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Töchter des Schweigens

TÖCHTER DES SCHWEIGENS

Eli Barcelo
Buch / Romantic-Mystery

Piper Verlag
Hardcover, 422 Seiten
Erschienen April 2011
ISBN 9783866122666

Schon in ihren bisherigen noch stärker phantastisch angehauchten Arbeiten „Das Geheimnis des Goldschmiedes“ und „Das Rätsel des Masken“ hat sich die in Spanien geborene und in Österreich lebende Autorin Elia Barcelo mit der Verbindung Vergangenheit/ Gegenwart auseinandergesetzt. Während der Protagonist in der romantisch melancholischen Novelle „Das Geheimnis des Goldschmiedes“ die Möglichkeit hat, seine Vergangenheit zu formen statt zu beeinflussen, beschreibt „Das Rätsel der Masken“ vor einem eher aufgesetzten Krimiplot den nachhaltigen Einfluss der nicht unbedingt eigenen Vergangenheit auf die Gegenwart und die Menschen. Im vorliegenden neuen Roman „Töchter des Schweigens“ geht die Autorin nicht unbedingt einen Schritt weiter, verbindet aber autobiographisch beeinflusst die eigene späte Schulzeit mit einer lange Zeit eher geheimnisvollen Klassenfahrt. Der Klappentext und die ersten Seiten weisen auf die tragischen Ereignisse – eine der Frauen bezeichnete sie als „Geheimnis“ – des Sommers 1974 und der Klassenfahrt nach Mallorca hin. Positiv macht die Autorin aber nicht den Fehler, den Plot auf diese Ereignisse hin zu zentrieren und das Wohl oder Wehe des Buches von einer überzeugenden Idee abhängig zu machen. Zu viele Romane haben sich an dieser Vorgehensweise versucht und sind letzt endlich an der Aufdeckung der Ereignisse und ihren potentielle Einfluss – dabei reicht das Spektrum vom Rächer von vorgeblich jenseits des Grabes über wahnsinnig gewordene Verwandte bis zu einer Art Katharsis einer der Beteiligten – gescheitert.
In erster Linie funktioniert Elia Barcelos Roman – wie auch ihre bisherigen Arbeiten – über die persönlich emotionale Ebene, die Rückkehr an den Ort der Jugend und damit verbunden die selbstkritische Betrachtung eines Großteils des eigenen Lebens seither.
Rita lebt seit vielen Jahren in London. Sie ist eine erfolgreiche Regisseurin überwiegend dunkler Krimis und hat für ihre Arbeiten – das wirkt ein wenig übertrieben – sogar einen Oscar erhalten. Trotzdem ist sie eine bodenständige Frau geblieben, die – wie sie selbst sagt – eher an Freundschaft als Sex/ Ehe interessiert ist. Sie liebt mit einer Freundin scheinbar platonisch zusammen. Gemeinsam kümmern sie sich um die beiden Kinder der Freundin. Jetzt erhält sie eine Einladung in ihre spanische Heimat und trifft auf einer kleinen Feier einige ihrer alten Freundinnen wieder. Als sie auf deren Initiative Lena in ihrer Wohnung besucht, findet sie die Freundin tot in der Badewanne. Auf den ersten Blick scheint es sich um einen Selbstmord zu handeln, die Polizei geht aber eher von einem Mord aus, der in einem engen Zusammenhang mit einem bisher unbekannten Geheimnis steht. Im Gegensatz zum Leser und der Polizei scheint Rita zu ahnen, um was es geht. Von dieser bekannten und nicht unbedingt originellen Prämisse ausgehend entwickelt die Autorin vorhersehbar und wenig überraschend strukturiert den Plot auf zwei Zeitebenen weiter. Einmal die eher zugängliche Gegenwartsebene, in der Rita kontinuierlich mit der eigenen Vergangenheit konfrontiert wird und natürlich eine Zusammenfassung der Ereignisse des Sommers 1974. Beide Spannungsbögen laufen in der finalen Konfrontation zusammen, wobei die elementare und wegweisende 1974er Handlungsebene distanzierter, weniger emotional wie durch einen Filter erzählt wird. Angesichts des ganzen Plots ist diese Entwicklung nicht unbedingt negativ zu sehen.
