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Das Haus der Treppen
| DAS HAUS DER TREPPEN
Buch / Jugendbuch
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Neulich durchstöberte ich wieder einmal meinen Stammbuchladen, denn ich war mir nicht schlüssig, was ich mit meiner Siebenten wohl lesen könnte. Überhaupt fühlte ich mich in puncto Kiju-Literatur längst nicht mehr up to date, ließ mich also beraten und bekam tatsächlich schnell zwei vielversprechende Werke in die Hand. Doch nicht um diese soll es hier gehen, sondern um ein drittes; und um die Erkenntnis, dass der Jugendbuch-Markt mit Phantastik gar nicht so schlecht ausgestattet ist. In nur einer halben Stunde stieß ich gleich auf mehrere Titel - samt und sonders von Autoren, die ich bis dato nicht kannte, sie verkaufen offenbar nicht bei Heyne, Bastei und Co. Aber beim Durchblättern und Anlesen ihrer Bücher stellte ich fest: Phantastisches für Kinder und Jugendliche braucht sich augenscheinlich nicht zu verstecken - und bietet die Chance auf Lesernachwuchs, der das Vergnügen am Spiel mit verschiedenen Wirklichkeiten nicht mehr missen möchte. Dem gestandenen SF&F-Fan werden manche Ideen und Umsetzungen vielleicht hausbacken erscheinen, aber Neulingen eröffnen sie die Möglichkeit, sich dem Genre nicht nur vor dem Bildschirm, sondern auch auf dem Papier anzunähern, durch Texte, deren Qualität deutlich über der von Perry-Rhodan-Heften liegt und die auch nicht auf einen geschlossenen Kosmos wie das STAR TREK-Universum beschränkt bleiben. Weitere Vorzüge dieser Bücher sind das Angebot altersgerechter Identifikationsfiguren - sicherlich nicht gerade unwichtig, wenn man jugendliche Leser bei der Stange halten will - und die Beschäftigung mit Gegenwartsproblemen in abenteuerlicher Form.
Auch William Sleators "Das Haus der Treppen befasst sich mit einem ernsten Thema: mit der Integrität des Menschen in einer scheinbar ausweglosen Situation und innerhalb eines gesellschaftlichen Gebildes, das dem totalitären Staat stark ähnelt. Doch behandelt der Autor dieses Problem nicht abstrakt. Er schreibt spannend und flüssig, hält keine moralischen Vorträge, sondern erzählt, und das sehr glaubhaft: Die drei Mädchen und zwei Jungen, welche im Verlauf der Handlung auf immer neue Proben gestellt werden, verhalten sich durchaus schlüssig - so, wie es andere Leute unter gleichen Umständen auch tun würden.
Dabei sind diese Umstände alles andere als normal: Die fünf befinden sich an einem Ort, wo es nur Treppen gibt, mit Brücken und Plattformen dazwischen, ein kunstvolles Labyrinth ohne Ausgang. Auf einer Plattform entdecken sie einen Nahrungsspender, und einige Treppen höher rauscht Wasser durch ein kleines Loch, Trinkplatz wie Toilette in einem. Genug, um zu existieren; zu wenig, um richtig zu leben. Noch dazu reagiert der Spender nur auf ganz bestimmte Verhaltensweisen in seiner unmittelbaren Nähe. Ein Tanz gehört dazu, dessen Details sich allerdings ständig ändern müssen; und so tanzen Lola, Blossom, Abigail, Oliver und Peter immer neue Schritte und Kombinationen. Doch das reicht nicht aus, denn eines Tages gibt die Maschine ihnen erst zu essen, als sie einander weh tun ...
Das ist der Punkt, an dem Lola, die Energischste und Stärkste des Quintetts, nicht mehr mitmachen will; und sie kann ausgerechnet Peter, den Schwächsten und Hilflosesten, den Träumer, dazu bringen, es ihr gleichzutun. Beide gehen weg von der Plattform, wollen das schlimme Spiel nicht mehr mitspielen, die Maschine besiegen. Doch die stellt sich auch darauf recht schnell ein. Was nun an Grausamkeit aufbricht, scheint erschreckend, aber nicht ungewöhnlich. Sleator setzt gekonnt und intensiv in Szene, wie Menschen andere quälen können, um selbst zu überleben; und wie Menschen Widerstand leisten, selbst angesichts des eigenen Todes.
