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Unterwegs in einem kleinen Land

UNTERWEGS IN EINEM KLEINEN LAND

Philip K. Dick
Buch / Drama

Liebeskind
Hardcover, 2009
387 Seiten
ISBN 9783935890632

“Unterwegs in einem kleinen Land” gehört zu der Handvoll von realistischen Mainstreamromanen, mit denen Philip K. Dick in den frühen fünfziger Jahren seine Schriftstellerlaufbahn begonnen hat. Für die meisten Bücher hat Dick keinen Verleger gefunden. Sie sind in seinen Schubladen wieder verschwunden, während sich der Amerikaner der Science Fiction zuwandte. Erst nach seinem Tod sind die einzelnen Romane zuerst in kleinen Verlagen posthum veröffentlicht worden und Dick als realistischer Beobachter des amerikanischen Zeitgeists gefeiert worden. Aus heutiger Sicht beschreiben die Werke nicht nur Amerika zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem wirtschaftlichen Aufschwung der Baby Boomer Generation, sie unterstreichen autobiographisch eingefärbt Dicks innere Zerrissenheit und Angst vor der Gleichförmigkeit. Nicht selten spielt ein Radio bzw. Fernsehladen eine Rolle. Dick hat neben seiner damals noch erfolglosen Schriftstellerei in einem derartigen “Kleinstadtladen” bedroht von aufkommenden Einkaufscentren gearbeitet, um die Rechnungen seiner jungen Familie zu bezahlen. Nicht selten lässt sich der 1928 geborene - und damit zur Entstehung des vorliegenden Romans “Unterwegs in einem kleinen Land” genauso alt wie seine Protagonisten - dank der verschiedenen Biographien inzwischen klar erkennbar in teilweise unterschiedlichen Figuren eines Romans wieder finden.
“Unterwegs in einem kleinen Land” ist eine Vierecksgeschichte, in deren Mittelpunkt zwei sehr unterschiedliche und doch in ihrer Suche nach Perfektion, nach Freiheit sich ähnliche Familien stehen.
Roger Lindahls Ehefrau Virginia bringt zu Beginn des Romans ihren gemeinsamen Sohn Gregg in eine Art Privatschule weit außerhalb Los Angeles in die Berge. Gregg leidet unter Asthma und den stetig steigenden Spannungen zwischen Roger und Virginia. Roger ist nicht nur aus finanziellen Gründen gegen diese Internatsschule. Kaum hat Virginia ihren Sohn hingebracht, meldet Roger ihn am nächsten Tag wieder ab. Philip K. Dick charakterisiert die Lindahls auf ausgesprochen originelle wie auch extreme Art und Weise. Virginia wird als ängstliche Autofahrerin beschrieben, die jeden Spurwechsel und jedes Überholmanöver mit Schaudern erwartet. Roger ist kein rasanter, aber ein zügiger Autofahrer, der wert darauf legt, dass der Wagen werkstatttechnisch in Schuss ist. Ein wenig arrogant ist er der Meinung, dass Männer die besseren Autofahrer sind. Kaum hat der Leser diese beiden sehr unterschiedlichen Menschen kennen gelernt, schlägt Dick eher überraschend einen Bogen in ihre Vergangenheit. Roger Lindahl ist schon einmal verheiratet gewesen. Aus dieser Ehe stammt eine Tochter. Geschieden beschließt Lindahl, mit einem geliehenen Wagen und seinen Sachen nach Kalifornien von der Ostküste auszuwandern. Kurz bevor er diese Kontinalüberquerrung unternimmt, lernt er Virginia kennen. Sie ist deutlich jünger, stammt aus einem reicheren Elternhaus. Sie wird ihrem zukünftigen Mann nach Kalifornien folgen.
Im Grunde hat Dick bevor er noch den emotionalen Konflikt gänzlich ausbreitet, das Land - ohne sich reisetechnisch zu bewegen – durchquert und damit die Prämisse des suggestiven Titels erfüllt. Während ihrer Zeit an der Ostküste hat Virginia freiwillig als Krankenschwester in einem Soldatenlazarett gearbeitet, Lindahl sich eher originell und dank der Abfindung aufgrund eines Arbeitsunfalls mit finanzieller Bodenhaftung vor der Militärzeit gedrückt. Im Westen lockt nicht Hollywood, sondern die Rüstungsindustrie. Kaum ist der Krieg vorbei, sitzen Virginia und Lindahl auf der Straße. Der folgende existentielle Kampf wird von Dick ein wenig zu kompakt, zu wenig impulsiv beschrieben. Seiner Idee beraubt, in einem Haushaltswarenladen auf selbstständiger Basis einen Radiokundenservice einzurichten und quasi als Vorläufer zu den intensiveren Fernseher Wartungen zu agieren, droht Lindahl zu verzweifeln. Jahrelang jobbt er, bis er sich schließlich mit seinem kleinen Fernseh- und Radioladen selbstständig macht. Der Laden kostet ihn sehr viel Zeit, so dass sich Virginia und Gregg bald vernachlässigt fühlen. Er verdient zumindest Geld Trotzdem spürt Roger jeden Augenblick eine gewisse Existenzangst. Obwohl Roger Lindahl im Kleinen den amerikanischen Traum lebt, steht ihm Dick keinen Augenblick der Ruhe zu.
