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Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens

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DIE WEISSEN HÄNDE UND ANDERE GESCHICHTEN DES GRAUENS


/ Horror


Mit Mark Samuels "Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens" liegt nicht nur die Debütsammlung eines entwicklungsfähigen jungen britischen Autoren vor, sondern eine interessante und konsequente Fortführung vieler Motive aus "spuk des Alltags" von Alexander M.Frey, einem der vergessenen Autoren der Weimarer Republik. Vielleicht ist es kein Zufall, dass sich Frey während einer Zeit des Versuchs einer deutschen Demokratie genauso dem geistigen Zerfall der Menschen gewidmet hat wie Samuels in einer Zeit, in der viele Demokratien unter den Lügengebilden politischer Großmannssucht und hemmungsloser Habgier ihre letzte Glaubwürdigkeit einbüßten. Der seit seiner Geburt im Jahre 1967 in London lebende Samuels ist ein Vertreter der postmodernen Phantastik, dessen Wurzeln weit zurückreichen. Er ist im Genre aufgewachsen, kennt sich mit den Klassikern genauso gut aus wie mit den aktuellen Autoren, spielt mit diesen Motiven und nutzt in mehreren der hier präsentierten Geschichten die Obsession als Katalysator kommender Ereignisse, die ausschließlich in Wahnsinn und Tod enden. Dabei stellt er mehr als einmal die Frage, ob die Beendigung der hiesigen Existenz und der mögliche Neubeginn jenseits der Schwelle unbedingt etwas schlechtes sein muss .

Die Titelgeschichte "Die weißen Hände" - obwohl "Die weißen Hände und andere Geschichten des Grauens" besser gepasst hätte - mit dem Dreigestirn Alfred Muswell - der seltsam verschrobene sich zurückgezogene sekundärliterarische Kritiker, sein literarisches Idol Lilith Blake und der besessene Ich-Erzähler ist eine liebevoll Hommage an das phantastische Genre . Mark Samuels kennt dessen Wurzeln und zieht seinen Hut vor den oft in die Vergessenheit gedrängten Meistern. Genauso nutzt der Autor aber auch diesen literarischen Reichtum, um eine Abwandlung von Dr. Orlacs Händen zu konzipieren. Schein und Sein wechseln sich nicht nur in dieser Geschichte ab. Die Annäherung an eine andere Welt geht bei Samuels einher mit der Isolation von dieser Realität, dieser Ebene. Besonders in "Die weißen Hände" gelingt der Übergang nur unter der Opferung des eigenen Verstandes. Auch wenn Samuels mit der Charakterisierung seiner Protagonisten sehr zufrieden ist, durchbricht er nicht die Barriere zu seinen Lesern, die Figuren und deren Schicksal bleibt ihnen fremd. Auf der anderen Seite wirkt diese Geschichte ungewöhnlich zeitlos, geschickt entführt Samuels seine Zuschauer stimmungsmäßig in die Vergangenheit der poe´schen Gruselgeschichten ohne sich deren aristokratische Mentalität zu eigen zu machen.

Sowohl Alfred Muswell in einer kleinen Szene als auch eine Kurzgeschichte von Lilith Blake tauchen im letzten Text der Sammlung - "Schwarz wie die Finsternis", der Filmtitel eines verschollenen Werkes - wieder auf. In einer obskuren Videothek kauft einer der Freunde eine Raubkopie eines alten schwarz weißen Gruselschockers, in dem seine Frau eine Hauptrolle spielte. Angeblich wurde die Mutterfilmrolle beschädigt und deswegen konnte das Meisterwerk nicht mehr aufgeführt werden. Die Begegnung mit der Zelluloidvergangenheit löst eine tragische Reihe von persönlichen Katastrophen aus. Schon zu Beginn unterstreicht Samuels wie in "Die weißen Hände", dass er ein Kind des Genres ist . Liebevoll führt er eine Reihe von alten Filmtiteln an. Das die Zwischenwelt in diesem Fall durch die Entdeckung des alten Films brüchig wird, ist eine Umkehrung einiger anderer Texte. Die Toten drängen in unsere Realität, um Umgereimtheiten auszugleichen. Die nicht erfüllte Sehnsucht durchdringt die Grenzen, damit ist es einer der wenigen emotionell aufgeladenen Texte dieser Sammlung und hebt sich schon durch diese Konstellation hervor. Eine klassische Geistergeschichte, vom Motiv her nicht besondere originell, aber stimmungsvoll erzählt.

