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Nachrichten aus Mittelerde
| NACHRICHTEN AUS MITTELERDE
Buch / Fantasy
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... nie zu fragen wagten? Nun, Fragen drängen sich nach der Lektüre von "Der kleine Hobbit", "Das Silmarillion" und vor allem "Der Herr der Ringe" schon auf. Tolkien arbeitete ja ein Leben lang an seinem großen Vorhaben, eine Mythologie für England zu erschaffen; und wie jede Mythologie blieb auch seine ständig in lebendigem Fluß, bietet sie kein abgeschlossenes, statisches Gesamtbild. Vor allem "Das Silmarillion", das Kernstück dieser Arbeit, verbesserte und veränderte er ständig. Die heute vorliegende Ausgabe, die vier Jahre nach seinem Tod erschien, stellte sein Sohn Christopher für den Druck zusammen, nicht ohne Schwierigkeiten, da die ersten Texte dazu (die "Verschollenen Geschichten") schon 1916/17 geschrieben wurden und einige Teile mitunter, im Gegensatz zu anderen, kaum Veränderungen erfuhren. Als Tolkien 1973 starb, hinterließ er eine Unmenge an Fragmenten, an Varianten von Geschichten, an noch nie veröffentlichten Materialien, und oft mußte sein Sohn akribisch forschen und untersuchen, um zu erkennen, welche Texte zu welchen paßten. Vergleicht man allein die zweibändige Ausgabe der "Verschollenen Geschichten" mit dem letztendlichen "Silmarillion", so erkennt man staunend, welche Entwicklung die Geschichte Mittelerdes durchmachte. Man könnte meinen, Tolkien habe hier willentlich oder unwillkürlich im Laufe eines Menschenlebens nicht nur die Mythologie gedichtet, sondern die Variationen, welche alle großen Sagen im Laufe der Jahrhunderte erfahren, ebenfalls "mitgeliefert". Und sicherlich wird aus dem gewaltigen Nachlaß immer noch mehr herausgegeben werden, denn das Interesse erlahmt nicht; wenngleich diejenigen Leser, welche ihre Lektüre auf den "Herrn der Ringe" oder allenfalls noch den "Hobbit" begrenzen, an den Variationen der Texte nicht unbedingt interessiert sein mögen die "Verschollenen Geschichten" zählen wohl mehr zum InsiderStoff.
Doch vielleicht ist es bei den "Nachrichten aus Mittelerde" etwas anders, denn hier kann auch der "durchschnittliche" TolkienLeser ergänzende Lektüre zu den bekanntesten Werken finden. Die ersten drei Teile des Buches beinhalten Erzählungen aus den ersten drei Zeitaltern, die Mittelerde erlebt; der vierte liefert weitere Informationen. Das Erste Zeitalter ist dabei im wesentlichen das des "Silmarillion"; es dauert von der Erschaffung der Welt bis zum Sieg über Morgoth, den Schwarzen Feind, den Schöpfer der Drachen und Orks und den Urquell alles Bösen. In dieser Zeit werden die Unsterblichen Lande von Valinor geschaffen und entsteht Mittelerde, erblicken Elben und Menschen, Ents und Zwerge das Licht der Welt, errichtet Morgoth seine Schreckensherrschaft über Mittelerde, holen die Valar die Elben von dort in ihre Glücklichen Lande. Morgoth aber tötet gemeinsam mit der Riesenspinne Ungolianth die beiden Leuchtenden Bäume von Valinor (erst dann erschaffen die Valar Sonne und Mond), und er raubt die heiligen Silmaril, kunstvoll geschaffene Edelsteine, die allein noch das Licht der Bäume bewahren. Daraufhin will der Elb Feanor, Schöpfer der Steine, diese zurückerobern, und es kommt zum Auszug vieler Elben aus Valinor gegen den Willen der Valar. Eine lange Zeit der Größe, der glorreichen Kämpfe, aber auch schwerer Leiden und Niederlagen beginnt für die Elben und die mit ihnen verbündeten Häuser der Menschen, ehe der Mensch Beren und die Elbenprinzessin Luthien einen Silmaril aus Morgoths Krone stehlen können und ehe Earendil der Seefahrer als Bote beider Geschlechter im Lichte dieses Steins die Fahrt nach dem verborgenen Valinor gelingt, wo er um Hilfe für die Bedrängten bittet. Die Valar und diejenigen Elben, welche in den Glücklichen Landen geblieben waren, rüsten nun endlich ihre Heere, und im Kriege des Zorns wird Morgoth besiegt, seine Festungen werden geschleift, die meisten seiner Kreaturen vernichtet. Aus dieser Zeit sind noch einmal frühe Fassungen zweier Geschichten zu lesen. "Von Tuor und seiner Ankunft in Gondolin" berichtet, wie der