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Der Leichenkoenig
Mit Tim Currans “Der Leichenkönig“ legt der Atlantis- Verlag mit einem eindrucksvollen, die nihilistische Hintergrundstimmung der Geschichte treffenden Mark Freier eine Novelle vor, die auch ohne den phantastischen Hintergrund funktioniert. Tim Curran hat sich von der mehr oder minder wahren und mehrfach verfilmten Geschichte der Leichenräuber Burke und Hare inspirieren lassen, die im Verlaufe ihrer fragwürdigen Karriere begannen, Menschen umzubringen und so frische Körper den Universitäten zur Verfügung zu stellen anstatt die frisch verstorbenen Kadaver von den Friedhöfen zu stehlen. Eine entsprechende Anspielung ist in den Plot eingeflossen und an einer besonders makaberen Stelle der Geschichte töten Kierney und Clow auch eine Frau, die anscheinend lebendig begraben worden ist. Ihr Sargaufbrechen weckt sie aus dem Wachkoma, ihre erschreckte Reaktion ist ihr Todesurteil. Wie Tim Curran im Interview mit Christian Enders am Ende des vorliegenden Paperbacks erläutert, hat er sich intensiv mit den historisch verbürgten Vorgehen auseinandergesetzt. Recherche ist die halbe Geschichte, wie er zumindest impliziert sagt. Im Falle von „der Leichenkönig“ hat er recht. Seit den neunziger Jahren hat Curran neben diversen Kurzgeschichten – seine eigentliche Stärke – eine Reihe von düster makaberen Romanen veröffentlicht.
Wie schon angesprochen ist das phantastische Element nicht elementar für die Geschichte. Das dunkle Grauen der nördlichen Friedhofsfelder wird von Tim Curran eher ambivalent beschrieben. In der Tradition Lovecrafts ist es ein gigantischer „Wurm“, der in einem finsteren Tunnellabyrinth lebt und sich von den Körpern frisch Verstorbener ernährt. In der vorliegenden Darstellungsweise kann es sich bei dem „Leichenkönig“ auch um die Einbildung der immer mehr die Grenze zum Wahnsinn überschreitenden Kierney und Clow handeln. Sie sind die einzigen, die dieser Kreatur begegnen. Es gibt zwar sehr viele Gerüchte um ein Geistererscheinungen auf dem trotzdem streng bewachten Friedhof, aber Tim Curran liefert positiv keine Beweise für diese These. Zwar ist der Schicksal insbesondere Clows am Ende eng mit dem Einfluss des Leichenkönigs verbunden, aber der Text funktioniert ohne diese übernatürlichen Anspielungen fast noch besser.
Die Geschichte spielt zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In dieser historisch relevanten Phase der sich auf Kosten der Menschen entwickelnden industriellen Revolution mit einer hart arbeitenden und gleichzeitig verarmenden Arbeiterschicht, die eng gedrängt in den Ghettos der ausufernden Städte leben. Sieben Tag harte Arbeit, die ungebildeten Kinder werden früh heran gezogen; für die Männer stellten Alkohol und Huren die einzige Abwechselung vom kurzen und entbehrungsreichen Leben dar. Zusammengehörigkeit, Liebe gibt es in Currans Familien nicht. Was die zahlreichen Verfilmungen der Thematik nur andeuten könnten, beschreibt Curran expliziert mit auch in der gelungenen deutschen Übersetzung brutal offenen Dialogen. Im Gleichschritt mit der industriellen Entwicklung erwachte das medizinische Interesse am menschlichen Körper. Die Universitäten im Allgemeinen und eine Reihe von heimlich experimentierenden Ärzten – Curran baut einige Anspielungen auf den in dieser dunklen Epoche entstandenen Frankenstein Roman Mary Shelleys mit ein – hatten einen großen Bedarf an menschlichen Körpern. Neben hingerichteten kriminellen – sofern sie nicht nur Abschreckung tot oder lebendig in Käfigen an relevanten Punkten der Stadt zur Schau gestellt worden waren - Elementen mussten die Körper von mutigen Männern kurz nach der Beerdigung heimlich von den Friedhöfen gestohlen werden. Bei Entdeckung drohte die Todesstrafe, aber das Geschäft war trotz der Risiken so lukrativ, dass die Polizei den Heerscharen der Leichenräuber trotz teilweise freiwilliger Patrouillen nicht Herr werden konnte. Kierney und Clow bilden in dieser Hinsicht ein Burke und Hare vergleichbares Team. Sie sind erfolgreich, vertrinken ihr frisch verdientes Geld in den Kneipen und haben eine Reihe von perfiden Ideen, um die Polizisten zu täuschen. Curran beschreibt ihre erste Raubzüge, führt den Leser angesichts der Kürze der Geschichte sehr souverän in die aus heutiger Sicht ausgesprochen brutale bis dunkel düstere Welt ein. Kierney und Clow sind keine Identifikationsfiguren, keine Sympathieträger. Es sind brutale Kerle, die schließlich von Dieben zu Mördern werden. Für sie ist es der alltägliche kapitalistische Überlebenskampf, in dem sie sich eine kleine lukrative wie verbotene Nische aufgestemmt haben. In den Kneipen tauschen die Leichenräuber ihre makaberen Erlebnisse aus; machen sich angebend und übertreibende nicht nur zu Helden der Nacht, sondern zu den Eckpfeilern der medizinisch wissenschaftlichen Forschung.