"Das letzte Spiel des Großmeisters" ist eine unbewusste Hommage an Clive Barkers ersten Roman "Damnation Game" - das königliche Schachspiel im Mittelpunkt der Auseinandersetzung von einem Priester - Gott - und den bösen Machten. Faszinierend simpel mit einer geschickten Rückblende und einem pointierten Ende gelingt es Samuels eine moderne unterhaltsame Geschichte zu erzählen.

Sowohl "Momentaufnahme des Schreckens" als auch "Appartement 205" beschäftigen sich mit der Isolation des Menschen, erste Geschichte als Anspielung auf die moderne Industriegesellschaft mit ihren leblosen Totems die zweite Geschichte als Flucht vor dem Alltag in eine selbst gewählte Isolation.

Jahrelang galt London am Ende des Baubooms als Stadt architektonischer Hüllen, gewaltige Gebäude, konstruiert, gebaut und von den Auftraggebern verlassen. In einer dieser fertig gestellten modernen Bauruinen begegnet der Ich-Erzähler seinem Schicksal. Thomas Wagner stellt in seinem Nachwort insbesondere die Formulierung "YHVH Elohim Met" des Architekten Golmi - die Anspielung auf Golem - heraus. Im Grunde negiert der Autor allerdings mit diesen Anspielungen seine Intention einer anonymen gesichtslosen Gesellschaft Der Golem als Beschützer des jüdischen Volkes hätte eher einen Hort geschaffen, aus dem jeder Christ verbannt worden wäre. Auch die andere Anspielung passt nicht zu der Richtung, in die er seine bedrückende, realistisch beginnende und dann ins Phantastische abgleitende Geschichte geplant hat. Eher könnte hier wieder der Übergang von unser Gegenwart in eine dem Wahnsinn nahe gelegene Parallelwelt im Vordergrund stehen, stellvertretend gezeichnet durch die Glaspaläste einer sich selbst überschätzenden Industrienation.

Mit "Appartement 205" geht er einen anderen Weg und greift einige Elemente der "Weißen Hände" wieder auf. Notizen anstelle von Kurzgeschichten ermöglichen die Flucht aus der Realität durch eine verdunkelte Wohnung in das Jenseits. Nicht so stimmungsvoll und überzeugend wie die Titelgeschichte, mit fehlenden nachvollziehbaren Charakteren ausgestattet wirkt sie eher wie eine Stimmungs- und Stilübung denn eine vollständige Geschichte. Die Idee einer zweiten Welt, vielleicht durch die geistigen Kräfte der Toten aufrechterhalten oder erst geschaffen, zieht sich durch Samuels Werk. Manchmal verzerrt er die Wirklichkeit und lässt anfällige Figuren über die Schwelle treten - das Motiv wiederholt sich fast zu oft - manchmal kommen die Toten als Erscheinungen aber auch in unsere Welt und versuchen potentielle Opfer zu verführen. Das Ergebnis, die Aufgabe des eigenen Seins, ist immer das Gleiche.

"Die Sackgasse" ist eine persönliche Abrechnung Mark Samuels mit den strengen Regeln der Arbeitswelt. Er selbst geht einem regulären Tagesberuf in der Verwaltung eines Londoner Unternehmens nach. Und diese stupide Arbeit kreidet er in dieser an die kafka´schen Labyrinthe erinnernden Geschichte auch deutlich an, ohne über eine Metapher der modernen Arbeitswelt hinaus zu gehen. Thomas Ligotti schielt mit seinen Kurzgeschichten und Novellen in eine ähnliche Richtung, andere Autoren verarbeiten den Einheitsdruck in anderen Formen und nutzen nicht die phantastischen Elemente. Obwohl die Geschichte von der dunklen, bedrohlichen Atmosphäre her überzeugend aufgebaut ist, fehlt er das kalte Herz. Zu sehr Fassade als Innovation breitet sich vor dem Leser aus. Er vermisst die Explosion neuer Ideen, die den Text aus dem durchschnittlichen, aber handwerklich empfehlenswerten Einheitslook heraus auf eine neue Ebene heben.

