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Metropolis 2010

Fatale Botschaften zur Lösung der Arbeiterfrage

von Michael Brömse

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* diskussion

Abseits der populistischen Debatten über die Hartz-Reformen und die sich weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich erregte im Februar 2010 die öffentliche Wiederaufführung der restaurierten Fassung von Fritz Langs Filmklassiker Metropolis die Gemüter. Dabei lassen sich erstaunliche Parallelen ziehen zwischen der aufgeheizten sozialen Situation in der Weimarer Republik und der heutigen Zeit.

 

Ein ungewöhnliches Fernseh-Erlebnis: Von der Berlinale 2010 wird die Wiederaufführung von Fritz Langs Stummfilmklassiker Metropolis gesendet, erstmals seit 1927 wieder in voller Länge. Ich höre einleitende Festreden, sehe den Film -- und frage mich schließlich staunend: Welchen Grund hat es wohl, dass dieser Film als Botschaft ersten Ranges nicht nur im Friedrichstadtpalast, sondern zeitgleich in der Alten Oper in Frankfurt, als Public Viewing bei klirrender Kälte vor 2000 Zuschauern am Brandenburger Tor und über arte vor Millionen Zuschauerinnen und Zuschauern in bundesdeutschen Wohnstuben abgespielt wurde? Die originale Filmmusik von Gottfried Huppertz spielten live dazu in Berlin das Radiosinfonieorchester mit Frank Strobel und in Frankfurt das Staatsorchester Braunschweig mit Helmut Imig. Und auf die nationale Bedeutung des Events wies zu Anfang neben dem albernden Festspielleiter Dieter Kosslick ein leibhaftiger Kulturstaatsminister hin. -- Sollte mir entgangen sein, dass bei der letzten Regierungsbildung ein Bundespropagandaministerium neu eingerichtet wurde?

Und weiter: Was hat es zu bedeuten, dass zeitgleich mit dieser Inszenierung in der realen Politik eine Grundsatzdebatte über den Sozialstaat inszeniert wird, und zwar auch hier mit einem Griff in die Requisitenkammer der historisierenden Utopie? Freilich scheint der Vorsitzende der F.D.P., als er von "spätrömischer Dekadenz" sprach, eher an seine studentischen Erlebnisse in amerikanischen Spartacus-Filmen gedacht zu haben als an das, was man im historischen Seminar lernen sollte.

Und drittens: Der Film selbst, oder genauer: sein Schluss. Unglaubwürdiger kann ein Schluss kaum sein, und zwar gerade deshalb, weil er sich als glaubwürdige Lösung zu präsentieren sucht. So gerät die Versöhnungsszene zwischen dem Arbeiterführer Grot (Heinrich George) und dem Kapitalistenchef Fredersen (Alfred Abel), verknüpft mit dem Happy End zwischen der als rein erkannten Maria (Brigitte Helm) und dem Sohn Fredersens (Gustav Fröhlich) zum abgrundtiefen Kitsch. Genau darin aber wird der Film zum Vorbild späterer Propagandafilme aus der Werkstatt Joseph Goebbels': in die real katastrophale Lage des Kriegsendes hinein singt Zarah Leander: "Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n...", und Heinz Rühmann macht 1944 sein Publikum mit Feuerzangenbowle besoffen -- und das bis heute. Also: Was hat es zu bedeuten, wenn diese filmische 'Lösung' mitten in einer rabiat losgetretenen, auf die Erwerbslosen zielenden Sozialstaatsdebatte mit dem totalen Einsatz aller medialen Mittel in Deutschland propagiert wird?

Es ist an dreierlei zu erinnern:

1. Im Erscheinungsjahr des Films Metropolis, 1927, verabschiedete der Deutsche Reichstag mit überwältigender Mehrheit das Gesetz zur Einführung einer Staatlichen Arbeitslosenversicherung. Gegenüber der bisherigen Erwerbslosenfürsorge der Kommunen besaßen Arbeiter und Angestellte damit zum ersten Mal einen Rechtsanspruch auf Arbeitslosenunterstützung, der gebunden war an die Arbeitswilligkeit und die unfreiwillige Arbeitslosigkeit. Das Gesetz wurde in einer Phase der wirtschaftlichen Hochkonjunktur der Weimarer Republik beschlossen, die Eigenmittel der zuständigen Reichsanstalt waren auf (nur) 1,4 Millionen Arbeitslose ausgelegt. Drei Jahre später war aber infolge der Weltwirtschaftskrise die Arbeitslosigkeit auf über fünf Millionen angestiegen. In dieser Lage lehnte die mit der SPD in einer Großen Koalition verbundene Deutsche Volkspartei (DVP -- eine Vorgängerpartei übrigens der 1948 gegründeten F.D.P.) Beitragserhöhungen mit Hinweis auf die ohnehin hohen Belastungen der Unternehmer kategorisch ab. Dagegen verlangte die DVP ein Finanzierungsprogramm durch sozialen Leistungsabbau. Dies führte zum Scheitern der Großen Koalition mit der SPD unter Hermann Müller -- und in der weiteren Folge zum Aufstieg der NSDAP nach 1930. -- Ein Schelm, wer Böses dabei denkt -- und gar Analogien zum Jahr 2010 vermutet.

2. Der Film Metropolis ist eine Utopie, in der mit meisterlichen filmisch-technischen Mitteln und noch immer ungebrochen wirksamer darstellerischer und dramaturgischer Kunst der Stummfilmzeit eine fiktive Stadt geschildert wird. Aber der Bezugspunkt der Utopie sind die sozialen Verhältnisse der Weimarer Republik: In den Oberen Etagen der Stadt spielen sich die Vergnügungen der Wohlhabenden ab, jede Art von Glamour ist möglich, jedes Laster, Sport als Form des Müßiggangs, Tanz und Flirt -- also im Grunde das Berlin der 'Goldenen Zwanziger', wobei allerdings die wirkliche Kultur dieser Epoche ausgeblendet bleibt. -- Tief unten schuften dagegen Heere von Arbeitern bis zur Erschöpfung an Maschinen, die das obere Treiben erst ermöglichen. Sie sind das Proletariat, das seine Lage nur aushält, weil eine Prophetin namens Maria ihnen einen Erlöser verkündet: den Mittler.

Die Zitation eines Klassikers der Utopie ist unübersehbar: H.G. Wells' Time Machine (1894). Der in der Zeitmaschine Reisende erreicht im Jahr 802 701 eine Welt, die von zwei gegensätzlichen Arten von Lebewesen menschlicher Abstammung bewohnt wird: den oberirdisch lebenden Eloi und den unterirdischen Morlocks.

Die Eloi leben jugendlich-sorgenfrei, verweichlicht und unreflektiert in einer scheinbar paradiesischen Umgebung. Arbeit ist ihnen fremd, und Unterhalt, Kleidung und Wohnung steht ihnen scheinbar selbstverständlich zu Verfügung. Lediglich eine namenlose Furcht vor der Dunkelheit, insbesondere bei mondlosen Nächten, beeinträchtigt ihr Glück.

Die Morlocks sind hässliche, affenartige Wesen, die in unterirdischen Höhlen hausen. Dort betreiben sie riesige Maschinen, durch die sie das Leben der Eloi ermöglichen und erhalten. Was in Metropolis allerdings nicht aufgenommen wurde: Die Morlocks sind nicht mehr 'Sklaven' wie in vergangenen Industriezeitaltern. Das Verhältnis hat sich umgekehrt, denn die Morlocks halten sich die Eloi wie Bauern das Vieh, welches als Nahrung dient. In dunklen Nächten holen sie sich von oben ihre Mahlzeiten.

Dass Metropolis hinter diesen letzten Aspekt zurückfällt, dass also die Bewohner der Unterwelt Sklaven sind und bleiben, kommt nicht von ungefähr: Denn nur so ist der beschriebene kitschige Schluss möglich, der -- politisch verstanden -- ja den faulen Kompromiss der revolutionären Klärung vorzieht. Im Gegensatz zum Jahr 802 701 bleiben die Soziale Frage und die Arbeiterfrage ungelöst, 1927 ebenso wie 2010. Das ist die Botschaft.