Vater Earendils die Verborgene Stadt, das letzte große Königreich der Elben in Mittelerde, erreicht. Leider vollendete Tolkien den Text nicht; dieser bricht nach Tuors Ankunft ab. Schade, denn er erzählt vieles ausführlich, was im späteren "Silmarillion" zu kurz kommt, vermeidet aber andererseits den sehr archaisierenden Stil der vollständigen Erzählung, welche als erste der "Verschollenen Geschichten" vollendet wurde. Außer diesem Text findet der Leser im ersten Teil des Buches die längste Prosafassung der "Narn I Hin Hurin", die vom Leiden der Kinder Hurins berichtet. Mit 120 Seiten erreicht diese schon die Länge eines Kurzromans. Auch hier wird viel ausführlicher als im "Silmarillion" erzählt, wenngleich man nichts wesentlich Neues erfährt. Anders im zweiten Teil des Buches, welcher dem Zweiten Zeitalter gewidmet ist!
In dieser Epoche kehren viele Elben nach Valinor zurück; die Menschen aber, die ihnen im Kampf gegen Morgoth halfen, erhalten zum Lohn die Insel Numenor als Wohnsitz. Mittelerde versinkt lange Zeit im Dunkel; Sauron, der mächtigste Diener Morgoths, treibt dort weiterhin sein Unwesen. Er unterweist die Elbenschmiede von Eregion; sie erschaffen die Ringe der Macht, nicht ahnend, daß Sauron im Schicksalsberg den Einen Ring schmiedet, den Meisterring, der alle anderen beherrscht. Celebrimbor, der Schöpfer der Drei Ringe der Elbenkönige, entdeckt es schließlich früh genug, um seine Werke vor Saurons Zugriff zu schützen. Dennoch wird Eregion verwüstet und er selbst erschlagen. Auf Numenor aber blühen und gedeihen die Menschen, die wesentlich länger leben als gewöhnliche Sterbliche. Elros, der frühere HalbElb, Sohn von Elwing und Earendil, wurde Numenors erster König, da er anders als sein Bruder Elrond die Menschen zu seinem Geschlecht wählte. Geboren im Jahr 58 vor Beginn des Zweiten Zeitalters, herrschte er bis zum Jahre 410 und starb erst im Jahre 442, also mit fünfhundert Jahren. Doch seine fernen Nachfahren gelüstet es nach der Unsterblichkeit der Elben, und da sie diese nicht erhalten können, verfeinden sie sich mit dem Älteren Geschlecht und den Göttern während ihre Macht immer mehr wächst. AkPharazon, der Goldene, der mächtigste numenorische König, unterwirft sich sogar Sauron aber zugleich fühlt er sich angesichts seines eigenen Todes ohnmächtig und unzufrieden. Und da er Sauron nicht töten läßt, sondern ihn als Gefangenen nach Numenor schafft, folgt er bald dessen unheilvollem Rat und beschließt, Valinor zu erobern, um dort die Unsterblichkeit zu erlangen. Doch er und alle seine Krieger finden an der Küste der Glücklichen Lande den Tod, und Numenor geht in einem gewaltigen Strafgericht unter. Nur die wenigen Elbenfreunde, die dort noch leben, entkommen nach Mittelerde, geführt von Elendil und seinen Söhnen Isildur und Anarion. Es gelingt ihnen, den wiedererstarkten Sauron im Krieg des "Letzten Bündnisses" der Elben und Menschen zu besiegen. Elendil, Anarion und der Elbenkönig GilGalad werden dabei erschlagen, doch Isildur schneidet den Einen Ring von Saurons Hand, und der Dunkle Herrscher wird wiederum zu einem schwachen Schatten. Zu diesem Zeitalter gibt es in Tolkiens drei bekanntesten Werken nur wenig zu lesen; lediglich ein kleiner Abschnitt im "Silmarillion" erzählt die Geschichte der Insel Numenor, und die Anhänge zum "Herrn der Ringe" beinhalten weitere Informationen. In den "Nachrichten aus Mittelerde" findet der Leser nun "Eine Beschreibung der Insel Numenor" und liest vor allem die Geschichte von Aldarion, dem ersten SeefahrerKönig, und seiner Frau Erendis einen wirklich schönen Text, der von der starken Liebe und dem ebenso starken Gegensatz dieser beiden Menschen beherrscht wird. Außerdem jetzt kommen wir in bekanntere Gefilde hat Christopher Tolkien 30 Seiten Geschichten und Varianten zum Leben von Galadriel und Celeborn beigegeben, die noch einmal von Anmerkungen und Anhängen komplettiert werden. Galadriels Rolle beim Auszug von Mittelerde und in den Kriegen des Ersten Zeitalters wird hier genauer dargestellt; man erfährt einiges über die Vergangenheit der mächtigen Elbenkönigin, die nicht immer leicht und glücklich war.
