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Voodoo Holmes - Der Schlangenfluch von Berndt Rieger
Andrä Martyna © http://www.andrae-martyna.de/ Das Wort Familie hat für einen überzeugten Junggesellen meist einen etwas faden Beigeschmack. Auch Sherlock Holmes ging es nicht anders, als die Anmutung an ihn herangetragen wurde, seinen kleinen Halbbruder als Gehilfen in seiner aufstrebenden Detektei aufzunehmen. Das hatte einen weiteren Grund: so wie es Gentleman-Verbrecher gibt, gibt es auch Gentleman-Gesetzeshüter, Privatiers unter den Spürhunden sozusagen, und dazu zählte sich auch Holmes. Er hatte sich für den Antrittsbesuch des Halbbruders, den er nur von Hörensagen kannte, meine Schützenhilfe ausbedungen, um den jungen Kameraden gleich so kopfscheu zu machen, dass er auf den Wunsch, selbst Detektiv zu werden, freiwillig verzichtete. So saßen wir zur festgelegten Zeit in Sonntagsstaat im Salon unserer Firmenzentrale in der Baker Street am Kartentisch, sichtlich angespannt in der Absicht, auch einen guten Eindruck zu machen in dem Fall, dass Holmes Tante Ginnie, die das Balg aufgezogen hatte, in seiner Begleitung erscheinen würde. Wir wollten ja nicht um jeden Preis wie eingefleischte Junggesellen wirken, sondern wie Männer, die ihr Leben im Griff hatten. Ich legte gerade eine Patience und Holmes blätterte unverfänglich in einem historischen Roman, den er normalerweise nie lesen würde, als mit einem Mal das Licht verlosch. Für wenige Sekunden war es stockdunkel, doch dann konnte man am Schein, der durch die Fenster drang, schon wieder passabel sehen, sodass es mir keine Mühe bereitete, neben der Lampe, die auf einer Anrichte stand, nach den Streichhölzern zu tasten. Hier kamen mir die bereitwilligen Hände meines Freundes in die Quere, und mit gemeinsamen Kräften gelang es uns, das Licht wieder zu entzünden. Kaum aber wollte ich mit ihm darüber einige Worte wechseln, fuhr ich erschreckt zurück und ich muss erbleicht sein, denn mein Freund blickte mich besorgt an, als er mit einer etwas helleren Stimme als gewohnt sagte: "Kein Anlass zur Sorge, Watson, ich bin nicht der, für den Sie mich halten, ich bin der Bruder."
Ich fasste ihn näher ins Auge. Er war nicht nur bedeutend jünger und etwas kleiner als mein Freund, sondern wirkte exotischer, hatte etwas Lateinamerikanisches mit seinen schwarzen Augen, dem braunen Teint, den langen schwarzen Haaren und den fülligen Lippen. Er sprach The Queens English mit dem Hauch eines kontinentalen Akzents, mochte aber Brite sein. Da unterbrach gemächliches Klatschen die Stille, und Sherlock, der ungerührt auf dem Sofa sitzen geblieben war, sagte: "Was für ein Auftritt. Großartig. Sie sind du also bist mein Bruder Halbbruder."
Der Angesprochene verbeugte sich artig, sichtlich erfreut über den Effekt, den er hervorgerufen hatte.
"Eine Zirkusnummer", bemerkte Sherlock, und lächelte. Eine Pause entstand. "Ein Taschenspielertrick, nicht wahr?" Er stand auf, trat zum Kamin und öffnete den Deckel der Kohlenkiste. "Und hier herinnen hat er die ganze Zeit auf seinen Auftritt gewartet."
Ich musterte das bezeichnete Gefäß, das tatsächlich leer war. "Sollte es so gewesen sein, wie gelang es ihm dann, den Kohlestaub abzuschütteln?" fragte ich skeptisch.
Sherlocks Lächeln gefror.
"Außerdem ist die Kiste ziemlich klein", wandte ich ein, "sie scheint mir zu klein für einen ausgewachsenen Menschen."
"Schlangenmenschen können das", behauptete er.
"Sie halten Ihren Bruder für einen Schlangenmenschen?"
"Was hat das mit familiären Fragen zu tun?" knurrte er unwillig zurück.
Ich wandte mich an unseren Besucher: "Wie haben Sie das gemacht?"
Er schwieg und ließ seinen Blick zwischen Sherlock und mir wandern.
"Ein seidenes Tuch, in das er eingewickelt war", mutmaßte Sherlock.
"Und wie gelang es ihm, lautlos aus der Kiste zu klettern?" fuhr ich fort, ratlos zur Demonstration den quietschenden Kohlenkistendeckel auf und zu klappend.
Sherlock stieß ein unwilliges Schnauben aus. "Also gut", gab er sich geschlagen, "irgendwo hat er sich eben verborgen."
Als er dann schwieg, wandte ich mich ein weiteres Mal an unseren Besucher. "Also, wie haben Sie das gemacht?"
Er lächelte entwaffnend, und seine Augen blitzten.
"Schluss jetzt", befand Sherlock, "es ist nicht unsere Aufgabe, in die Trickkiste von Jahrmarktsgauklern zu spähen. Wir haben hier ernste Dinge zu verhandeln."
Wir setzten uns an den Tisch, und Sherlock rief nach Mrs. Hudson. Die Tür ging so schnell auf, als hätte sie daran gelauscht. "Tee, Gentlemen?"
"Heute nichts mit schlabbrigem Zuckerwasser, Mrs. Hudson", befand Sherlock, "wie wärs mit einem kräftigen Hellen? Oder einem dunklen Blonden? Wir haben hier Dienstliches zu besprechen."
Während sich Mrs. Hudson um das Bier bemühte, begann Sherlock sein Verhör. "Wie heißt du eigentlich? Etwas wie William?"
"Voodoo!", meinte unser Besucher.
"Ah ja. Künstlername?"
"Nein, eigentlich nicht. Meine Mutter starb bei meiner Geburt, und mein Vater der ja auch der Vater meines Bruders ist, Dr. Watson hatte sich mit ihr schon vor meiner Geburt auseinandergelebt, das Verhältnis war zerrüttet, und sie verbrachte die letzten Wochen ihrer Schwangerschaft im Museum."
