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no. 24: wildwüchsige autobiographien
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Armin Nassehi: Der soziologische Diskurs der ModerneFrankfurt am Main: Suhrkamp 2006, 503 Seiten. |
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Wer sich für die gegenwärtige Gesellschaft interessiert -- zumal die globale -- wendet sich der Soziologie zu. Nassehi weist darauf hin, daß man dabei gleichzeitig die Soziologie als Diskurs berücksichtigen sollte. Das sollte eigentlich selbstverständlich sein, aber wie immer ist es etwas umständlich beim Verfolgen eines Zwecks gleichzeitig auch auf dessen Mittel, geschweige denn seinen Sinn zu reflektieren oder bei der Anwendung der Soziologie auf deren Legitimation. Versteht man in der Folge Soziologie selbst als Teil der gegenwärtigen Gesellschaft, gerät das Begründungsproblem erst in den Blick, das man sonst als blinden Fleck der gesellschaftlichen Analyse meint aussparen zu können. Eine Soziologie, die sich selbst zum Gegenstand wird -- und das muß sie, will sie nicht ihren blinden Flecken aufsitzen -- muß ihre Legitimation auf den Rekurs ihres eigenen Tuns abstellen. Oder frei nach Luhmann: Das Paradox ihrer Begründung im eigenen Tun entfalten. Das ist, wie gesagt, etwas umständlich, aber es nicht zu tun, wäre fatal. |
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In diesem Sinne sollte man sich auch die knapp 500 Seiten zum soziologischen Diskurs der Moderne von Armin Nassehi vornehmen, um hinterher -- nämlich nach seinen verschiedenen "Kritiken" der Soziologie (siehe unten) -- ein besseres Verständnis des Zusammenhangs von gegenwärtiger Gesellschaft und gegenwärtiger Soziologie gewonnen zu haben bzw. in der Lage zu sein, das Instrument oder begriffliche Instrumentarium der Soziologie nicht unreflektiert zu verwenden. Zumindest so und nicht anders, d.h. nicht anders als "kritisch", kann sich der Rezensent eine Einführung in die Soziologie vorstellen, und auf solch lesbare Weise wie bei Nassehi hat es das in der Systemtheorie -- der qua Selbstreferentialität eine solche Soziologie entstammen muß -- nicht gegeben. |
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Nassehi lehnt sich im Titel explizit an Jürgen Habermas' Rekonstruktion des Philosophischen Diskurses der Moderne an. Dabei geht es ihm nicht wie Habermas um die normativen Grundlagen der Moderne, die sich bekanntlich nicht mehr anders als aus ihren eigenen kommunikativen Strukturen heraus begründen lassen, sondern 1. schließe der soziologische an den philosophischen Diskurs an, 2. interessiere sich der soziologische Diskurs weniger für Gründe als für die Kontexte der Begründung und 3. gehe es um eine radikalere Soziologisierung des philosophischen Diskurses, die noch nach dessen Bedingungen fragt. Dabei ist Nassehi klar, daß gerade die soziologische Kritik der Soziologie, die er sich vornimmt, als empirisches Datum gesehen werden muß, also auch sie in einem gesellschaftlichen Kontext steht. In Form einer Auto-Epistemologisierung der Soziologie kann Nassehi eine "Kritik der reinen Soziologie" liefern, die zeigt, in welchem empirischen Kontext welche soziologischen Sprecherpositionen, Rede- und Textformen funktionieren. |
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Einerseits beginnt die Soziologie mit der Dekonstruktion des Subjekts, wenn es als gesellschaftlich determiniert betrachtet wird, andererseits zeigt sich das Soziale gerade am Handeln des Subjekts. Die sozial gebrochene Identität des Individuums, die Interdependenz der Individuen, die Eigenlogik ihrer Interaktionen und die Emergenz sozialer Tatsachen oder kultureller Phänomene konstituieren für die Soziologie, so Nassehi, die "Kritik der handelnden Vernunft". |
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Für den soziologischen Diskurs der Moderne muß es um eine Form der Autorität gehen, die authentisch ist, da es keinen metaphysischen "Auftraggeber" (Peter V. Zima) mehr gibt. Gleichzeitig wird diese Autorität aber unterhöhlt durch die Individualisierung der Gesellschaft, die alle zu Autoritäten macht, weshalb sich die Soziologie mit der "Kritik der authentischen Vernunft" befassen muß. |
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Der soziologische Diskurs der Moderne wird von einem zweiten Diskursstrang begleitet, der sich nicht nur für den ersten Diskursstrang, den Aufweis von Handlungsmustern, Motiven und Mentalitäten, interessiert, sondern auch dafür, wie welche dieser Formen in der Soziologie praktisch erzeugt werden. Taucht die Soziologie in ihrem eigenen Gegenstandsbereich auf, erscheint sie lediglich operativ und nicht objektiv. Dies wird deutlich in einer "Kritik der operativen Vernunft". |