Insbesondere im ersten Drittel kristallisiert sich schon positiv und ausgesprochen lesenswert heraus, das Elio Barcelo – die Autorin ist ebenfalls eine Frau in den Fünfzigern wie die meisten Protagonistinnen und blickt also über deren Schulter auf das eigene Leben zurück – eher an der Gegenwart interessiert ist und die Ereignisse des Jahres 1974 fast auf einen MacGuffin – Rita wird als moderner Hitchcock von Kritikern tituliert – reduziert werden. Im Verlaufe der Gegenwartshandlung lernt der Leser nicht zuletzt dank einer wirklich ergreifenden Lesung auf der Beerdigung der Freundin die Mitglieder der 28er Gruppe – sie wollten sich einmal im Jahr am 28. in ihrer Stammkneipe treffen, zum ersten Treffen ein Jahr später kam nur eine inzwischen Mutter gewordene Frau und weinte bitterlich – aus einer dritten, sehr intimen Perspektive kennen. Als Protagonistinnen haben sie bis zu diesem ersten echten Höhepunkt des Buches schon agiert, als Menschen aus Fleisch und Blut lernt der Leser sie erst jetzt kennen. Als Brückenschlag zur Kriminalhandlung setzt ein ermittelnder Polizist und gleichzeitig Ehemann einer der Freundinnen im Publikum und versucht aus dem vorgelesenen Brief Erkenntnisse für seine Arbeit zu gewinnen. Neben der erfolgreichen, aber immer Mensch gebliebenen Regisseurin wird die Frau eines auf Kuba stationierten Botschafters vorgestellt, die in ihrer Kindheit vom Onkel – einem Priester – genauso sexuell missbraucht worden ist, wie ihre Mutter eine Generation früher vom gleichen Verwandten. Für sie ist der Flug zur Beerdigung der Freundin nicht nur eine Reise in die eigene Vergangenheit, die eigene Kindheit, sondern ein sich den Ängsten stellen. Die erfolgreiche Rechtsanwältin, welche mit Rita auf der Klassenfahrt eine lesbische Liebelei angefangen hat, leidet an unheilbaren Krebs. Sie hat nur noch wenige Monate zu leben. Schon während ihrer Berufszeit hat sie sich emotional von ihren Mitmenschen isoliert, jetzt muss sie mit der Tatsache fertig werden, da ihr Leben mit knapp fünfzig Jahren seinem Ende entgegengeht und die Freundinnen bald an ihrer Beerdigung teilnehmen werden. Natürlich gibt es auch die Quotenehefrau, die sich früh von ihrem Mann hat scheiden lassen. Schon am Ende der Schulzeit schwanger geworden hat sie immer ein langweiliges Leben in ihrer dörflichen Heimatstadt geführt und im Gegensatz zu den Freundinnen nur einmal das spanische Mutterland in Richtung Mallorca verlassen. Sie ist auf den ersten Blick die vom Leben am meisten enttäuschte Frau der Gruppe, die auf der anderen Seite allerdings auch sehr viel Kraft aus dem Zusammenhalt mit den eigenen Kindern gezogen hat. Eine der Frauen ist inzwischen Hebamme geworden. Sie führt wahrscheinlich die bürgerlichste Existenz mit einem Mann, der sie liebt und einer intakten Familie. Sie ist allerdings auch im Umkehrschluss der unscheinbarste Charakter, wobei Elia Barcelo nicht den Fehler macht, die aufgeregten Mädchen der Klassenfahrt 1974 charakterlich für die Gegenwartshandlung komplett umzukrempeln. Es reichen der direkte in den Vergangenheitssequenzen spielende Vergleich mit der im Jahre 2007 einsetzenden Handlung sowie der oben erwähnte Brief. Mit der Beerdigung der Freundin und der Tatsache, dass entweder ein Selbstmord raffiniert mit fingierten Beweisen zu einem Mord umgestaltet worden ist, der insbesondere die motivlose Rita belasten soll oder einem Mord, der mit dem Geheimnis dieser Klassenfahrt – der Leser kennt nach einem guten Drittel des Buches zumindest die Fakten, auch wenn diese nur eine Art Gerippe bilden, dem erst am Ende der Geschichte das Fleisch und die Haut übergezogen werden – in einem engen Zusammenhang steht. Während sich die Freundinnen noch expliziert weigern, sich an die Fahrt über die positiven Aspekte – erste Liebe, wilde Disconächte, ein emotionales Erwachen und eine Art Coming Out – hinaus zu erinnern, ermittelt der Kriminalkommissar weiter. Aus seiner Perspektive, auf Augenhöhe mit seinen Ermittlungen erschließt sich schließlich dem Leser das ganze Drama, das positiv trotz der bekannten Prämisse zufriedenstellend ist und von der Autorin gut durchdacht ohne die Struktur der intimen Freundschaftsebene zu verletzen abgeschlossen worden ist. Im Gegensatz allerdings zum Kriminalplot in „Das Rätsel des Masken“ ist die Aufklärung des Selbstmordes/ Mordes ein integraler Bestandteil der Geschichte, welcher Erinnerungen bei den Frauen aufwühlt und die Geschehnisse auf der Überfahrt nach Mallorca nicht zuletzt dank des aufgefundenen Heftes mit angeblich sensationellen Aufzeichnungen über die Frauen in einem noch von Diktator Franco dominierten, erzkonservativen und doch innerlich verfaulten Spanien – ein Aspekt, der im Verlaufe der Geschichte immer besser und deutlicher von Elia Barcelo herausgearbeitet worden ist – plötzlich allgegenwärtig erscheinen lässt.

