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Rattenfänger
Die bekannte Jugendbuchautorin Jane Yolen viele Veröffentlichungen in den USA, in Europa ist sie weniger bekannt hat zusammen mit ihrem Sohn Adam Stemple ein Rock N´Roll Märchen geschrieben. Für den vorliegenden Roman hat sie im Jahre 2006 den LOCUS Preis in der erst wenige Jahre zuvor aufgelegten Kategorie Bester Jugendroman erhalten. Damit durchbricht sie Terry Pratchett kontinuierliche Siegerstrecke und reiht sich neben Neil Gaiman ein. Rock N´Roll, das Erwachsenwerden und schließlich die Phantastik gingen ja schon seit einigen Jahren Hand in Hand. Von John Shirleys Rockgeschichten über Walter John Williams Science Fiction Roman bis zu George R.R. Martins herausragendem Armageddon Rock reicht das Spektrum. Yolen und Stemple fügen dieser Subkategorie noch zwei wichtige Aspekte hinzu: es geht natürlich wie schon durch den Titel ersichtlicht um die Legende des Rattenfängers von Hameln und zweitens wird ein Bezug zum klassischen Feenreich hergestellt. Mit der Legende an sich gehen die Autoren sehr frei um. So rächt sich ja der eigentliche Rattenfänger an den Bewohnern der Stadt, weil sie ihn nicht für seine Leistung die Rattenplage zu beseitigen bezahlen wollten. In ihrer Geschichte dagegen bestraft der Protagonist Unschuldige. Er wird vom Veranstalter des Wohltätigkeitskonzertes nicht bezahlt und rächt sich an den Bewohnern der Vorstadt, in dem er ihre Kinder verführt. Im Gegensatz zu der Hameler Rattenfängerfigur handelt der Rockmusiker Gringras nicht nur eigennützig. Er braucht unbedingt das Geld, um seinem Vater den Zehnten zu bezahlen. Wie in den eigentlichen Plot eingeschoben in Rückblenden gezeigt wird, hat er in seiner Vergangenheit im Feenreich gegen seinen älteren Bruder opponiert und schließlich aus Wut/ im Affekt diesen getötet. Dafür wird er von seinem Vater in die Menschenwelt verbannt und muss alle sieben Jahre den Zehnten abgeben. Die Summe scheint festgelegt, denn die Zahlung muss in Gold, Silber oder Seelen erfolgen. Historisch gesehen ist der Zehnte allerdings an das jeweilige Einkommen gekoppelt gewesen. Gringras Äußerungen gegenüber der vierzehnjährigen Calcephony kurz Callie genannt zeigen später, dass er nicht immer Gründer und Mitglieder der Rockband Messingratte gewesen ist, sondern scheinbar auch der Rattenfänger von Hameln gewesen sein könnte. Stemple und Yolen machen es sich vor allem mit der Figur Gringas zu leicht. Er ist ein verschlagener Charakter, der sein Schicksal herausgefordert hat. Bis zum Schluss ist er ein egoistischer und vor allem lernunwilliger Opportunist. Wenn er lakonisch bemerkt, dass seine Rücken ins Feenreich zumindest seiner Mutter weitere Tränen erspart, wird darauf hingewiesen, dass er seiner Mutter einen Sohn für immer genommen hat. Seine Reaktion ist erröten und beharrliches Schweigen. Wenn impliziert wird, dass es sich nicht um die erste Entführung von Kindern handelt und Gringas um seinen eigenen Hals zum wiederholten Male zu retten, Unschuldige opfert, dann zeigt es seinen niederen Charakter. Wenn er am Ende des kurzen Büchleins von der lärmenden Erde mit richtigen Kriegen und richtigem Leid schwärmt, unterstreicht diese Haltung, wie wenig bis gar nichts er aus dieser ganzen Geschichte nichts gelernt hat. Vor allem ist er bei der Auflösung der verfahrenen Situation auffällig passiv und überfordert. So wie die Autoren ihn charakterisieren, verdient er keine Rettung und vor allem keine Vergebung. Das Leid seiner unschuldigen Opfer wird mehr oder minder unter den Teppich gekehrt. Ob diese Botschaft wirklich das richtige Signal für ein Jugendbuch sein kann und soll, darf bezweifelt werden. Gringas wird zu einseitig, zu abgebrüht und zu kaltherzig dargestellt und an dieser Perspektive ändert sich nichts im Buch. Der Leser hat den Eindruck, als ob die Autoren zumindest einen Gegenpol zu ihrem menschlichen Protagonisten suchten.