Die Protagonisten werden in ihren Eigenschaften und Biographien nur knapp skizziert; wir erfahren gerade genug von ihnen, um sie als Typen einzuordnen. Alle sind sechzehn Jahre alt und Waisen. Vier der fünf haben eine Kindheit in staatlichen Heimen hinter sich: Oliver, der äußerlich sympathische Kerl, der mit seiner "Strahlekraft jedoch nur seine innere Unsicherheit überspielt; Abigail, stets um Ausgleich bemüht, aber charakterlich schwach; Lisa, unangepasst, seelisch robust, mit Führungsqualitäten ausgestattet, doch oft verletzend; Peter, ein hilfloser Träumer, der nie gekämpft hat und nun den schwersten Kampf seines Lebens bestehen muss. Allein Blossom hat eine andere Vita: Bis zum Tode ihrer Eltern, der erst einen Monat zurückliegt, gehörte sie zur Oberschicht. Sie ist die Unerträglichste von allen, eine Intrigantin, wie sie im Buche steht; aber das nimmt nicht wunder, wenn man bedenkt, dass sie einerseits angesichts der verlorenen Privilegien die Belastungen im "Haus der Treppen am schmerzlichsten empfinden muss und andererseits aufgrund ihrer früheren Stellung Zeit und Muße genug hatte, sich im Intrigenspiel zu üben. - Diese Charaktere und ihre Entwicklung mögen etwas klischeehaft wirken; differenzierter und offener dargestellt wird nur Peter. Doch erleichtern klar und eindeutig gezeichnete Figuren den (jugendlichen) Lesern Zugang, Ablehnung und Identifikation, wogegen komplexere, anspruchsvolle Gestalten sie schnell überfordern könnten. Auch wäre zu bedenken, dass in extrem kargen Situationen wie der beschriebenen sich nur wenige Eigenschaften eines Menschen entfalten, weil reichhaltige, vielgestaltige Beziehungen zu Mitmenschen und Umwelt fehlen.
Was davon bleibt, setzt Sleator in bewegende und spannende Erzählung um; fast bedauert man die Auflösung der Situation im "Epilog genannten letzten Kapitel. Dieses überzeugt nämlich weniger. Wir erfahren, was wir schon ahnten: Die fünf waren einem Versuch ausgesetzt, bei dem das menschliche Verhalten studiert werden sollte. Fernziel der Experimentatoren: "wissenschaftliches Verhaltenstraining für jedermann zu entwickeln. Angesichts der Andeutungen über die extrem zweigeteilte Gesellschaft verwundert das nicht - die Machthaber des totalitären Staates kontrollieren eben gern ihre Bürger. Dass aber das gigantisch angelegte Projekt obendrein dazu dienen soll, eine dem Präsidenten treu ergebene, bedingungslos gehorsame Eliteeinheit zu schaffen, erscheint ein wenig naiv; als gäbe es keinen einfacheren Weg! Es braucht kein Haus mit Treppen, keine extremen Situationen, um Menschen dazu zu bringen, ihre Mitmenschen zu quälen. Es muss nicht einmal das eigene Überleben bedroht sein; für ein bisschen mehr Wohlstand zeigen die allermeisten von uns ein ganz ähnliches Verhalten wie Abigail, Oliver und Blossom. Dieses Experiment glückt täglich, unter weitaus weniger ausgefallenen Umständen; es benötigt nicht einmal die Bedingungen des Dritten Reiches oder der DDR. Ein Stand in einer Fußgängerzone mitten im reichen Deutschland genügt völlig. (Wer die Unterschriftenaktion der CDU gegen die doppelte Staatsbürgerschaft verfolgt und vor allem die Kommentare mancher Unterzeichner gehört hat, weiß, was ich meine.)
Aber vielleicht täusche ich mich ja über Sleators Naivität - vielleicht will er gerade diese Überlegung provozieren, den Brückenschlag von der phantastisch überhöhten Extremsituation ins Alltägliche? - Wie dem auch sei: "Das Haus der Treppen kann ich auf jeden Fall weiter empfehlen, als ein gut geschriebenes und nachdenklich stimmendes Jugendbuch. Ein Platz auf der "Ehrenliste Österreichischer Kinder- und Jugendbuchpreis, mehr aber noch 14 Auflagen seit 1986 untermauern die Empfehlung.
House of Stairs, übers. a. d. Amerikanischen v. Hannelore Placzek, dt. Erstausgabe 1976 im Walter-Verlag Olten, © 1983 Verlag Jungbrunnen, Wien - München, 1986 dtv München, 14. Auflage 1998, 190 S., DM 9,90
Nachsatz: Zwei Tage nach Fertigstellung dieser Rezension las ich im Juliheft 1998 der Zeitschrift "Praxis Deutsch einen Artikel, der mir sehr wohltat, verteidigte Autorin Barbara Hurrelmann doch darin die sogenannte "Unterhaltungsliteratur, wies auf deren unverzichtbare Funktion für die Entwicklung des Vergnügens am Lesen hin und kritisierte die nur in Deutschland derart penetrant betriebene Teilung in "E und "U. Und was fand ich weiter hinten im Heft? Sieben Seiten Unterrichtsmodell für "Das Haus der Treppen, sogar mit einem Ausflug in die Frage, was SF sei, eingeleitet durch ein längeres Zitat von Wolfgang Jeschke. Zufälle gibts ... Jedenfalls für mich der letzte Anstoß, das Buch mit meiner Neunten zu behandeln. - Hoffentlich haben viele Kollegen dieses Heft gelesen!
11. Nov. 2006 - Peter Schünemann
Der Rezensent
Peter Schünemann
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