Da kam Mrs. Hudson mit dem Bier, und ich war völlig verwirrt. Also leerte ich gleich ein Glas in einem Zug.
"Ja", fuhr Voodoo fort, "als Exponat. Sie war eine afrikanische Prinzessin und wirkte in einer Standgruppe mit, ich glaube, sie hieß ZULUS AUF KAFFERNFAHRT oder so ähnlich. Es kann nicht leicht für sie gewesen sein, inmitten der anderen Wachspuppen als Mensch aus Fleisch und Blut und noch dazu schwanger, quasi, zu leben. Kurz und gut, als es mich dann aus ihrem Mutterleib trieb, begann sie zu schreien und damit flog die Sache auf. Aber das war auch gut so, denn sie hatte den Affen im Außenbereich nachts die Bananen geklaut, und die fielen langsam vom Fleisch
jedenfalls meinte mein Vater, der sie immer nur die Voodooprinzessin genannt hatte, Voodoo wäre ein guter Vorname für mich, und dabei blieb es."
"Sie sind also Mulatte", stellte ich entgeistert fest, da er nicht wie ein solcher wirkte, sondern eher wie ein Südstaatler..
"Du kannst ruhig du zu mir sagen", meinte der junge Holmes.
"Gott bewahre!" rief ich aus. "Ihr Bruder und ich sind seit vielen Jahren befreundet, aber wir würden es nicht wagen, uns dergleichen Distanzlosigkeit zuzumuten."
"Ist mir auch recht." Voodoo nippte an seinem Glas, sodass eine Schaumkrone auf der Oberlippe übrig blieb..
"Also, Voodoo", versuchte Sherlock das Gespräch nach einem Räuspern in den Griff zu bekommen, "du bist nach London gekommen, um dich als mein Gehilfe anstellig zu machen. Nun, die Detektivarbeit ist zu 90% Beinarbeit, zu 9% Bürokratie und nur zu 1% Inspiration!"
"Einverstanden", meinte Voodoo lässig.
"Einverstanden was?!
"Ich nehme die 1%."
Sherlock schüttelte den Kopf und warf mir einen aufmunternden Blick zu. "Was Ihnen Ihr Bruder mitteilen möchte", wandte ich vorsichtig ein, "ist, dass Sie hier eher mit Routinearbeiten befasst sein werden, sollten Sie daran denken, hier auch wirklich zu arbeiten."
Er mochte Lunte über unsere Absicht, ihm das Geschäft auszureden, gerochen haben, denn er antwortete gleich: "Damit gebe ich mich erst gar nicht ab. Sie werden mich für die Mehrzahl der Fälle ohnehin nicht brauchen können. Außerdem will ich reisen und die Welt sehen. Wenn ich nur ein Schiff sehe, reicht es schon, mir vorzustellen, wie Noah in seinem Bauch weg zu schwimmen."
"Ah, reisen ist gut", erwiderte Sherlock etwas hilflos.
"Außerdem verstehe ich etwas von Magie!"
"Ah ja" Sherlock bediente sich eines Tonfalls, den man Pubertierenden gegenüber anschlug. "Auch dafür ist analytisches Denkvermögen unerlässlich", fuhr er dann etwas hochtrabend fort, "denn selbst wenn Magie ins Spiel kommen sollte, geht es doch vor allem darum, Verbrechen aufzudecken und Schuldige der Justiz zuzuführen."
"Analytisches Denken? Das vermag ich auch!", behauptete Voodoo.
"Gut!", meinte sein Bruder. "Dann Folgendes. Ein Fluss. Ein Mann möchte einen Wolf, eine Ziege und einen Krautkopf unversehrt hinüberfahren. Sein Kahn aber fasst nur jeweils eines der drei Dinge. Wie schafft er es also, alle unversehrt ans andere Ufer überzusetzen?"
"Wenn jemand mit einer so ungewöhnlichen Begleitung reist, dann hat das einen tiefen Grund", begann Voodoo mit einem verträumten Blick. "Die Sache ist ziemlich einfach. Es ist ein Zauberer. Er hat sich mit den beiden Tieren und dem Kohlkopf auf den Weg gemacht, um einen Fluch zu bannen."
"Gut, er ist ein Zauberer", ließ sich Sherlock ungeduldig vernehmen. Aber das ist es nicht, worum es in dem Rätsel geht."
"Ach, das Rätsel", besann sich Voodoo, "das ist doch einfach. Er ist ja Magier. Also belegt er den Wolf mit einem Zauber, dass er die Ziege nicht fressen darf und die Ziege mit einem, dass ihr der Appetit auf den Kohlkopf vergeht, und der Rest ist Improvisation."
"Ich verstehe, dass du die Problematik zumindest im Ansatz erfasst hast", begann Sherlock nach kurzem Schweigen, "allein das Übrige verfehlt vollkommen die Sache. Schon aus dem Grund, dass so ein Zauber nicht existiert und Magier Märchenfiguren sind."
"Was Ihr Bruder damit sagen will," mischte ich mich ein, um die Enttäuschung des jungen Mannes über den harten Tonfall meines Freundes abzumildern, "ist Folgendes: Sie müssen die Gabe haben, in diesem Beruf um Ecken zu denken. Zuerst fahren Sie mit der Ziege, weil der Wolf mit dem Kohlkopf nichts anfangen kann. Dann der Kohlkopf, und wenn Sie am anderen Ufer sind, nehmen Sie die Ziege wieder mit. Verstehen Sie? Wieder mit. Dann der Wolf und nun, zuletzt, holen Sie die Ziege nach. Das ist analytisches Denken, das ist Detektivarbeit.".
Während ich sprach, merkte ich etwas Verstörendes. Über Voodoos Rockaufschlag wurde etwas Schwarzes sichtbar. Ich hielt es zuerst für einen Stockknauf, erkannte dann aber, dass es etwas Lebendiges war. Mir gerann das Blut in den Adern, als ich feststellte: Es war eine Schlange mit schwarzem Kopf, silbrigen Augen und einer aus dem Maul hervorschnellenden Zunge. Ich vernahm ein Rauschen in den Ohren und hörte die Stimme des jungen Holmes von fern, sodass ich mich besonders darauf zu konzentrieren versuchte. "Eine Ziege?", fragte die Stimme, "was meinen Sie mit einer Ziege? Was verstehen Sie darunter genau, Watson?"