Auch "Kolonie" - ein junger Mann mietet sich ein Zimmer in einem Haus aus einer anderen Realität (?) - wirkt in dieser Hinsicht wenig überzeugend. Samuels überträgt die Atmosphäre immer skurriler werdender Stadtviertel in seine Geschichte, ohne handlungstechnisch dem Szenario etwas abzugewinnen. So bleibt eine atmosphärisch interessante Stilübung, viel Rauch um Nichts. Es ist interessant, dass er sich mit dieser und der folgenden Geschichte an Thomas Ligotti anlehnt, dessen Werke ähnliche Schwächen aufweisen. Im Nachwort und Interview hebt Thomas Wagner diese Kombination mehrmals deutlich hervor . Wer Thomas Ligotti liebt, wird deswegen Mark Samuels schon lesen, wer dem ersten Autoren mit der notwendigen kritischen Distanz gegenüber steht, erkennt , dass Atmosphäre alleine nur kurze Zeit den geistigen Hunger stillt.

"Vrolcyk" ist nicht nur aufgrund ihres fast unaussprechlichen Namens eine interessante Story, sie nimmt Motive aus anderen Geschichten dieser Sammlung wieder auf. Die Wirkung der phantastischen -gruseligen - Literatur auf Leute, die eigentlich der Meinung sind, mit beiden Beinen auf dem Boden der Realität zu stehen und dann erkennen müssen, dass die Grenze zu Wahnsinn schon längst überschritten worden ist. Dabei lehnt Samuels ganz bewusst die Figuren des Protagonisten an Thomas Ligotti an, der den Text auch durchsah. Dadurch gelingt es auch dem Autoren, die -bewusst ? - schattenhaft angelegten Protagonisten um einen dreidimensionalen, einen ansprechenden und mitreißenden Charakter zu bereichern. Außerdem einige der wenigen Geschichten, in denen die von der anderen Seite die Initiative übernehmen. Diese Tiefe macht die Kurzgeschichte zu einer der besseren Arbeiten dieser Sammlung.

Mit "Die Suche nach Kruptos" legt Mark Samuels eine verstörende und frustrierende Arbeit zugleich vor. Über weite Strecken eine Hommage an Jorge Luis Borges phantastisches Werk lebt die Suche nach der ultimativen Bibliothek in einem von ausufernden Zweiten Weltkrieg zerrissenen Europa in erste Linie von seinen eindringlichen, surrealistischen Bildern. Die Bücher im Schnee, die Entdeckung ihrer Bedeutung brennen sich in der Erinnerung des Lesers ein, um dann durch ein offensichtliches Ende negiert zu werden. Hier ist es besonders auffällig, dass Samuels immer noch ein Autor ist, der lernt. Er versucht in diesem Ende Irrealität/Wahnsinn mit der dunklen Realität und dem Schicksal des Judentums zu verbinden. Die Namen der beiden deutschen Soldaten sind sicher mit Bedacht gewählt, sie fügen zu der frustrierenden Note allerdings nur noch einen Hauch hinzu.

Die neun Geschichten lesen sich im Gegensatz zu vielen anderen modernen Geschichten, die ua kleine Magazine wie "The Third Alternative" bevölkern sehr flüssig. Textlich ist es erstaunlich, wie sich Samuels immer wieder in unterschiedlichen Variationen mit dem Schritt in die andere Welt auseinandersetzt. Das Interview mit dem Autoren zu den hier veröffentlichen Geschichten rundet das Bild ab, in Kombination mit Thomas Wagners Artikel wirkt der Anhang zu euphorisch, zu emotionell und leider viel zu unkritisch. Wie bei Ligotti stilisiert Wagner jeden Hauch ins Unermessliche und vergisst, dass Samuels immer noch ein "junger" Autor ist, der sich weiter entwickeln kann und muss. So gewährt "Die weißen Hände" einen gelungenen Einblick in die moderne britische Phantastikszene, die breiter ist als es Wagner und Samuels hier darstellen, die sich nicht von den gothischen Eindrücken klassisch englischem Horror abgewandt haben, sondern diesen mutig und einfallsreich in ihre Geschichten integrieren.

12. Jan. 2007 - Thomas Harbach
http://www.sf-radio.net/buchecke/horror/buch197.ht...

Der Rezensent

Thomas Harbach
Deutschland

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