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Agoraphobiastica
Unter Agoraphobie versteht man vor allem die Angst vor weiten Plätzen, Menschenmengen und Reisen, die zu Panikattacken führen kann, wenn der Betroffene befürchtet, dass ihm eine Gefahr droht, vor der er sich nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen kann. Es kommt zu einer Vermeidung dieser Orte und in einigen Fällen sogar dazu, dass die Person die eigene Wohnung nicht mehr verlassen kann.
In der heutigen Zeit leiden immer mehr Menschen an verschiedenen Angst-Formen, verursacht durch den Druck, den das Umfeld oder man selber auf sich ausübt, durch hohe Erwartungshaltungen und Belastungen im Familienkreis und in der Schule/am Arbeitsplatz, durch Mobbing, eine unsichere Zukunft und tragische Verluste und vieles mehr.
Tat man dies vor wenigen Jahrzehnten oft noch mit einem Schulterzucken ab und meinte, der Betreffende solle sich nicht so anstellen, weiß man mittlerweile, dass solche Ängste Krankheiten sind, die durch Medikamente und Therapien behandelt werden können und müssen.
Der Chaotic Revelry Verlag, der bereits durch Anthologien zu ungewöhnlichen Themen auf sich aufmerksam machte, entschied sich 2009 für das Stichwort Ängste und rief zu einem Schreibwettbewerb auf. Es gab viele hundert Reaktionen, neunzig Prozent von Frauen so der Verlag -, was wieder einmal zeigt, dass es immer noch Dinge gibt, über die Männer nicht so frei sprechen können und wollen, während Frauen ihre Ängste eher erkennen und sich eingestehen.
Von den eingesandten Beiträgen wurden 15 Kurzgeschichten und 4 Lyriken von 19 Autoren und Autorinnen (allerdings im Verhältnis 1 : 1) ausgewählt und in Agoraphobiastica veröffentlicht.
Die Situationen und Ängste, die beschrieben werden, sind vielfältig und nicht etwa auf Platzangst begrenzt: Verlustangst, Todesangst, die Angst vor einer Verschwörung und vor Bakterien, die Ur-Angst vor etwas Unheimlichen u. v. m. Die Geschichten und Lyriken lassen sich dementsprechend unterschiedlichen Genres zuordnen, meist der zeitgenössischen Erzählung und dem Drama, dem Surrealismus und auch der Mystery.
Manche der Ereignisse kennt man aus dem eigenen Umfeld oder kann sie sich leicht vorstellen:
In Kathrin Reikowskis Noch nicht ganz tot beobachtet die Protagonistin die Veränderungen einer Freundin, die sie längere Zeit nicht gesehen hatte, und sorgt sich um die Veränderungen, die auf sie selber warten.
Karsten Prühl schildert in Latte Macchiato die geheimen Wünsche eines Mannes, der seine Angst vor dem Älterwerden und den verpassten Chancen hinter Gerede und angeblichem Zeitmangel vor sich und anderen verbirgt.
Simone Edelbergs Protagonistin stellt fest, Tote sind gute Zuhörer, aber sie verlangen ebenfalls Aufmerksamkeit und haben Ängste in Vergessenheit zu geraten - wie die Lebenden liebe Menschen zu verlieren.
Die Bestie vom Johannisthal erschreckt den ungläubigen Spaziergänger, den Dieter Stiewi nachts unterwegs sein lässt. Kann er dem Grauen entkommen?
Das sind nur vier Beispiele, die verschiedene Situationen und Ängste beschreiben, mit denen auf individuelle Weise umgegangen wird. Manche Geschichten gehen gut, andere traurig aus, hin und wieder gibt es gar keine konkrete Lösung. Vielen Texten merkt man an, dass eigene Erfahrungen zugrunde liegen, die noch immer nicht verarbeitet wurden. Einige Autoren hingegen binden klassische Motive in eine unterhaltsame Erzählung ein. Das Spektrum der Beiträge ist wirklich weit gefächert!
Daher dürften Leser, die sich für Bücher interessieren, welche sich nicht am Mainstream orientieren, und die nach ungewöhnlichen, anspruchsvolleren Themen suchen, in Agoraphobiastica den einen oder anderen Beitrag finden, der den Nerv trifft.
Erwähnenswert ist der Hinweis auf der letzten Seite, der eine Zeitschrift, die daz (Deutsche Angst-Zeitschrift), vorstellt, in der (ehemalige) Betroffene berichten und anderen zu helfen versuchen.
Auch der Chaotic Revelry Verlag leistet mit der vorliegenden Anthologie einen wichtigen Beitrag, damit Leidende ihre Ängste erkennen und den Mut finden, darüber zu sprechen und sich behandeln zu lassen, bzw. damit das Umfeld mit mehr Verständnis reagiert und den Betroffenen die notwendigen Hilfen zukommen lässt. (IS)
08. Mai. 2010 - Irene Salzmann
Der Rezensent
Irene Salzmann

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Irene Salzmann, Jahrgang 63, verheiratet, drei Kinder, studierte mehrere Semester Südostasienwissenschaften und Völkerkunde an der LMU München.
Schon seit Jahren schreibt sie phantastische und zeitgenössische Erzählungen, die zunächst in den Publikationen der nicht-kommerziellen Presse erschienen sind. In den vergangenen Jahren w...
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