Das Wort GENAU hallte mir in den Ohren. Ich versuchte, ihm klar zu machen, was es damit GENAU auf sich hatte und stieß zur Verdeutlichung einen meckernden Laut aus, denn es schien mir, als könnte man sich damit verständlicher machen als mit Worten und den Sinn GENAU treffen.
"Und Sie, Mrs. Hudson", hörte ich Voodoo Holmes fragen, "wären dann ja wohl der Wolf, nicht wahr?"
Eine dräuende Stille trat ein, fast so wie eine Dunkelheit, die mich ängstigte, und in der ich, weil mich das Schweigen quälte, ein Meckern ertönen ließ. Im nächsten Moment verspürte ich einen scharfen Schmerz am Hals und stürzte zu Boden. Es waren Zähne, jemand biss mich! Und als ich durch den Schmerz aus meiner Betäubung erwachte, erblickte ich die weißen Rüschen des Haushälterhäubchens unserer lieben Mrs. Hudson, die sich aus unerfindlichen gründen auf mich gestürzt und mich mit einer Kraft, die ich ihrem Körper nie zugetraut hätte, zu Boden gerissen hatte! Als nun der typische matte Applaus ertönte, an dem ich meinen Freund Sherlock Holmes erkannte, wurde das Ganze zu einer Theateraufführung und ziemlich lächerlich, denn man fragte sich, was einen dazu bewegt hatte, seine Rolle zu spielen. Ich erblickte im Gesicht unserer Hausdame so etwas wie Scham und Verwirrung, als sie sich aufrappelte und wahrscheinlich dieselben Fragen stellte. Wir wechselten krause Entschuldigungsformeln und versuchten, dem anderen den Staub aus den Kleidern zu klopfen, wichen dann aber beide von der Berührung des anderen Körpers zurück, als handelte es sich da um eine Todfeindschaft, die man nicht näher erklären kann, die einen aber Abstand halten lässt.
"Es ist völlig in Ordnung, Mrs. Hudson, wir danken Ihnen für Ihre Bereitwilligkeit, sich für diese Sache zur Verfügung zu stellen", stammelte ich, "danke vielmals. Wie wäre es jetzt mit einer guten Tasse Tee, Mrs. Hudson?"
Die Frage schien für sie von weit weg zu kommen, erreichte jedoch in ihr den Teil, den wir an ihr am Besten kannten. Mit einer Verbeugung und einigen großmütterlichen Lauten entschuldigte sie sich um meiner Anweisung augenblicklich Folge zu leisten.
Beglückt über meinen Erfolg, schaute ich die Gebrüder Holmes um Zustimmung heischend an. Beide lächelten, der Jüngere zufrieden und fast etwas triumphierend, der ältere mit einem gewissen Stolz. Was sollte das sein: Familienstolz bei ihm, Sherlock Holmes?
"Also, wenn er das kann, dann kriegt er das auch mit einem Wolf und einer Ziege hin!",. rief ich aus, "er ist ein Zauberer, Holmes. Und Sie erlauben sich einen bösen Scherz mit mir, wenn Sie gestatten, dass ich mich hier vor der Jugend zum Affen mache!"
"Bedaure zutiefst, lieber Watson, aber ich konnte Sie nicht aus der Bredouille retten. Ich war selbst zu sehr damit beschäftigt, die Rolle eines Kohlkopfs darzustellen. Eher ein kontemplativer Akt, fürchte ich, und nicht sehr hilfreich. Ich hatte die ganze Zeit die grässliche Vorstellung, Sie wollten an meinen Ohren knabbern, Watson!"
Wir lachten laut auf, wohl auch, um den Spuk zu vertreiben. Schließlich wandte sich Sherlock an unseren Besucher: "Du hast bestanden, glänzend bestanden, Voodoo. Es ist mir eine Ehre, einen Mann mit deinen magnetischen Kräften in dieser Detektei begrüßen zu können. Es ist außergewöhnlich. Eine Frage hätte ich noch: Die Schlange, mit der du diese Hypnosereaktionen auslöst, die wirkt doch direkt lebendig
"
Da war es an dem jungen Holmes, mit einem entwaffnenden Lächeln zu erwidern: "Schlange? Was für eine Schlange?"
***
Den ersten Auftrag, den Voodoo Holmes von seinem älteren Bruder übertragen bekam, war der mit dem Sommerhaus. Er eignet sich aus zweierlei Gründen nicht für eine Veröffentlichung: Einmal war er einer jener Banalitäten, mit deren Aufklärung sich in keinem Fall renommieren ließe, denn es handelte sich um die Empfindung des Besitzers eines Sommerhauses, jenes sei mit einem Fluch belegt, was sich durch einen merkwürdigen Geruch manifestiere, der allerdings nur für ihn wahrnehmbar sei. Außerdem handelte es sich bei dem Besitzer um den Verfasser viel gelesener historischer Romane, ein Schriftstellerkollege von mir, gewissermaßen, und so wie es heißt, eine Krähe hacke einer anderen kein Auge aus, herrscht unter uns Schriftstellern die stillschweigende Vereinbarung, keinen Kollegen in unseren Werken auftreten zu lassen, insbesondere, wenn er so sehr zu Prominenz gekommen ist wie T., wie ich ihn hier nennen will.
Sherlock hatte sich zwar herabgelassen, mit T. das Sommerhaus zu besichtigen, wobei jener ihm ruhig und sachlich die Daten der Tage aufzählten, an denen der Geruch feststellbar gewesen sei, und wer sich nach seiner Kenntnis Zugang zum Sommerhaus verschafft haben könnte, das von einer starken Mauer umgeben inmitten eines großen Gartens in Kensington stand. Eine recht einfache Aufgabe für einen Detektiv, sollte man meinen. Gefordert war eigentlich nur, das Gartenhaus eine Zeitlang zu beobachten und auf Besucher zu überprüfen. In der Mehrzahl der Fälle ist es ja doch so, dass Menschen die Träger von Düften sind, die sie mehr oder weniger freiwillig verbreiten. Allerdings gab es nur einen Haustorschlüssel, den T. nach seinen Angaben stets bei sich führte, und er hatte die gelegentliche Nutzung des Sommerhauses niemandem erlaubt. Eine ärztliche Untersuchung bei einem angesehenen Hals-Nasen-Ohren-Arzt war ergebnislos geblieben. T. hatte wie das bei Schriftstellern häufiger vorkommt zwar einen sehr feinfühligen, jedoch ausgesprochen treffsicheren Geruchssinn. Als Sherlock und ich das Anwesen verließen und an der nächsten Straßenkreuzung nach einer Droschke winkten, brach er das Schweigen mit den Worten: "Sie haben nicht erwähnt, dass es sich bei Ihrem Kollegen um eine Frau handelt."
