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Mein kleiner Horrortrip
| MEIN KLEINER HORRORTRIP
Susan Rich Buch / Horror
Beltz & Gelberg
Übersetzt aus dem Amerikanischen von Karsten Singelmann
ISBN 978-3-407-81091-5
1. Auflage 2011. 160 Seiten.
Gebunden.
Ab 12 Jahre
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Rechtzeitig zu Halloween präsentiert der Beltz- Verlag mit der Anthologie „Mein kleiner Horrortrip“ eine Sammlung von einundsiebzig Ultrakurzgeschichten, die im Grunde alle Grundsujets des Horrorgenres abdecken sollen. In der amerikanischen Originalausgabe hat die Herausgeberin Susan Rich ihrer Sammlung einen Index beigefügt, der den Leser – vielleicht ein wenig übertrieben – durch die einzelnen Sujets führt. Gruselgeschichten, die im/um/unter und ganz selten über dem eigenen Bett spielen. Verfluchte Häuser, unheimliche Babysitter, Geister in jeglicher Variation, aber auch moderner Schrecken wie körperliche Verunstaltungen und schließlich einfach nur übernatürliche wie unerklärliche Phänomene. Mit dem Titel der Originalausgabe „Half- Minute Horror“ hat Susan Rich ihren Autoren eine Prämisse mit auf den Weg gegeben, die selbst routinierte Profis vor ungewöhnliche Herausforderungen gestellt hat. Der Text sollte in knapp einer halben Minute gelesen oder deutlich effektiver einem staunend erschrockenen Publikum vorgelesen werden. Zusätzlich gingen einige der Erlöse der amerikanischen Originalausgabe an die soziale „First Book“ Organisation, die armen Kindern Bücher zur Verfügung stellt.
Bei der Konzeption ihrer Texte haben die Autoren auf die unterschiedlichsten Ideen und Erzählformen zurückgegriffen: von der klassischen Pointegeschichte – hier präsentiert Kenneth Oppel in elf Sätzen eine Geschichte, deren böses Ende nicht vorhersehbar ist – über kurze Gedichte bis zu Bildergeschichten bzw. Zeichnungen. Dem Zielpublikation zehn Jahre und älter werden insgesamt fünfundsiebzig Geschichten von weltbekannten Autoren wie James Patterson, Erin Hunter, Neil Gaiman, Joye Carol Oatesm Faye Kellermann, Michael Connely, Jonatham Lethem oder Magaret Atwood präsentiert. Obwohl die Qualität der namhaften Texte namhafter überdurchschnittlich ist und ihre Texte teilweise exklusiv für diese Sammlung geschrieben worden sind, kommen die größten Überraschungen und damit verbunden subversiven Schocks aus der Feder bislang bislang eher unbekannter Autoren.
Ob es sich – wie der Untertitel ein wenig zu einfach suggeriert – um die kürzesten Schockgeschichten aller Zeiten handelt, kann der Leser nach der Lektüre beurteilen, da nicht jede Geschichte auf einen Schock, eine bösartige Überraschung hin geschrieben worden ist. Johannes Wiebel und Max Meinzold gestalteten für die Sammlung ein schönes Innencover. Das Titelbild der amerikanischen Originalausgabe ist allerdings noch eindrucksvoller.
Jerry Spinelli beendet den Generationen übergreifenden Streit, ob das Huhn oder das Ei zuerst da gewesen ist. Seine ironisch dunkle Lösung provoziert eher als das sie überrascht. „Die Legende von Alexandra & Rose“ besteht aus einer einzigen Illustration, deren Text den Leser/ Betrachter in einen Abgrund aus Eifersucht und Mord zieht. Ayelet Waldmans „Am Ufer“ verfügt über die richtige Balance zwischen Informationen und „Lücken“, welche die morbide Phantasie der Leser perfekt füllen kann. R.L. Stine kombiniert in „Mein schlimmster Alptraum“ die klassisch-klischeehafte Idee des Monsters im Kleiderschrank mit einem Ende, das O. Henry würdig ist und den Leser ein zweites Mal in den Abgrund seiner dunklen Phantasien zieht. „Die kriechende Hand“ von Margaret Atwood beeindruckt nicht nur durch ihre ungewöhnliche, subjektive Perspektive, sondern schlägt den Bogen zu den Begründern der Kurzgeschichte wie Edgar Allen Poe, aber auch den frühen Romanen eines Stephen Kings, in denen nicht selten die Kinder mit ihren Urängsten konfrontiert worden sind.
