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Deadline 24
| DEADLINE 24
Annette John Buch / Science Fiction
Beltz & Gelberg
375 Seiten, ISBN 9783407810816
Hardcover
2011 erschienen
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Mit “Deadline 24” erscheint nach “Das Geheimnis des Rosenhauses” ein zweiter Roman des 1951 geborenen Annette John im Beltz & Gelberg Verlag. Die Autorin mischt eine Reihe von Science Fiction Elementen mit klassischen, aber auch immer am Rand des Klischees befindlichen Ideen des Jugendbuchromans - das Entwurzeln der Protagonisten, das Überwinden der eigenen Ängste und im Grunde eine Abkürzung des “Erwachsenwerden” Prozesses durch eine kaum zu überwindende Aufgabe - , um in “Deadline 24” eine insbesondere in der ersten Hälfte sehr lesenswerte Geschichte zu erzählen, die allerdings mit jeder Erklärung insbesondere im letzten Drittel etwas an Reiz verliert.
Die junge Sally wächst mit ihrer Mutter, ihrem Großvater, einem Bruder und einem Jungen, den sie unter einem Autowrack herausgezogen haben, in einer dunklen Zukunft auf. Die Menschen leben unter Kuppeln, abgeschieden und nur durch ein Funkgerät mit den Nachbarn verbunden. Sallys Familie betreibt unter der Kuppel eine Farm. Die Kuppel schützt die Menschen vor den Hybriden, Kunstwesen mit Flügeln, die ansonsten jedes Leben außerhalb der Siedlungen angreifen und insbesondere tagsüber vernichten. Als zu Beginn des Romans die Inspektion der Kuppel nicht sorgfältig durchgeführt worden und ein stetig wachsendes Loch übersehen worden ist, kommt es zum ersten existentiellen Kampf der Familie gegen die stetig unwirtlicher werdende Umfeld. Annette John gelingt es zu Beginn des Romans ausgezeichnet, eine nur noch rudimentär vertraute Zukunft - Familienverbünde und Farmen unter Kuppeln - zu zeichnen, in der insbesondere die Identifikationsfigur des Lesers Sally kurz, prägnant, aber trotzdem dreidimensional gezeichnet worden ist. Diese erste Konfrontation dient dazu, den Überlebenskampf in der dunklen Zukunft zu beschreiben, wobei der Einsatz zum Beispiel von Schwebern um die Arbeiten leichter zu erledigen angesichts der kargen Gesamtsituation fast ein wenig zu konstruiert erscheint.
Erweitert wird diese Auswahl der Stärksten durch zwei neue Komponenten. Zum einen landet in der Kuppel ein alter Hubschrauber, aus dem eine Handvoll junger Menschen steigen. Sie reisen von Kuppel zu Kuppel und helfen Sallys Verwandten in der letzter Sekunde. Ihre Freiheit, ihr ausschließliches Verantwortungsgefühl gegenüber den eigenen Handlungen beeinflusst insbesondere Sallys Bruder, für den die drangvolle Enge unter den Kuppeln unerträglich geworden ist. Er flieht zusammen mit der Hubschrauberbesatzung zur nächsten Siedlung, wo seine Verlobte in spe lebt. Das Eindringen der jungen Leute ist der zweite Baustein nach dem Hybridenüberfall, der Sallys bisherige Welt ins Wanken bringt, aber trotzdem noch nachvollziehbar erscheint.
Kaum ist die Maschine weg, wird die Siedlung von so genannten Lords überfallen. Die Lords ernähern sich als Wegelagerer von der ehrlichen Bevölkerung, plündern deren Vorräte und suchen gleichzeitig nach dem flugfähigen Hubschrauber, der ihre Macht expotentiell vermehren könnte. Leider sind die Antagonisten derartig klischeehaft eindimensional bis arrogant dumm beschrieben, das sie aus dem bisher relativen homogenen Romankomplex herausragen. Der Leser hat das unbestimmte Gefühl, als vertraute die Autorin ihrer bisherigen “Schöpfung” stimmungstechnisch nicht. Mit dem Auftauchen der Schurken - Sally wird ihnen natürlich nicht das letzte Mal begegnet sein - wird die Stimmung des Buches zwar dunkler, aber nicht unbedingt bedrohlicher. Sehr viel interessanter als dieser menschliche Abschaum sind weiterhin die offensichtlich künstlich erschaffenen Kreaturen wie die Hybriden. Sally macht sich zusammen mit einer Handvoll Jugendlicher auf, die Besatzung des Hubschraubers zu befreien - sie ist inzwischen von den Bewohnern einer anderen Kuppel gefangen genommen worden -, ihren Bruder zu suchen und das Geheimnis des Schlagwortes “Deadline 24” aufzudecken, das man zusammen mit anderen Utensilien in den Sachen ihres offensichtlich ermordeten Vaters gefunden hat. Natürlich wird diese Reise durch eine extrem gefährliche Welt auch zu einer inneren Reifeprüfung.