3. Ein Jahr nach Metropolis, 1928, kommt Bertolt Brechts Dreigroschenoper auf die Bühne -- ein Riesenerfolg, der in der Theatergeschichte seinesgleichen sucht. Und wie in Metropolis geht es auch hier um die Soziale Frage und ihre Zuspitzung in den Jahren der Weimarer Republik. Die Amoralität Mac Heaths und der sich in viktorianischem Ambiente bewegenden Akteure wird von Brecht begründet: "Dürftigkeit zwingt die Kreatur zum Bösen." Auch hier wird eine alte Vorlage aufgegriffen, nämlich die von John Gay (Text) und Johann Christoph Pepusch (Musik) verfasste Beggar's Opera des Jahres 1728. Auch hier kommt es wie in Metropolis zu einem Happy End -- allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: die Hinrichtung Mackie Messers -- beschlossenes und konsequentes Ende der Geschichte -- wird durch einen deus ex machina in Form eines reitenden Boten, der die Begnadigung überbringt, verhindert. Das ist natürlich eine augenzwinkernde Botschaft Brechts an sein Publikum, dem der Spaß an der sonst so burlesken Geschichte nicht verdorben werden soll. Kenner wissen: Das historische Vorbild Mackie Messers, der Gangster Jonathan Wild, wurde 1725 in London hingerichtet, und zwar ohne deus ex machina. Und wer im Stück ernsthaft zugehört hat, dem bleibt nach dem Gesang der Seeräuber-Jenny das Blut bis zum Schluss gefroren:

"Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen
Wenn man fragt, wer wohl sterben muss.
Und dann werden sie mich sagen hören: Alle!
Und wenn dann der Kopf fällt, sage ich: Hoppla!
Und das Schiff mit acht Segeln
Und mit fünfzig Kanonen
Wird entschwinden mit mir."

Ein todernster Hinweis mitten in der Komödie, den die damit Gemeinten sehr wohl verstanden haben.

Die Erstaufführung von Metropolis im Jahr 1927 war ein ziemlicher Misserfolg; die Kritiken fielen überaus negativ aus, was übrigens auch die Verstümmelung des Films in der Folgezeit bewirkte. Die Neupräsentation des Films in voller Länge im Jahr 2010 verdankt sich erheblicher finanzieller Förderung aus öffentlichen Stiftungen und Mitteln.

Brecht fiel dagegen in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit in Ungnade, und zwar wohl nicht nur wegen seiner Affinität zur DDR, sondern weil seine Botschaft eine andere war als die Langs: über Brechts Standort in der Sozialen Frage bestand nie ein Zweifel. Nach dem Mauerbau im Jahr 1961 verschwand Brecht nahezu völlig von den Theaterspielplänen Westdeutschlands. Nur wenige, wie der vom Deutschen Theater Berlin nach Westdeutschland gegangene Heinz Hilpert, der in der 1960er-Jahren das Deutsche Theater Göttingen zu einer der führenden Spielstätten der Bundesrepublik machte, retteten Brecht mit kontinuierlichen Aufführungen seiner Stücke vor dem gänzlichen Verschweigen.

Fritz Lang wiederum wurde in jener Zeit sehr populär: Seine Filme Der Tiger von Eschnapur (1959), Das indische Grabmal (1959), Die 1000 Augen des Dr. Mabuse (1960) und weitere Mabuse-Filme bedienten den Geschmack eines Nachkriegs-Publikums, das in vielen Edgar-Wallace-Filmen die Annehmlichkeit des Gruselns wieder schätzen gelernt hatte.

Fazit: die Scheinlösung der Sozialen Frage und damit auch der Verteilung von Erwerb und Erwerbslosigkeit, wie sie am Ende von Metropolis präsentiert wird, hat Kontinuität: Goebbels versuchte -- gottlob vergeblich -- Lang für seine Zwecke zu gewinnen. Die junge Bundesrepublik schätzte seine inzwischen zur Banalität verkommenen Werke hoch, und 2010 -- in einer seit 1930 nicht mehr so zugespitzten wirtschaftlichen und damit sozialen Krise -- wird Langs Film des Jahres 1927 mit einem kolossalen Propagandaaufwand neu präsentiert.