Im Internat lernen die Lindahls die Bonners kennen. Ihre zwei Söhne gehen ebenfalls auf die Schule, die Bonners selbst leben in einem etwas besseren Viertel der Stadt. Liz Bonner bietet so gleich eine Fahrgemeinschaft an. Charles Bonner hat sein Geld in eine Bäckerei investiert und sieht sich als passiver Unternehmer, der gerne in Lindahls Laden investieren möchte. Virginia hält die etwas zügellose Liz für dumm und frivol. Wie zwei Züge auf Kollisionskurs eilen die brüchigen Geflechte der beiden Familien aufeinander zu. Die Auflösung des Buches ist auf der ersten Blick überraschend, hinsichtlich des Epilogs konsequent wie auch nihilistisch sich aus der Verantwortung stehlend trotz des Versuches, dem Geschehen einen positiven Ausdruck zu geben.
Wie in seinen Science Fiction Romanen greift Philip K. Dick liebend gerne auf Charaktere des amerikanischen Mittelstandes zurück. Eine soziale Schicht, die sich in den fünfziger Jahren erst zu bilden begann. Sowohl die Lindahls als auch die Bonners suchen irgendwie in ihren Beziehungen zueinander und in Bezug auf ihre Umwelt eine Bodenhaftung. Es sind die Kinder, die unvoreingenommen Comic lesend das Geschehen fast stellvertretend für den Leser verfolgen, aber nicht einordnen können. Dicks Figuren sind eher spärlich charakterisiert, teilweise unterwickelt. Ob es sich dabei in Bezug auf die Mainstreamromane um Absicht handelt, sei dahin gestellt. Nicht selten hat Dick in seinen frühen Science Fiction Romanen auch liebend gerne auf menschliche Chiffren zurückgegriffen und eine ausführliche Charakterisierung seiner hilflosen bis unglücklichen, schließlich über sich hinauswachsenden Helden verzichtet. Viel mehr versucht Dick kritisch, aber nicht immer ganz gelungen aus den beiden Familien Eckpfeiler des kleinen Landes - die Weiten Amerikas stehen in einem starken Kontrast zu Kleingeistigkeit der Figuren - zu machen. Liz als sich verzweifelte nach Liebe sehnende Frau wird schließlich als Vorläufer der Hippie Bewegung und freien Liebe beschrieben; Virginia als unterkühlte Südstaatenschönheit, die weiterhin mit dem Geld ihrer Familie erstaunlich viel erreichen kann; der dumm dreiste bis arrogant selbstverliebte Charles Bonner ist sicherlich ein Mann mit monetären Visionen, die von den Händen der einfachen Arbeiter - in diesem Fall Roger Lindahl, der vom eigenen Chef zu einer Art Geschäftsführer zynisch gesprochen die Karrieretreppe „hinauf“ stolpert - errichtet werden müssen. Als Familien leben die Lindahls und die Bonners sowohl untereinander als auch im Kern ihrer Umwelt gegenüber aneinander vorbei. Die Wirkung dieses signifikanten Punktes negiert Dick teilweise, in dem er aufzeigt, dass Roger Lindahl schon einmal an den elterlichen wie ehelichen Pflichten gescheitert ist. Daher kommt sein innerer Aufbruch nicht sonderlich überraschend und nimmt die “Easy Rider” Bewegung wie allerdings auch die Flucht vor spießbürgerlicher Sesshaftigkeit sowie dem Übernehmen von Verantwortung in einem erträglichen Maße vorweg. Nicht selten beschränkt sich Dick aber auf Facetten und extrapoliert seine kritischen Beobachtungen viel zu wenig.
Im Vergleich zum im Grunde langen “Prolog” wirkt der mittlere Handlungsabschnitt zufrieden stellend ausformuliert, während der eigentliche Showdown knappe dreißig Seiten vor dem Ende des Romans nicht nur überraschend kommt, sondern wie ein Antihöhepunkt erscheint. Die Emotionen, welche Dicks Figuren positiv wie negativ anfänglich in sich tragen, scheinen wie verpufft. Trotz der Schwächen bei der Charakterisierung ist Dicks Roman auf der persönlichen, emotionalen Ebene ein erstaunlich souveränes und lebendiges Portrait der USA in den fünfziger Jahren, das quasi von einem Zeitzeugen geschrieben worden ist. Vielleicht ein wenig zu überambitioniert, zur sehr die Interpretation von “normalen” alltäglichen Vorgängen suchend zwischen Vergangenheit - den Auswirkungen der industriellen Aufrüstung im Zweiten Weltkrieg - und Zukunft - das Farbfernsehen wirft seine lange Schatten voraus.
Die Hintergrundbeschreibungen sind absichtlich spärlich gehalten, sie sollen mehr die dramatische Stimmung unterstützen. Aus dem Nichts heraus ohne die karge, aber stringente Handlung zu erdrücken zeichnet Dick ein Portrait des amerikanischen Mittelstandes, der sich erst finden muss; der erkennen wird, das Eigeninitiative und Unternehmer/Pioniergeist eingesetzt werden müssen, um den amerikanischen Kontinent zu erobern. Der trotzdem für die einzelnen Protagonisten eine Art emotionales Gefängnis, ein kleines Land bleiben wird, in dem sie sich so weit und so lange bewegen können, wie sie möchten. Sie werden immer an ihre geistigen Grenzen stoßen.

15. Sep. 2010 - Thomas Harbach

Der Rezensent

Thomas Harbach
Deutschland

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