Obwohl die Geschichte mit knapp über 400 Seiten auch eine Reihe von Längen und leider auch Wiederholungen – der Leser kann die Figuren nach den ersten Seiten schon sehr gut unterscheiden und braucht die kleinen Macken/ Lebensgewohnheiten reiferer, aber nicht alter Frauen nicht mehrmals aus unterschiedlichen Perspektiven vor Augen gehalten zu bekommen. Insbesondere im Mittelteil wirkt der Plot etwas phlegmatisch, zu sehr gestreckt und vor allem sich streckenweise zu sehr am Rande des Klischees bewegend. Diverse Nebenfiguren dienen manchmal mehr als Chiffren denn ausgereifte Charaktere. Beispielhaft sei Ritas unangenehm bis penetrant beschriebener Schulfreund genannt, der nicht nur ihre Klassenkameradin geheiratet und später eine andere Frau dieser kleinen Gruppe zur Geliebten gemacht hat, sondern auch endlich mit Rita selbst die eine Generation zurückliegende Beziehung dank Sex abrunden möchte. Viel interessanter ist der Kontrast der überwiegend modernen spanischen Frauen zu ihren Wurzeln, die sich extrem von der auch geistig klein gehaltenen Elterngeneration des Franco- Spaniens entfernt hat. Hier agiert die Autorin ausschließend beschreibend und positiv für den Gesamtroman nicht bewertend. Sie gibt einen kleinen Einblick in die Francodiktatur und ihr nationaldominiertes Schulsystem, das vergleichbar mit der DDR ist. Hinzu kommt der äußerst farbenprächtige Hintergrund des Alltagslebens in der Vergangenheit wie Gegenwart. Mit liebevollen kleinen Details – sicherlich viele aus den persönlichen Erfahrungen der Autorin herüber gerettet – rundet sie die stringente, über weite Strecken interessante, wenn auch nicht gänzlich befriedigende – dazu wirkt die Kriminalgeschichte anfänglich zu grob gezeichnet – Geschichte mit überdurchschnittlich lebensecht gezeichneten Protagonistinnen ab. Ohne Kitsch oder Pathos gelingt es der Autorin, Frauen zu zeichnen, die sich plötzlich ihrem bisherigen Leben stellen müssen. Für einige ist es die Zusammenfassung ihrer Schulmädchenträume, für andere eine Aneinanderreihung herber Enttäuschungen. Aber nach Abschluss des Buches glaubt man ihnen, das sie ihre Leben gelebt haben und das ist die nachdenklich stimmende Essenz der „Töchter des Schweigens“.

21. Jul. 2011 - Thomas Harbach

Der Rezensent

Thomas Harbach
Deutschland

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