Das Dritte Zeitalter schließlich ist das des "Kleinen Hobbit" und des "Herrn der Ringe". In seinem zweiten Jahr wird Isildur auf den Schwertelfeldern erschlagen; der Ring geht verloren. Sauron erstarkt wieder; seine Nazgul kehren gleichfalls zurück. Den Rest kennt wohl jeder, der die beiden Bücher gelesen hat. Im entsprechenden dritten Teil der "Nachrichten aus Mittelerde" kann man miterleben, wie sich die Tragödie auf den Schwertelfeldern genau abspielte, wie die Freundschaft zwischen Gondor und Rohan entstand und vor allem, wie Gandalf die Fahrt zum Erebor einfädelte, bei welcher der Drache Smaug erschlagen und so ein wichtiger Teil des Hinterlandes der Kämpfer gegen Sauron gesichert wurde. Außerdem lesen wir, wie die Schwarzen Reiter den Ring jagen also sehen wir die Geschehnisse einmal aus der anderen Perspektive. Eine Schilderung der Schlachten an den Furten des Isen, welche dem entscheidenden Kampf um Helms Klamm vorausgingen, beschließt diesen Teil des Bandes.
Der vierte Teil endlich berichtet von den Druedain, einem merkwürdigen Menschenschlag (den Vorfahren der "Wilden Männer" im "Herrn der Ringe"); wir erfahren mehr über die Istari, die Zauberer, welche die Valar den Menschen und Elben gegen Sauron zu Hilfe sandten (Gandalf, Saruman und Radagast gehören zu ihnen); das dritte und letzte Kapitel beschäftigt sich mit den Palantiri, den Sehenden Steine, die im Ringkrieg ja ebenfalls eine wichtige Rolle spielen.
Insgesamt bietet das Buch also eine Menge zusätzlicher Informationen, welche auch weniger "harte" TolkienFans sich nicht entgehen lassen sollten. Freilich mögen 58 Mark sehr teuer erscheinen. Ich kaufe Tolkien allerdings nur noch im Hardcover, weil die Pappeinbände der Billigangebote meinem Lesedrang nicht lange standhalten (die DM 48, für "drei wohlfeile kartonierte Bände im Schuber" des "Herrn der Ringe" waren umsonst ausgegeben als sie auseinanderfielen, mußte ich mir die HardcoverAusgabe zulegen). Wer sich aber für die weiteren Mosaiksteine zum großen Bild "Mittelerde" interessiert, jedoch nicht ganz so viel Geld investieren will, der sei auf die preiswertere TaschenbuchAusgabe verwiesen, die KlettCotta vor kurzem herausbrachte; hier ist man schon mit DM 24,80 dabei und es lohnt sich.
. J. R. R. Tolkien, Unfinished Tales of Numenor and MiddleEarth, mit Einleitung, Kommentar, Register und Karten, hrsg. v. Christopher Tolkien 1980, übersetzt von Hans J. Schütz 1983 (5. Auflage 1993), 600 S. (Hardcover), DM 58,
11. Nov. 2006 - Peter Schünemann
Der Rezensent
Peter Schünemann
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