Lang und Brecht erweisen sich als Antipoden. Und auf der Berlinale des Jahres 2010 sollte uns vielleicht auch gezeigt werden, wo es lang geht in dieser Zeit der Entscheidungen. In der Panorama-Sendung der ARD am 18. Februar 2010 wurde dann im Bericht vom Aschermittwochstreffen der F.D.P. auf den Hinterbänken endlich auch das Wort von den "Parasiten" ausgesprochen, die ihr erwerbsloses Wohlleben vom Geld der Erwerbstätigen finanzieren.

 

***

Szenenwechsel: Nächtlicher Weg durch Berlin im Februar 2010. Ich habe einen Freund besucht, der sich nach drogenbedingtem Totalabsturz in der Klinik befindet. Der Totalabsturz bedeutet -- zusätzlich zur lebensbedrohlichen Krise -- auch: Zusammenbruch der Selbstorganisation. Das Job-Center kürzt Hartz IV wegen nicht eingehaltener Auflagen. Unbezahlte Kredite und "letzte Mahnungen" mit Inkasso-Drohungen. Drei Handy-Verträge mit Riesensummen. Versäumte Kontaktaufnahme mit der Einrichtung für Langzeittherapie. Ungeöffnete Post von vier Monaten. Angstattacken, die sich mit wachsendem Chaos steigern.

Mit zwei Scheck-Karten bin ich auf der Suche nach einem Auszugsdrucker zwecks Kontenklärung. Die sind rar in der großen Stadt.

Im Nieselregen bei gelb-trüber Stadtbeleuchtung laufe ich über schmutzig-glitschige Altschneefelder, wate durch Pfützen, umgehe schwarz gewordene Schneehaufen immer unter der Hochbahn entlang: Kottbusser Tor, Prinzenstraße, Hallesches Tor, dann am Willy-Brandt-Haus vorbei die Stresemannstraße hinauf zum Potsdamer Platz.

Es sind gar nicht die schlimmsten Gegenden der Stadt. Dennoch: am Kottbusser Tor lungern im U-Bahn-Eingang Junkies herum -- ja, natürlich "mit Migrationshintergrund". Aus dem Netto-Markt schieben Frauen mit erschöpften Gesichtern vollgepackte Kinderwagen. Vor dem Eingang des Marktes stehen alte Männer, die sich kaum auf den Beinen halten können. Lautstark ziehen drei glitzernd gekleidete Mädchen Richtung U-Bahn vorbei, mit Schnapsflaschen in der Hand -- heute ist schließlich Freitag.

Auf der Stresemannstraße verändert sich allmählich das Bild: bessere Beleuchtung, zunehmend einladende Lokale, Geschäfte -- und schließlich die strahlenden Neubauten des Potsdamer Platzes. Touristen beherrschen das Bild, teure Autos, teure Hotels, Swarovski-Auslagen. Ich habe noch immer keinen Auszugsdrucker gefunden und gerate plötzlich in eine Menschenansammlung vor einem der Berlinale-Kinos: Irgendein Promi entsteigt seiner Limousine, Digitalkameras blitzen auf, Aufschreie des Erkennens -- und ich flüchte die Masse. Endlich, in den nahe gelegenen warmen und gediegenen Arkaden finde ich ein Service-Center der Berliner Sparkasse.

Metropolis? -- Auf den ersten Eindruck: ja. Die dunkle Unterstadt, die ich durchlief, und die glitzernde Oberstadt, in der ich gelandet bin. Von 1927 bis 2010 scheint sich nicht viel geändert zu haben. Und dabei ist diese Stadt noch überschaubar im Vergleich zu den Moloch-Metropolen in anderen Weltgegenden. Aber der Gedanke an den Freund, für den ich unterwegs war, bringt noch etwas anderes ins Spiel: er befindet sich an der Grenze zu einer Lage, an die 1927 gar nicht gedacht wurde, weder in Fritz Langs Film noch im Deutschen Reichstag: dass Erwerbslosigkeit zu einem massenhaften Kontinuum werden könnte, gegen das Arbeitsbeschaffungsprogramme nichts ausrichten. Das Problem besteht nicht primär im Mangel an Arbeitsmöglichkeiten, sondern darin, dass in den bestehenden Lebensverhältnissen viele Menschen in ihrer Persönlichkeit abstürzen. Und dazu kommt, wie Ulrich Beck schon vor langem gezeigt hat, dass den Abgestürzten ihr Absturz schuldhaft zugeschrieben wird.

