevor Torsten den anderen folgte, die sofort losliefen, um zu gucken, ob Georg sich wehgetan hatte, hob er die Schraube auf, die unter dem Gerüst im plattgetrampelten Lehm lag, und schloss fest seine Faust darum.

Als er bei Georg ankam, fand er, dass der irgendwie komisch im Gebüsch hing: Einerseits sah es lustig aus, andererseits auch wieder nicht besonders ... gesund. Später erzählte man ihm, dass Georg sich das Genick gebrochen hatte. Aber an diesem Abend, als die blauen Blitze des Notarztwagenlichts die beginnende Dunkelheit durchschnitten, Sanitäter, weinende Mütter, blasse Kinder und neugierige Nachbarn den kleinen Spielplatz bevölkerten – da hatte er nicht begriffen, dass Georg tot war. Er hatte dagestanden, die Hände hinter dem Rücken, die Schraube in der rechten Faust. Und er freute sich, dass er heute nicht beim Schaukeln verloren hatte.

Torsten weint und sagt leise: „Es tut mir Leid, Georg, es tut mir so Leid!“

***

Ich bin schon fast an der Hauptstraße,doch es ist kein Torsten in Sicht. Wirklich toll! Erst diese bescheuerte Séance, und jetzt muss ich noch mitten in der Nacht nach meinem Freund suchen, der sich vor Angst in die Hosen macht, nur weil eine durchgeknallte Bekannte von uns diese Show arrangiert hat!

Mir ist es jetzt auch fast egal, ob ich ihn noch finde oder nicht. Ich werde mir ein Taxi rufen und nach Hause fahren. Ich krame nach meinem Handy, als ich weiter vorne eine Bewegung wahrnehme. Da hockt doch jemand ... Torsten? Vielleicht ist ihm schlecht geworden.

Offenbar hat ein kleiner Junge ihn auch schon entdeckt und beugt sich fürsorglich über ihn. „Hallo!“, rufe ich. „Torsten, bist du das?“ Ich fange an zu rennen. Das Gesicht des kleinen Jungen ist nicht zu erkennen, die Laterne ist auf der anderen Straßenseite. Als er mich kommen sieht, dreht er sich um und läuft davon. Seltsam, der ist höchstens zwölf, was macht der um diese Zeit noch auf der Straße?

Als ich Torsten endlich erreiche, kauert er bewegungslos an der Hauswand, die Augen weit geöffnet. Ich gehe in die Knie und fasse nach seiner kalten Hand. „Torsten“, sage ich leise. Aber er sieht mich gar nicht, sondern fängt langsam an zu wippen, vor und zurück, vor und zurück, vor und zurück ...

03. Aug. 2007 - Susanne Posse

Bereits veröffentlicht in:

Im Buch: Dingerchen und andere bittere Köstlichkeiten

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