Callie ist eine vierzehnjährige, die einen jüngeren und einen älteren Bruder hat. Dieser geht auf das College. Ihre Eltern machen einen coolen Eindruck, auch wenn er strenge Regeln in Bezug auf das Fortbleiben von zu Hause gibt. Als sich die Band Messingrate in der kleinen Stadt ankündigt, möchte sie am Vorabend zu Halloween hingehen. Ihre Eltern kommen mit. Ihre Mutter und ihr Vater haben selbst in ihrer Jugend die Lieder der Folk Rock Band gehört. Das die Mitglieder aber immer noch wie siebzehn bis zwanzig Jahre alt aussehen, wird zwar bemerkt, aber nicht weiter kommentiert. Hier wäre es vielleicht sinnvoller gewesen, einen Generationenunterschied einfließen zu lassen. Laut Presse haben die Kinder der ersten Besetzung die Band übernommen, erst später stellt sich heraus, dass sie nur ihre Identität gewechselt haben. Das diese Ungereimtheit sowohl von den Eltern als auch Callie bei ihren Recherchen für den anschließenden Schulzeitungsartikel noch einfach akzeptiert wird, ist ein weiterer unglaubwürdiger Punkt. Während der Konzertpause darf sie die Band zusammen mit ihrem Bruder besuchen und einige Fragen stellen. Die phantastische Geschichte um die Messingrate, die das Verhalten von Lemmingen auf Ratten überträgt, ist ein erster Höhepunkt des Buches. Der Leser wird im Verlaufe der sehr geradlinigen Handlung an einigen Stellen bemerken, dass das Buch vor allem abseits der Haupthandlung plötzlich zu Leben beginnt. Nach dem Konzert lauscht Callie durch einen Zufall dem Gespräch zwischen Gringras und dem Organisator. Nicht zuletzt aufgrund dieses Lauschens kann sie das Verschwinden der Kinder am nächsten Tag sich schnell erklären, wird zuerst selbst Opfer der magischen Melodien auf einer CD. Diese scheint ihre verzaubernde Wirkung nur an plottechnisch notwendigen Stellen zu versprühen, hier wäre es sinnvoller gewesen, dass Callie vielleicht auf einer Cassette an einer Stelle, die sie nur finden kann der Musik lauscht und durch diese spezielle Aufnahme verzaubert worden wäre. Im Feenreich kommt es dann zur obligatorischen Konfrontation zwischen Callie und Gringras. Sicherlich haben Yolen und Stemple versucht, den beiden sehr unterschiedlichen Protagonisten gemeinsame Züge zu geben. Beide haben jüngere und ältere Geschwister. Während Gringras einen sehr strengen Vater hat, sind Callies Eltern bis auf wenige erzieherisch sinnvolle Maßnahmen durchaus locker progressiv. Callie kann von Beginn der Geschichte an zwischen Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und vor allem Verantwortung für das eigene Handeln unterscheiden, Gringras nicht einmal am Ende der Story. Obwohl letzterer zumindest Ansätze der Trauer für seine schändliche Tat zeigt, ist Callie der komplexere Charakter. Sie liebt nicht nur ihre Eltern und Brüder, sondern übernimmt auch für die anderen Gefangenen Seelen die Verantwortung. Das sie Gringras eine erstaunliche Brücke baut, ist ein Kompromiss vor der begrenzten Länge des Buches und der Versuch, den gordischen Knote auf eine einfache, fast zu simplifizierte Art und Weise zu durchschlagen. Hier hätten die Autoren Gringras ein wenig mehr Aktion geben müssen, er wirkt zu passiv und eine wirkliche Brücke zwischen dem jungen Mädchen und dem verwöhnten Feenmusiker kommt nicht zustande.
Rattenfänger ist kein schlechtes Buch. Es ist immer schwer aus der Perspektive eines Erwachsenen einen Roman in erster Linie für Jugendliche zu kritisieren. Es gibt Jugendromane, deren Komplexität auf einer klar verständlichen Ebene einfach überrascht, die insbesondere den obligatorischen Reifeprozess der Jugendlichen beispielhaft darstellen. Im vorliegenden Roman der keinen Hinweis auf ein jugendliches Publikum trägt, eine in diesem boomenden Markt verschenkte Möglichkeit bleiben viele gute Ansätze an der Oberfläche. Es wäre sinnvoller gewesen, sowohl Gringras auf der einen Seite ein wenig schuldbewusster und Callie ein bisschen weniger altklug zu portraitieren. Die eigentliche Handlung verläuft geradlinig, die Autoren bemühen sich, das Ambiente stimmig zu gestalten und vor allem immer wieder mit kleinen Episoden aufzulockern. Der Plot um den Rattenfänger lässt sich nicht sonderlich verändern und ist bekannt. Daher überrascht das Büchlein durch die Kombination dieser alten Sage mit dem Feenreich. Dieser Fantasy- Einschlag macht die Lektüre trotz der Einschränkungen in Hinblick der moralischen Grundlage und vor allem der Charaktere zu einem kleinen Vergnügen. Wenn man nicht sonderlich über das Gesamtkonstrukt nachdenkt, eine nette Feierabendunterhaltung und vielleicht der Katalysator, um sich an einige Rockkonzerte von obskuren Gruppen zu erinnern, die man selbst besucht hat. Sobald man allerdings nur ein wenig an der Struktur des Buches zu ziehen beginnt, zerbricht das Konstrukt leider viel zu schnell und hinterlässt einen schalen Eindruck. Hier wäre deutlich mehr möglich gewesen.
24. Aug. 2007 - Thomas Harbach
http://www.sf-radio.net/buchecke/fantasy/isbn3-937...
Der Rezensent
Thomas Harbach

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