Mit Sallys Aufbruch erweitert die Autorin nicht ungeschickt das Panorama ihrer Welt. Bis weit in die zweite Hälfte geht der Leser von einem klassischen Post Doomsday Szenario aus, dessen Katalysator die technisch überbordende Menschheit in den Abgrund und zivilisatorisch im Grunde in eine Art vorindustrielle Zeit mit wenigen Hilfsmitteln zurückgeworfen hat. Diese grundsätzlich nicht neue Idee wird solide extrapoliert und die Reise zu den einzelnen Kuppelstädten lesenswert, dynamisch und atmosphärisch stimmig beschrieben. Das Sally teilweise angesichts ihrer mangelnden Erfahrung zu sehr im Mittelpunkt steht und ihre Entscheidungen die Handlungen der kleinen Gruppe fast immer erfolgreich beeinflussen, steht auf einem anderen Blatt. Ab der Mitte des Romans ist die Autorin allerdings gezwungen, ihre Welt nicht mehr nur zu beschreiben, sondern vor allem die Hintergründe zu erläutern. Dabei greift sie sehr stark auf markante Ideen wie ein sich selbst regenerierendes Computervirus oder eine sich in einer Art Stasisfeld befindliche Menschheit zurück. Keiner der Aspekte ist genretechnisch wirklich originell. Vor allem beginnt sich der Leser zu fragen, warum Sally diese relevanten Informationen mit einer plötzlich fast atemberaubend erscheinenden Geschwindigkeit in die Hände fallen. Dabei begegnet manch bizarrer Kreatur wie dem Windmann, der solange geheimnisvoll ist, wie er nicht in den Erklärungsprozess eingreift. Dabei soll nicht ausgedrückt werden, das die Hintergründe alle genretechnisch bekannt sind, aber nach der vorangestellten Prämisse hätte der Leser vielleicht etwas Anderes, etwas Sperrigeres, komplexer Entwickeltes erwartet. Das Auftauchen der Lords - wie ihre erste Begegnung leidet die zweite auch unter dem Hang zu karikierenden Übertreibung im Vergleich zum ansonsten ernsten Tonfall des Romans - lenkt die Leser zum zweiten Mal im Grunde vergeblich von einer interessanteren Handlungskonstellation ab, zumal die Autorin auf den letzten im Grunde zu hektischen “Metern” zu viele Punkte auf einmal abhandelt und eher bemüht versucht, den Roman mit einer Art Happy End zu beenden. Sallys Rückkehr als natürlich reiferes Mädchen, das die Zukunft jetzt gestalten kann, ist logisch und schließt den Roman auf einer harmonischen, mit dem interessanten Auftakt gut ausbalancierten Note ab, aber der Weg dahin wirkt auf den letzten Seiten zu unentschlossen hektisch. Annette John hinterlässt den Eindruck, als sei sie sich hinsichtlich der abschließenden Erklärungen selbst ein wenig technisch unsicher.
Im Gegensatz zum überzeugenden Handlungshintergrund und dem über weite Strecken zufrieden stellenden, wenn auch stellenweise ein wenig zu stark konstruierten Plots überzeugen die von der Autorin entwickelten Protagonisten - die Antagonisten stehen leider auf einem gänzlich anderen Blatt. Insbesondere die intellektuelle Entwicklung Sallys wird nicht mit der Holzhammermethode beschrieben, sondern lässt sich jederzeit vom Leser nachvollziehen. Die unterschiedlichen Charaktere, denen sie begegnet, fordern sie auf verschiedene Weisen heraus. So verrät sie den attackierenden Lords im Grunde alle Geheimnisse der Kuppelsiedlung, um die eigene Familie vor Repressalien zu schützen. Sie muss gleichzeitig mit ihrer Entscheidung leben und ihr schlechtes Gewissen beruhigen. Dieser innere Zwiespalt ist eine der vielschichtigsten Komponenten des Romans und bildet eine gut genutzte Basis für Sallys späteres Vorgehen. Aber auch die verwandtschaftliche Wärme in einer im Grunde nicht mehr (über-) lebenswerten Welt wird ohne Pathos oder Kitsch beschrieben. Mit der Einführung der “Maschinenwelt” - wobei die Überreste der alten Städte noch nachvollziehbar beschrieben worden sind - geht die Autorin vielleicht einen Schritt zu weit und agiert teilweise unter im Kern unnötigem Erklärungsdruck zu überambitioniert.
Zusammengefasst ist “Deadline 24” ein trotz der kleineren angesprochen Schwächen lesenswertes Jugend Science Fiction Buch, das auf den eingelaufenen Pfaden nach neuen Ideen sucht und sein Publikum insbesondere in der ausgesprochen interessanten ersten Hälfte ohne belehrend zu wirken in eine fremdartig vertraute Welt zieht, die als Mischung aus den Familienstrukturen der Vergangenheit und den Herausforderungen der Zukunft das überwiegend jugendliche Publikum zum Nachdenken über die eigene Position in der brüchigen Institution Familie anregt.
07. Jul. 2011 - Thomas Harbach
Der Rezensent
Thomas Harbach

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