"Tatsächlich?" Ich zog verwundert die Augenbrauen hoch, aber wenn man sich die hohe, schlanke Gestalt mit dem blassen Gesicht und den fülligen Lippen vor Augen rief, mochte er Recht haben.
"Es ist erstaunlich, dass es ihr gelungen ist, das Geheimnis so lange zu bewahren. Ich kenne ihre Romane, und die Frauen darin sind weit glaubwürdiger gezeichnet als man das von männlichen Autoren gewohnt ist."
Jetzt wuchs mein Erstaunen ins Unermessliche. "Sie lesen historische Romane, Holmes?" stammelte ich.
"Wenn sie gut geschrieben sind", meinte er leichthin, "Man erfährt dabei allerhand Nützliches, und sei es nur über das Geschlecht ihres Verfassers."
"Und werden Sie ihr in ihrer Angelegenheit helfen können?", lenkte ich von meiner Verwirrung ab.
Er zuckte mit den Achseln. "Es gibt dort einen Besucher oder eine Besucherin, soviel steht fest. Und der oder die betreffende Person riecht etwas zu stark nach Moschus."
"Sie konnten den Geruch bestätigen?"
Er nickte.
"Dann werden Sie den Fall lösen?"
"Welchen Fall, Watson? Kein Geheimnis, kein Fall. Es ist kein Verbrechen, Sommerhäuser mit Moschusduft zu belegen. Und wenn es eins wäre, dann höchstens ein ästhetisches. Moschus ist eigentlich ein männlicher Duft, müssen Sie wissen."
"Wenn kein Verbrechen, dann ist es doch zumindest Hausfriedensbruch."
Aber Sherlock hörte mir längst nicht mehr zu.
***
Als sein jüngerer Bruder mit dem Fall betraut wurde, hatte dieser über Nacht an Brisanz gewonnen, denn man hatte in dem Sommerhaus eine Tote gefunden, die auf geheimnisvolle Art ums Leben gekommen war. Ihr Hals zeigte Würgemale und ihr Haupt war übel zugerichtete, mit verschwollenen Augen und zahlreichen Blutergüssen, als hätte es einem Wahnsinnigen als Punching-Bag gedient. Im Polizeibericht war zu lesen, die Tote habe auffallend stark nach Moschus gerochen, so der Telegraph.
Erst wollte T., als wir ihn in seiner Mietwohnung am Tavistock Square aufsuchten, uns nicht vorlassen, doch als er hörte, ein anderer Holmes wolle sich um den Fall bemühen, gab er schließlich nach und man führte uns in einen Salon, der völlig in Rot gehalten war. Darin wirkte T., der sichtlich gramgebeugt war, wie eine Krähe, die ihr Gesicht mit Kalk getüncht hat. Da eine Krähe einer anderen kein Auge aushackt, sollte ich vielleicht schmeichelhafter sagen, ihr edles, fein gezeichnetes Gesicht sei dem Anlass gemäß etwas blutleer gewesen?
"Madame", begann Voodoo Holmes seine Rede, "handelte es sich bei der Toten eventuell um Ihre Geliebte?"
Eine Kaskade an Emotionen spielte sich auf dem Gesicht des berühmten Schriftstellers ab. Zuerst Unglauben, Erstaunen, Zorn, Scham, und dann eine Form der Ergebenheit, ein Hauch von Depression, als sie antwortete: "Sie verkennen meine Neigungen, Mr. Holmes."
"Also nein. Wessen Geliebte war sie?"
"Wenn ich es wüsste, hätte ich das längst Inspektor Maddox mitgeteilt."
"Gewiss. Obwohl: Dem Inhalt Ihrer Romane nach zu urteilen, halten Sie wenig von der Zusammenarbeit mit der Polizei. Sie haben geradezu ein Faible für Giftmorde, Madame."
"Ich habe nie über Scotland Yard geschrieben, Mr. Holmes. Meine Periode ist die Renaissance. Hätte ich aber Scotland Yard erwähnt, hätte ich sicher darauf geachtet, einen anderen Eindruck beim Leser zu erwecken. Im Übrigen wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mich mit Monsieur oder Sir anreden würden. Eine Frage der Etikette, Mr. Holmes. Man kennt mich nur so."
"In der Tat. Dann beliebt es Ihnen, zu erzählen, wie das Sommerhaus in Ihren Besitz kam, Sir?"
"Es war ein Geschenk meines Vaters."
"Und wie kam es in dessen Besitz?"
"Er erbte es von seinem Dienstherrn, Lord Camden-Heresford, als er starb. Das war vor sieben Jahren. Der Garten ist ein Überrest des ursprünglichen Besitzes. Wo einst das Herrenhaus war, stehen heute die Villen der Neureichen. Die Erbengemeinschaft hat es verkauft, nur der Garten blieb, den mein Vater einst verwaltete."
"Es war ein Lustgarten, nicht wahr?"
"Ja, mit allem, was dazu gehört. Ich sehe, Sie haben bereits Erkundigungen eingezogen, Mr. Holmes. Sie sind eine erfreuliche Abwechslung im Vergleich zu Ihrem Bruder. Wenn er meine Geruchsempfindung nicht als weibliche Hysterie abgetan hätte, wäre die Dame vielleicht noch am Leben."
"Ihren Hilfeschrei hat er wohl vernommen, Sir, aber ich gebe zu, er hat ihn nicht verstanden. Aber es lag wohl auch an der Dame. Sie hatte einen aufdringlichen Duft. Früher oder später wird einem so etwas zum Verhängnis."
"Haben Sie noch andere Fragen?" T. wirkte sichtlich angespannt und hätte uns am Liebsten so schnell wie möglich hinauskomplimentiert, das merkte man.