Kierney und Clow sind Kinder ihrer Zeit. Sie verbindet ein unerklärliches Band einer Freundschaft, die aus heutiger Sicht eher wie eine Zweckgemeinschaft wirkt. Wenn der eine den in einem Käfig zur Schau gestellten Kadaver des Anderen besucht, um Abschied zu nehmen, gelingt es Curran, die makabere Begegnung irgendwie ansprechend, emotional überzeugend und doch irgendwie auch passend zu beschreiben. In durch Dialoge präsentierten Rückblenden, deren Wahrheitsgehalt der Leser nicht eruieren kann, zeigt Curran die beiden als Kinder ihrer Zeit, deren Kindheit von fehlender Liebe, fehlender Familie und schließlich auch der harten Hand der Eltern geprägt worden ist, die selbst alltäglich ums Überleben in dem Moloch Großstadt gekämpft haben. Auch hier keine Verurteilung der Eltern, sondern das neutrale Aufzeigen einer sozialen Verrohung, die im langen Schatten der aufkommenden Industrialisierung aufgezogen ist. Trotzdem bleiben Currans Figuren auch unter ihren harten Schalen ein wenig menschlich. Es sind diese kleinen Begegnungen, welche den ansonsten dunklen und nihilistischen Text überhaupt erträglich machen. Die Nebenfiguren sind bis ins kleinste Detail bizarr, abstoßend und skurril beschrieben. Trotzdem fügen sie sich in das harsche wie dunkle Leben in Edinborough ein und beleben den Totentanz, der sich vor den Augen des Lesers abspielt. Grabräuberei ist kein Kavalierdelikt, aber das Geschäft mit den Toten ist erstaunlicherweise in diesem engen Fokus das einzige lohnenswerte Gewerbe neben klassischer Bandenkriminalität und Auftragsmord. Was in den zahllosen Burke und Hare Verfilmungen nur angedeutet worden ist, beschreibt Curran in perversen Details. Er verzichtet auf unnötige wie auch historisch verkehrte Sozialkritik und beschreibt den kapitalistischen Kreislauf zwischen Angebot und Nachfrage grundsätzlich vollkommen neutral. Er versucht auch nicht zu betonen, das die Leichen im Grunde dem medizinischen Fortschritt dienen, sondern „entmenschlicht“ die Toten, macht sie zu einer raren Ware wie es heute eine Reihe von Rohstoffen ist. Zarte Gemüter wird dieser schockierende pietätlose Umgang mit den Verblichenen schockieren, Curran geht aber positiv hinsichtlich der geschichtlichen Fakten keine Kompromisse ein. Das diese Art von Geschichte keinen klassischen Helden, kein Happy End und vor allem keinen Unterschied zwischen „gut“ und „Böse“ verdient, steht außer Frage.
Neben diesen beiden markanten, aber unsympathischen Protagonisten, deren Weg in die Verdammnis seit vielen Jahren vorgezeichnet worden ist, lebt die Geschichte von der erdrückenden Atmosphäre der Geschichte. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie auf den zahllosen Friedhöfen spielt oder in den Gossen der Armutsvierteln oder in den verräucherten wie verkommenden Kneipen. Alle diese Orte werden von Curran mit einer Art einzigartigem wie innerlich verdorbenen Leben erfüllt. Dabei unterscheidet er nicht zwischen den schmierigen Ärzten, die im Dienste der Wissenschaft ihre Wunschzettel bei den Leichenräubern abgeben oder den Huren, die sich seit dem sie zwölf Jahre alt geworden sind, verdingen. Der Leser wird an die faszinierend wie abstoßende Pest erinnert, die wenige Jahrhunderte vorher die Städte irgendwann von innen hat verfaulen lassen. Die Hintergründe werden kurz, knapp und ausgesprochen präzise beschrieben. Kein Wort zu wenig, kein Wort zu viel. In seinem Vorwort ist Curran schon auf die verschiedenen Leichenbergungstechniken eingegangen, der Leser ist mit diesem schrecklichen Handwerk vertraut gemacht worden. So fügen sich die wenigen technischen Erläuterungen nahtlos in den stringent erzählten Plot ein, der in erster Linie von seiner Atmosphäre, von der Liebe zu Detail, den zahllosen sprachlichen Bildern lebt, die der Autor neben der eher klassischen und zu sehr an Lovecrafts Erzählungen erinnernden Handlung präsentiert. Unbewusst hat der Betrachter des Geschehens das Gefühl, als diene der Plot eher als eine Art Kompromiss, um das Portrait einer extrem dunklen, längst in Vergessenheit geratenen Zeit in Schwarztönen zu malen. Notwendiges Übel, das die lange im Gedächtnis bleibenden Szenen zusammenhält. Was die Struktur angeht, so verzichtet Curran auf Kompromisse. Es gibt keine Identifikationsfigur. Kierny und Clow sind nur Opfer ihrer Zeit, die sie rücksichtslos zermalmt. Es gab vor ihnen Grabräuber, es wird nach ihnen Grabräuber geben. Was „Der Leichenkönig“ so lesenswert ist, ist der Versuch, eine wirklich grimmige Geschichte zu erzählen, die auf historischen Füßen zahlreiche Tabus bricht, bei der aber die schmale Balance zwischen Schockeffekten, historischer Recherche und intensiver Charakterisierung von unsympathischen Figuren derartig gut funktioniert, das man die manchmal ein wenig zu phlegmatische und zu Wiederholungen hinsichtlich der Leichendiebstähle neigende Handlung schnell zu akzeptieren beginnt.
12. Jan. 2012 - Thomas Harbach
Der Rezensent
Thomas Harbach

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