Zu den klassischen Denkmustern des Faschismus gehört es, den Betroffenen der politisch-gesellschaftlichen Ausgrenzung selbst die Schuld an ihrer Lage zu zuschreiben. So geschehen in Deutschland, in Südafrika, den USA und andernorts. Und so geht auch die Argumentationsweise in der Sozialstaatsdebatte -- überdies mit der zynischen Zuspitzung, dass es sich in der Langzeiterwerbslosigkeit nicht schlecht leben lässt -- auf Kosten der Erwerbstätigen. -- Der rechtfertigende Hinweis, dass doch nur endlich politisch zur Sprache gebracht wird, was viele längst denken, sollte stutzig machen: Politik als Projektion klein- und spießbürgerlicher Wünsche kann, wie die Geschichte zeigt, verheerende Folgen haben.

Zurück zu Metropolis: Hier geht es ja -- klassisch marxistisch -- um den Gegensatz zwischen dem Mehrwert erwirtschaftenden Proletariat und der Klasse der aus diesem Mehrwert ihr Wohlleben bestreitenden Kapitalisten und ihren Helfern: Rothwang, ein findiger Erfinder, der -- wie Loge im Rheingold -- seinem Herrn die Herrschaftsmittel bereitstellt. Und "der dünne Mann", ein Agent -- von Fritz Rasp unvergleichlich gespielt --, der die Herrschaftsverhältnisse durch Spitzeldienste und Gewaltanwendung absichert.

Das moderne Metropolis hat aber noch eine dritte Ebene: ganz unten. Schon in Langs Film wird angedeutet, wie viele Arbeiter vor Erschöpfung zusammenbrechen und nicht mehr arbeitsfähig sind. Die Konsequenz daraus wird nicht gezeigt, lässt sich jedoch denken: Entsorgung nach ganz unten. Es bleibt im Film offen, ob diese Entsorgung als physische Liquidierung zu denken ist. In der Gegenwart des Jahres 2010 erscheint sie zunehmend als soziale Liquidierung: Der Sozialstaat -- so die derzeit vorgetragenen Vorstellungen -- soll nur denen helfen, die sich selbst helfen können. Von den wirklich Hilflosen, also den Abgestürzten, zieht er sich zurück und rechtfertigt dies durch Diffamierung. Die kitschige Versöhnungsszene am Schluss des Films zeigt nur den Handschlag zwischen Fredersen und dem Arbeiterführer. Der 'dritte Stand' ist nicht dabei. Auch das ist eine Botschaft, wenn der erneuerte Film mit solchem Aufwand dem Land verkündet wird. -- Und die Zeichen der Verelendung, die mein Weg auf der Suche nach einem Kontendrucker aufzeigte, bestätigen diese Botschaft, selbst wenn dieser Weg nur durch gemäßigte Problemzonen führte.

Letzter Gedanke: Wenn einer Gesellschaft das Gerechtigkeitsbewusstsein abhanden kommt, wenn Teilen von ihr auf Dauer die materielle und politische Teilhabe abgesprochen wird, dann wird es gefährlich. Als 1793 der Kopf Ludwig des XVI. in den Sack fiel, war dies nicht zuletzt Folge von lange zurückliegenden Fehlentscheidungen und den daraus resultierenden sozialen Schieflagen. Sie reichen im Grunde zurück bis zum Westfälischen Frieden von 1648 und der dort begonnenen Etablierung des Absolutismus. -- Von einer revolutionären Situation sind wir heute weit entfernt und die heutigen Staatsträger müssen sich um ihren Kopf keine Sorgen machen. Aber dem warnenden Gesang der gefährlich-schönen Seeräuber-Jenny sollten sie ihre Ohren schon öffnen -- und dem schneidenden Klang ihrer Worte: "Alle!" -- und: "Hoppla!"

 

autoreninfo 
Michael Brömse, geb. 1943 in Prag, zunächst als Lehrer und Pfarrer im Raum Kassel-Göttingen tätig, zuletzt Professor für Ethik Sozialer Berufe in Hannover; gelegentliche belletristische Versuche; zahlreiche wissenschaftliche Veröffentlichungen; engagierter Amateur-Oboist. Lebt in Göttingen und Berlin.

 

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