"Welche Pläne hegen Sie für die Zukunft, Mr. T.?"
"Wie bitte?"
"Was haben Sie vor? Denken Sie daran, einmal eine Familie zu gründen?"
Es war schwierig, den Gesichtsaudruck zu deuten, den der Schriftsteller zeigte. Danach schien er in sich zusammenzufallen und meinte mit einer Stimme, die sichtlich die einer Frau war: "Es gibt Wünsche, von denen man nicht weiß, ob man sich auch wünschen soll, dass sie in Erfüllung gehen. Ja, wenn Sie so direkt fragen, würde ich mir wünschen, eines Tages Familie zu haben. Aber verstehen Sie mich nicht falsch, meine Herren. Ich habe meine Familie, meine Eltern, um die ich mich sorgen muss, und das Alter ist nicht unser Freund, wenn Sie verstehen, was ich meine."
"Gewissermaßen ja, Sir", sagte Voodoo, und erhob sich.
Während wir uns zu Fuß auf den Weg nach Scotland Yard begaben, bemerkte ich lobend: "Ich muss Ihnen mein Kompliment aussprechen. Ihr Verhörstil ist ausgefeilt und feinfühlig, ganz Ihr Bruder. Nur der Einstieg war vielleicht etwas abrupt, meinen Sie nicht?"
Voodoo blicke mich kurz an, bevor er bemerkte. "Befindet sich in Ihrem Bekanntenkreis eine klatschsüchtige Person, jemand mit einem ausgeprägten Sinn für die Vorlieben und Neigungen der besseren Gesellschaft?"
"Sie wollen wissen, wo T. seine Tinte eintaucht?"
"Gewissermaßen."
"Da empfehle ich einen Kollegen von mir, Arthur Winston. Er schreibt für den Telegraph. Der Mann weiß bestens Bescheid. Während Sie mit Maddox konferieren, läute ich ihn einmal kurz an. Sonst trifft man ihn abends im Shay-Club."
***
Die polizeilichen Ermittlungen waren zu dem Zeitpunkt noch nicht weit gediehen, und vielleicht war Maddox auch geneigt, sich nicht von einem jungen Spund wie Voodoo Holmes in die Karten schauen zu lassen, jedenfalls beschränkte er sich auf Folgendes: Die Tote war unidentifiziert. Sie mochte etwas 30 Jahre alt sein, kleidete sich wie jemand aus der besseren Gesellschaft und hatte manükierte Hände, sichtlich keine Arbeit gewohnt waren. Sie hatte keine Handtasche bei sich, woraus Maddox schloss, dass der Würger sie beraubt hatte. "Ein Gelegenheitsmord, Mr. Holmes. Offenbar verfolgte er die Dame in den Garten in der Hoffnung, sie zu berauben. Als er ihr in das Sommerhaus nachging, mochten ihn Gedanken an einen Lustmord angetrieben zu haben."
"Was glauben Sie, warum hat er ihren Kopf so zugerichtet?"
"Vielleicht, weil ihn ihre toten Augen anstarrten anklagend , Sie verstehen, was ich meine?"
"Hmm." Voodoo Holmes blätterte die Skizzen durch, die man vom Sommerhaus und seiner Ausstattung gemacht hatte. Diese waren so detailliert, man hatte sich sogar Mühe gemacht, das Türschloss zu zeichnen. "Wie kam sie ins Haus?", fragte er dann.
"Das können wir nicht sagen. Die Tür könnte offen gewesen sein. Es gab keinen Hinweis auf einen Einbruch."
"Wer fand die Tote?"
"Der Eigentümer, Mr. T."
Maddox zog das Vernehmungsprotokoll heran und las vor. "Gegen zehn Uhr abends betrat ich das Sommerhaus in der Absicht, dort zu nächtigen, da ich mich an diesem Abend etwas zu lange in den Kensington Gardens aufgehalten hatte. Als ich in die Vorhalle trat, nahm ich einen süßlichen Geruch wahr, der sich in der Folge als Verwesungsgestank entpuppte. Die Tote lag an der Wand mit verdrehten Gliedmaßen, als wollte sie einen Schlag abwehren oder sich winden vor Schmerz. Sie schien mir im Todeskampf die Wand hoch kriechen gewollt zu haben. Ich war unwillkürlich an die Lakoongruppe erinnert."
Maddox, der das alles im etwas mechanischen Tonfall vorgelesen hatte, ließ nun das Monokel mit einem bezeichnenden Grinsen aus der Halterung seines rechten Auges schnellen und meinte: "Griechische Skulptur, wie ich erfahren habe. Lakoon und seine Söhne, von Schlangen erwürgt. Hat mit der Sache nichts zu tun, aber ich glaube, das Wort lakonisch kommt davon."
"Ja, die Bewohner Lakoniens waren recht wortkarg", stimmte Voodoo zu.
"Und so etwas in einem Vernehmungsprotokoll. Ein gutes Beispiel für die überspannte Ausdrucksweise von Schriftstellern. Ein bisschen mehr Lakonie könnte denen auch nicht schaden, nicht wahr, Holmes?" Und hier brach Maddox über seinen Wortwitz in bellendes Gelächter aus, das ihn aufgrund seines Schnauzers immer wie ein schnaufendes Walross wirken ließ.
"In der Tat, weniger Lakonie!" Voodoo Holmes grinste. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, es war ihm nicht ganz ernst damit.
***
Einige Stunden später verstand ich den feinen Unterton der Skepsis oder des Spotts, den Voodoo hatte anklingen lassen. Es war offenkundig, dass T. bewusst oder unbewusst mit dem Hinweis auf Lakoons Tod eine Spur gesät hatte, wie uns mein alter Trinkkumpan Arthur vom Telegraph erzählte. Angeblich sollte nämlich ein Fluch auf dem Gartenhaus lasten. "Lord Camden unterhielt in dem Lustgarten eine Schlangenzucht oder Sammlung, und es scheint dort wiederholt passiert zu sein, dass Schlangen in den Garten entkamen. Gut für den Kampf gegen Ratten und Mäuse, doch im Laufe des Jahres sind dort in der Gegen wiederholt Menschen unter mysteriösen Umständen verstorben. Ob man dabei immer Bissspuren feststellen konnte, weiß keiner, denn es wurde alles vertuscht, und seitdem dort ein Nobelviertel entstanden ist, spricht man von der Sache nicht mehr, um niemanden zu vergraulen. So gesehen war es ein vergiftetes Geschenk, das Lord Camden seinem Gärtner und dieser seiner Tochter vermachte Sie wissen doch, dass es sich bei Mr. T. um eine Frau handelt, nicht wahr Denn man nennt das Gartenhaus nur das Schlangenhaus und den Garten den Schlangengarten, obwohl ja angeblich in den letzten Jahren dort keine Tiere mehr gesehen worden sein sollen."