Jenny Nimmos „Suppe“ besteht nur aus zwei sehr gut gewählten Sätzen. Natürlich kann man bei diesen sehr kurzen Texten keine ausgefeilten Charaktere oder komplett entwickelten Hintergründe erwarten. Es sind in erster Linie die subtilen bzw. subversiven Pointen, welche dem Leser sehr viel länger als er es sich wünscht, im Gedächtnis bleiben. Wenn Lisa Brown in „Das Durchdrehen der Schraube“ Henry James berühmte Gruselgeschichte „The Turning of a Screw“ zusammenfasst, lädt dieser kurze Text ein, das Original noch einmal zu goutieren. Es ist eine der wenigen Geschichten, welche Schrecken mit Humor kombinieren. Viele der Texte sind vielleicht ein wenig überambitioniert ausschließlich humorlos geschrieben, die wohlwollende Gruselparodie fehlt angesichts der zahlreichen Themen gänzlich. Kenneth Oppels „Versteckt“ wird durch den Titel treffend zusammengefasst. Vater und Sohn verstecken sich in einer kleinen Kammer und warten wie der Leser auf etwas. Die Auflösungen der Texte fordern die Phantasie der Leser. Nicht immer ganz schlüssig, nicht selten bei der ersten Lektüre eher zu erahnen als zu eruieren. Aber bei einer durchschnittlichen Lektüredauer von den angesprochenen dreißig Sekunden – die längste Story über sechs Seiten benötigt zwei Minuten, um sich in das Gehirn zu bohren – laden viele Texte zu einer zweiten oder gar dritten Lektüre ein.
Nicht alle Texte funktionieren. Insbesondere Neil Gaimans „Der Schatten“ – ursprünglich im Radio vorgelesen – leidet unter dem mangelnden Abschluss einer interessanten wie Furcht erregenden Prämisse. Die Phantasie der Leser wird zu wenig manipuliert, in diesem vom Autoren beabsichtigte Richtung gestoßen, so dass er schnell das Interesse an diesem kurzen Text verliert. Von einem Profi vorgelesen mag die Anekdote überzeugender erscheinen, auf gedruckten Papier leider nicht. Andere Autoren wie Francine Prose in „Schokoladenkuchen“ sind unschlüssig, welche Art von Szenario sie selbst in einem derartig kurzen Text präsentieren wollen.
Trotz mancher Schwäche sind alle der hier präsentierten Geschichten nicht nur liebevoll geschrieben, sondern alle Autoren haben sich Mühe gegeben, die üblichen ausgetretenen Pfade zu verlassen und ein jugendliches Publikum zu erschrecken. Ältere Leser fühlen sich in ihre Kindheit und vielleicht Jugend zurückversetzt, in der etablierte Autoren wie Fredric Brown oder Isaac Asimov genretechnisch etwas Ähnliches versucht haben. Inzwischen ist die Bandbreite des Schreckens deutlich erweitert worden. Aber es geht den Autoren um das Erschrecken; den angenehm unangenehmen Schauer, welcher dem Leser und wahrscheinlich noch effektiver dem Zuhörer über den Rücken läuft. Es sind kleine bösartige Texte, die nichts verniedlichen wollen. Insbesondere die Geschichten, die von Verstümmelung – immerhin zwölf Texte – handeln, sind auch für Jugendlich über zehn Jahre grenzwertig. Nicht wegen der beschriebenen explizierten Details – hier ersetzt die blühende Phantasie manche Beschreibung -, sondern wegen der grundsätzlich dunklen leicht perversen Stimmung. Das bei vierzehn Geschichten, die direkt oder indirekt von Türen handeln, mache Idee doppelt vorhanden ist, lässt sich nicht verhindern. Betrachtet man „Mein kleiner Horrortrip“ sujettechnisch, wird der Leser auffallen, das selbst grundlegend ähnliche bis gleiche Ideen mannigfaltig und derartig unterschiedlich abgehandelt worden sind, das ein vergleichendes Lesen/ Vorlesen der Anthologie eine weitere, neue Perspektive abgewinnt. Das sich „nur“ sechs Geschichten mit dem klassischen Kinderschrecken – Monster agieren im Dunklen in/um/unter oder über dem eigenen Bett – ist wahrscheinlich der Zeit geschuldet, diese klassisch angelegten Texten gehören aber durch die Bank zu den qualitativ am nachhaltigsten überzeugenden Arbeiten dieser Sammlung.
Zusammengefasst lädt „Mein kleiner Horrortrip“ nicht nur zu einer Reise durch die Phantasie von mehr als siebzig Autoren ein. Es ist ein Buch, das an „Halloween“ am Lagerfeuer die Runde machen kann und vor allem auch wird. Jeder der reinen Erzähltexte lässt sich in der guten Übersetzung von Karsten Singelmann sehr gut laut vorlesen, wobei aber die gelungenen, vielleicht etwas zu klein für die Details abgedruckten Comics ihren Schrecken subtiler präsentieren. Horror als Begriff ist vielleicht ein wenig zu stark für die meisten der hier versammelten Texte. Es geht eher um die alte, aber niemals antiquierte „Gruselgefühl“; den wolligen Schauer, der einem über den Rücken läuft und die Gewissheit, die Sammlung dieser kurzen Texte jederzeit zuschlagen zu können. Wäre da nicht die Versuchung, gleich die nächste Geschichte zu lesen. Oder die übernächste. Sie kosten den Leser ja nur dreißig Sekunden seiner Zeit ... und vielleicht seinen Verstand.
09. Okt. 2011 - Thomas Harbach
Der Rezensent
Thomas Harbach

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