"Und Mr. Ts Vater war damals im Umgang mit den Reptilien geübt?"
"Ja, er war gewissermaßen der Aufseher."
"Sagen Sie, Mr. Winston, welchen Umgang pflegt unser Mr. T?"
"Er verkehrt ausschließlich in Herrenkreisen. Es ist eine flotte Gesellschaft, die gern im Wagen übers Land fährt oder nach Brighton an die See. Es sind sportliche Menschen. Sie reiten, jagen und spielen Tennis."
"Und darunter ist Mr. T. die einzige Dame?"
"Es scheint fast so, ja."
"Wäre es denkbar, dass sie das Schlangenhaus dieser Truppe für ihre Vergnügungen zur Verfügung stellt?"
"Nein, das glaube ich nicht. Schlangenhaus Sie müssen wissen, davon wusste eigentlich niemand. Es ist eines dieser Dinge, die kennt man in Kensington, aber der schicke Set verkehrt nicht in der Gegend. Zumindest noch nicht."
"Können Sie uns die Namen der Männer nennen, mit denen Mr. T. besonders häufig gesehen wird?"
Mr. Winston kritzelte bereitwillig ein paar Namen auf einen Zettel. "Wenn es darauf hinausläuft, dann tippe ich auf den da. Mr. Strandham. Oh ja, ich kann mir vorstellen, der mit Moschusdüften verkehrt, Mr. Holmes."
***
Am folgenden Abend bestellte mich der junge Holmes nach Kensington in eine Kneipe, die in der Nähe des Gartenhauses lag. Während ich den ganzen Tag in der Klinik zu tun gehabt hatte, war er nicht müßig gewesen und hatte Mr. Strandham ausfindig gemacht und sich mit einem einige Stunden zum Tee unterhalten. Ich war begierig, davon zu erfahren und fragte: "Wie steht es nun mit unserer These eines Eifersuchtsdramas?"
"Wie?" Voodoo zog die Augenbraue hoch.
"T. liebt Mr. Strandham, der bringt seine Geliebte mehrmals heimlich ins Gartenhaus, bis es Mr. T. zuviel wird und die Boa Constrictor freisetzt. Die Tote ist ja sichtlich von so einem Monster erwürgt und danach im Versuch, die aufzufressen, fast skalpiert worden."
"Und nachdem er die Tat begangen hat, macht er dann darüber Andeutungen im Polizeireport? Wohl eher nicht, Watson."
"Stimmen Sie der These denn wenigstens im großen Ganzen zu? Und was hat Mr. Strandham dazu gesagt?"
"Ich kaufe Ihnen die Boa-Geschichte ab. Es könnte ein Tier sein, das sich seit Jahren unbeobachtet dort aufhält und von Kleingetier ernährt. Im Winter bietet das Gartenhaus Schutz, es mag dort eine Wärmequelle geben, vielleicht ein altes Heizungsrohr, das Verbindung mit einem der Neubauten erhält, oder ein Komposthaufen. In dem Zusammenhang ist es auffällig, dass die Tote nach Moschus roch, eine Parfümbeigabe, die den Geschlechtsdrüsen einer Art Bisamratte entstammt. Gewiss ein kräftiger Lockstoff für eine hungrige Boa. Das ist die Unfallthese. Gelänge es uns, die Schlange zu finden, könnte man den Fall auf dieser Ebene lösen, und es gäbe keinen Mörder außer ein Tier mit knurrendem Magen."
"Oder es handelt sich beim Gartenhaus um einen veritablen Schlangenkäfig, den Mr. T. oder ihr Vater dort heimlich betreibt. Vielleicht ist es der Vater."
"Ich weiß, worauf Sie hinauswollen, Watson, und Mr. Strandham hat mir einiges erzählt, das Ihre These bestätigt. Es wäre der perfekte Mord, an Perfidie kaum zu überbieten."
"Wie bitte?" Jetzt war ich verwirrt.
"Ich dekliniere es einmal für Sie durch. These: Es war der Gärtner. Als sein Dienstherr stirbt, steht er stellungslos da, ist mit seinem Schlangenhaus, Frau und Kind allein. Er hat seine Tochter von Anfang an intensiv gefördert. Sie ist sein Ein und Alles. Als sie Talent für die Schreibkunst zeigt, erkennt er darin eine Möglichkeit, das Überleben für alle zu sichern. Er wächst zur grauen Eminenz ihres Erfolgs heran, zwingt das begabte Kind an den Schreibtisch, betreibt die Verbreitung seiner Schriften und findet davon ein Auskommen für die ganze Familie. Seine Rechnung kann nur aufgehen, wenn das Kind Kind bleibt und zumindest bis zum Ende seiner Tage darauf verzichtet, sich einen Mann zu suchen und eigene Kinder aufzuziehen. Also ist er daran interessiert, jeden Wettbewerber im Herzen seiner Tochter im Ansatz aus dem Feld zu schlagen. Nach außen hin muss er das Gegenteil davon zeigen. So macht er ihr auch dieses symbolische Geschenk, das Schlangenhaus, Brutstätte allen Lasters, Vergnügungsort für lockere Vögel, wohl wissend, dass es für Mr. T. ein weiterer Mühlstein um ihren Hals sein wird. Die Lakoongruppe, Watson. Aus ihrer Sicht geht es ihr wie Lakoon, und die Schlangen, die den griechischen Helden und seine Söhne ermorden, sind tatsächlich von Zeus geschickt, die Fänge des Vaters, die sie zu erdrücken drohen. Sie sucht sich unter ihren Verehrern den verwegensten aus, jenen, der ihrem Vater am ehesten Paroli bieten kann."
"Mr. Strandham?"
"Genau. Unglücklicherweise kann der und das wäre nun Ihre These, Watson - die Finger nicht von einer gewissen Moschusdame lassen, und lädt sie immer wieder heimlich für ein Schäferstündchen ins Gartenhaus
"
"Zu dem ihm Mr. T. in einer schwachen Stunde den Schlüssel überlassen hat."
"Und den Mr. T. wieder an sich nimmt, als er die Tote findet."
"Großartig, Voodoo. Sie haben alles bedacht."
"Der Schlüssel wäre dann für Mr. T. der Beweis für den Verrat des Geliebten, und Anlass für die Trauer, die wir bei unserem Besuch erlebten. Es wäre Liebeskummer über das Ende ihrer Liebe zu Mr. Strandham."
"Und das Perfide daran?"
"Dazu kommen wir noch. Ich setze Ihre These fort, Watson. Der Gärtner erkennt in Mr. Strandham den Konkurrenten, der er ja ist. Zuerst versucht er es sozusagen im Guten, versprüht Moschusduft im Gartenhäuschen, um seiner Tochter weiszumachen, ihr Freund habe dort eine Geliebte
er vergiftet sozusagen das Liebesnest."
"Oder um die Schlange hervorzulocken, die dort irgendwo haust und ihn damit zu erschrecken
"
"Gut, gut, Watson. All das ist möglich. Nun aber wird es perfide. Der Gärtner und Mr. Strandham hat mir bestätigt, dass er nie eine Geliebte hatte und Mr. T. von Herzen verpflichtet ist der Gärtner also erfindet diese Geliebte, um einen Keil zwischen Strandham und seine Tochter zu treiben. Anfangs war es bloß ein Duft, nun aber holt er sich einen Menschen aus Fleisch und Blut aus dem Umfeld eines der Bahnhöfe, ein Mädchen aus dem Heer der zahllosen Namenlosen, die dort aus den Provinzen und den Kolonien herangespült werden. Er steckt sie in ein Hotel und staffiert sie aus wie eine Dame."
"Das erklärt, warum sich noch niemand gemeldet hat, um die Leiche zu identifizieren!", rief ich erregt aus, "weil sie eben zu keiner Familie gehört, die sie vermissen könnte."
"Was immer sie bislang im Leben gearbeitet hat, hat zumindest keine Schwielen an den Händen hervorgerufen", meinte er.
"Er lässt sie ein Parfüm auflegen, dessen wesentlicher Bestandteil Moschus ist, und bestellt sie ins Gartenhaus. Den Rest besorgt die Schlange. Wahrscheinlich hat er sie für diesen Zweck seit Monaten hungern lassen."
"Mr. Strandham hat die Tote also nie gekannt, stimmts?"
"Nein, hat er nicht."
"Ich verstehe, was Sie meinen", bemerkte ich anerkennend, "es ist die Psyche des Täters. Sein Motiv ist überzeugend. Der Ehrgeiz, sein Kind zu Höchstleistungen anzuspornen, und die Kälte eines Vaters, der seinem Kind ein eigenes Leben verwehrt, diese Vergewaltigung, das passt zur Mordmethode. Er hat nicht nur ein Motiv, er
er
" Irgendwas war da in den Augen von Voodoo Holmes, das mich stammeln ließ.
"Oder es war die Mutter", sagte er.
"Wie bitte?"
"Verstehen Sie mich recht, Watson, was wir gerade besprochen haben, das ist die offizielle Version. So war es und aus. Sie schreiben die Geschichte so. Sie ist stimmig. Obwohl
wenn man es genauer betrachtet: Warum sollte der Gärtner seiner Tochter eine Tote ins Gartenhaus setzen? Das alles würde doch den Verdacht auf sie lenken, und sein ganzes Lebenskonstrukt könnte mit einem Mal einstürzen, wenn sie verhaftet werden würde."
"Der Hass oder die Eifersucht hat ihn eben blind gemacht."
"Oder man könnte für eine Veröffentlichung die Mutter als Trumpf bereithalten. Sagen wir, Mr. Strandham wartet mit der Information auf, dass es im Gartenhaus schon einmal eine Tote gab. Sie haben doch von Mr. Winston gehört, es seien dort in den vergangenen Jahren mehrere mysteriöse Todesfälle vorgekommen. Nun, darunter gibt es einen, der dem Tod der Moschusdame aufs Haar gleicht. Es passierte vor dem Verscheiden Lord Camdens, an dessen Unterarm man übrigens zwei kleine unklare Einstiche bemerkte, als man ihn fand, wissen Sie, wie von Stiftzähnen, aber das ist eine andere Geschichte. Jene, die ich erzählen will, passierte vor neun Jahren, lange bevor Mr. T. mit seinen Romanen an die Öffentlichkeit trat. Die betroffene Dame duftete ebenfalls nach Moschus, und damals handelte es sich unzweifelhaft um die Haushälterin Lord Camdens, die nachweislich mit dem Gärtner ein Verhältnis hatte. Ich habe mir auch sagen lassen, dass Mr. Ts Vater eine Schwäche für Moschusduft hat."
"Also doch ein Eifersuchtsmord. Es war die Frau des Gärtners!"
"Ruhig, Watson, ruhig."
"Nicht?"
"Nein."
"Sie bemerkte, dass ihr Mann etwas mit einem Flittchen vom Bahnhof hatte und dazu den Tempel ihrer Tochter entweihte, wo sie ja bekanntlich ihre Werke verfasst. Es war die Mutter, sie ist die Hüterin der Schlange!"
"Nein, nein, nein", sagte Voodoo.
"Ja was denn nun?", rief ich ungeduldig.
Anstatt mir zu antworten, zog er eine Phiole aus der Hosentasche, öffnete die Kappe, goss sich etwas von dem öligen Inhalt auf die Handfläche und patschte sich damit auf die Wange, als handle es sich dabei um Aftershave. Sogleich nahm ich einen penetranten, herben Geruch von Moschus wahr!
"Aber um Himmels willen, Holmes", stammelte ich, "was haben Sie vor?"
"Ich kann es eigentlich nicht verantworten, Sie mitzunehmen, Watson, aber ich brauche Ihre Dienste."
"Wofür?"
Da erblickte ich vor meinem geistigen Auge Mr. T. Es fiel mir auf, dass er einen relativ breiten Mund hatte. Dazu fiel mir der zerschundene Kopf der Toten auf.
"Nein Voodoo", flüsterte ich, "es ist unmöglich."
"Fürchten Sie sich nicht. Schliesslich haben wir Verstärkung mitgebracht."
Mit diesen Worten hob Voodoo den Koffer, den er neben sich auf dem Boden stehen hatte, auf und stellte ihn auf den Tisch. Die Schlösser schnappten auf und ich erblickte in seinem Inneren .... was war denn das?
Vögel aus Metall.
"Deutsche Ware. Maßarbeit", bemerkte Voodoo Holmes, eines davon in die Hand nehmend. "Man zieht sie mit einem Schlüssel auf, den man in eine Öffnung in ihrem Rücken steckt und sie beginnen dann, nach vorne zu hopsen mit einem schnatternden Laut, der vage an das Rasseln einer Klapperschlange erinnert."
Gesagt getan. Ich fand das Wippen des Vogels, der dabei einen ohrenbetäubenden Krach verursachte, fast obszön.
"Versuchen Sie es mal, Watson. Ich brauche Sie heute Abend. Wenn ich das Zeichen gebe, und zwar so", - er stieß einen schrillen Laut aus "dann ziehen Sie die Vögel auf und lassen sie in den Raum hereinhoppeln, verstanden?"
"Und wo befinde ich mich?", fragte ich mit einer kläglichen Stimme, der die Unsicherheit über die merkwürdige Situation, in die er mich brachte, anzuhören war.
"Sie verbergen sich hinter einer Säule."
"Und wo sind Sie?"
"Ich fürchte, mein Kopf wird sich zu dem Zeitpunkt im Maul der Schlange befinden und ich werde nackt sein."
Über diese Informationen war ich erst einmal so erschüttert, dass es mir die Sprach verschlug. Dann öffnete ich den Mund und sagte: "Schlange ... nackt?"
"Kümmern Sie sich nicht um die Details", forderte er mich auf. "Alles, was Sie tun müssen ist Folgendes. Wenn ich diesen Laut ausstoße", er schrie so gellend, dass sich trotz der erheblichen Gesprächslärms in der Kneipe alle Blicke zu uns wandten und völlige Stille eintrat "dann lassen Sie die Vögel tanzen. Alles klar?"
Ich nickte betroffen.
***
Wir waren zu Fuß zum Schlangengarten auf dem Weg, da erwähnte Voodoo Holmes wie beiläufig: "Es liegt an den kleinen Dingen, Watson, immer an den kleinen Dingen. Sie hätten sich die Mühe machen sollen, die Skizzen vom Türschloss im Gartenhaus zu betrachten. Es handelt sich dabei um eine Spezialanfertigung, ein fälschungssicheres italienisches Schloss, zu dem man nicht beliebig Nachschlüssel fertigen kann. Ich glaube tatsächlich, dass es dafür nur einen einzigen Schlüssel gibt, und den hat der Gärtner auf seine Tochter vererbt."
"Aber das würde doch bedeuten
"
"So ist es, Watson. Die Dame vom Bahnhof war auf Einladung von Mr. Ts da."
"Ja, aber
das ist monströs, Voodoo!"
"Keineswegs. Mr. T. war uns gegenüber in jeder Hinsicht aufrichtig. Er bestand darauf, als Mann angesprochen zu werden, also ist er es auch, zumindest vorläufig. Und als ich ihn fragte, ob die Tote seine Geliebte gewesen sei, erinnern Sie sich, was er antwortete?"
"Er verneinte."
"Genauer sagte er: Sie verkennen meine Neigungen. Er meinte damit, dass er unfähig sei, zu lieben. Und was man nicht liebt, tötet man."
"Ich dachte, was man liebt, tötet man."
"Sie haben noch nie geliebt, wenn Sie das sagen. Aber selbst wenn man sich nie verlieben sollte, heißt das noch lange nicht, dass Sie nie zum Mörder werden könnten."
"Und Sie? Haben Sie schon geliebt?"
Voodoo wandte den Blick ab und wir gingen im Dunkel einer Gegend dahin, die eher spärlich mit Gaslaternen ausgeleuchtet ist, sodass ich nicht in seinem Gesicht lesen konnte. "Zumindest so sehr, dass ich sagen kann, dass ein Liebender nicht tötet", antwortete er schließlich.
***
Von dem Folgenden kann ich keine Einzelheiten berichten. Wie denn auch? Wir leben in einer Zeit, in dem das, was nun passierte, undenkbar ist. Die Feder sträubt sich, dergleichen aufzuzeichnen. Ich habe mit meinen zitternden Händen schon sieben Federkiele zerbrochen! Es ist wohl alles Nervensache, und ich bin dergleichen nicht gewachsen. Ich kann eigentlich nur berichten, dass ich in dem Augenblick, als es richtig schlimm wurde, ohnmächtig geworden war, während noch die mechanischen Vögel hoppelten. Ich weiß nur mehr, dass dann alles still wurde, und es war eine friedliche Stille.
Einige Tage später trafen wir Mr. T. zufällig in Frauenkleidern an der Victoria Station an. Sie hatte eine sichtliche Änderung ihres Wesens erfahren, die ich in folgende Worte kleiden möchte: Der Fluch der Schlange war sichtlich von ihr genommen. Sie erzähle leichthin von ihren Plänen: Reisen, auswandern, nie zurückkehren. All das brachte sie in einem kindlichen Tonfall vor und kicherte viel, und auch Voodoo Holmes wirkte so bubenhaft, wie das sein älterer Bruder höchstens im volltrunkenen Zustand sein könnte wenn es denn jemals dazu käme.
Den Grund für Voodoos Ausgelassenheit verstand ich aber erst, als er mit Mr. T. in den Zug stieg und mich von Rauchwolken umhüllt etwas ratlos am Bahnsteig zurückließ. Wir konnten nur mehr ein paar belanglose Worte wechseln Grüße an Sherlock dann dampfte der Zug davon. Sie hielten sich umfasst wie Kinder, während sie mir winkten. Ich schwöre, ich habe nie ein schöneres Paar gesehen.
22. Aug. 2007 - Berndt Rieger
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