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Mit der Frage, in welcher Gesellschaft sich solche Praxen in der Soziologie auffinden lassen, befaßt sich die "Kritik der gesellschaftlichen Vernunft". Der soziologische Diskurs der Moderne unterliegt einer doppelten Normativität: er muß einmal auf der Gegenstandsseite die zwei grundlegenden Diskurse von Freiheit und Disziplinierung auf die Gesellschaft hin integrieren und dann auch auf der Beobachterseite das Allgemeine als Bedingung des Besonderen ausweisen. |
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Letztlich geht es Nassehi um die Frage: "Wie lassen sich operative Gegenwart und die Gesellschaft operativer Gegenwarten soziologisch auf den Begriff bringen?" (22). Was dem soziologischen Instrumentarium entgeht, entgeht ihm nur, weil ihm entgeht, daß ihm etwas entgeht. Das ändert sich mit dem Wissen von der strukturellen Notwendigkeit der blinden Flecken, nun rechnet man mit "Kontexten, die sich dadurch selbst kontextualisieren, daß sie andere Kontexte anderer Kontexte sind" (22). |
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Für den Rezensenten ist diese "Einführung in die Soziologie" aktuell, weil sie zwar dazu angetan ist, den Anspruch auf objektive Analyse zu relativieren, dafür aber die Reflexion auf die Bedingungen des jeweiligen soziologischen Ansatzes absolut setzt. Damit wird nicht etwa das Fach der Sozialwissenschaft kompromittiert, im Gegenteil, damit ist gesagt, daß die jeweilige soziologische Analyse nur so viel wert ist, wie ihre Reflexion auf die jeweiligen Bedingungen ihrer Möglichkeit. Das ist post-klassische Epistemologie, wie man sie heute auch von der Soziologie erwarten darf: Zwischen Subjekt und Objekt der Analyse läßt sich zwar unterscheiden, aber nur unter der Maßgabe der Einheit ihrer Differenz, d.h. der Wechselwirkung, Interdependenz und scheinbar paradoxen Begründung im jeweils anderen -- für die man schlimmstenfalls blind sein kann, die man zeitweise ausblenden können muß, um handlungsfähig zu bleiben, die man aber besser doch in weiteren Analysen wechselseitiger Gegenwarten von Theorie und Praxis entfalten sollte. |
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(Thomas Wägenbaur) |
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Johannes Fried: Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen MemorikMünchen: C.H.Beck 2004, 514 S. |
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Das fulminante Buch des bekannten Mediävisten stellt die Summe einer langjährigen Beschäftigung mit dem Problem von Erinnerung, Gedächtnis und Vergessen dar, will zugleich aber nicht mehr sein als eine Art methodischer Problemaufriß, Prolegomena für ein erst noch zu erschließendes Forschungsfeld. Grob umrissen geht es Fried um die erkenntnistheoretischen und methodischen Konsequenzen, die die Funktionsweise des menschlichen Hirns, insbesondere des Erinnerungsvermögens, dann aber auch des kollektiven Gedächtnisses für die Geschichtswissenschaft hat. |
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Fried führt in die Problematik auf dem Wege der Exemplifikation ein: er zeigt an vier Beispielen, wie unzuverlässig das menschliche Gedächtnis ist, auch und gerade, wenn Augenzeugen keineswegs bewußt die Wahrheit verfälschen wollen, sondern überzeugt sind, im vollen Besitz derselben zu sein und Situationen, Namen, Orte, Inhalte in allen Details wiedergeben zu können meinen: Mit solchen trotz im Prozeß vorgetragener, festester Wissensüberzeugung im Detail keineswegs 'wahrhaftigen', im Kern der Sache freilich zutreffenden Erinnerungen vermochte der ehemalige Präsidentenberater John Dean als Kronzeuge Richard Nixon zu stürzen, solche höchst detaillierten, aber jeweils divergierenden und jeweils der Überprüfung nicht standhaltenden, 'falschen' Erinnerungen trugen nach dem Krieg immer wieder Niels Bohr und Werner Heisenberg über ihr Zusammentreffen 1941 und den Inhalt ihres Gesprächs vor (was teilte Heisenberg wirklich über das deutsche "Uran-Projekt" mit?); solche in der Überzeugung der Augenzeugenschaft niedergeschriebene Erinnerungen führen in Karl Löwiths autobiographischen Aufzeichnungen zur Vermengung von wirklich Erlebtem und Gelesenem und zur Kontamination von Zeitabläufen 1917-19; der preußische Gesandte am bayerischen Hof, Eulenburg, stilisierte sich zum Augenzeugen bei der Bergung der Leiche Ludwigs II. 1886; er "erinnerte ein reales Geschehen, dessen Partizipant er war. Aber alle erinnerten Fakten waren, obgleich sachlich plausibel, mit der Zeit so durcheinander geraten, daß keines mehr zutraf". Indem er minutiös die Fehler in diesen 'Erinnerungen' nachweist, führt Fried seine Leser zum Problem: "Arme Historiker, die aus dergleichen Zeugnissen die unwiederbringlich abwesende Vergangenheit erfassen müssen. Sie jagen Gespenstern nach. Kein Gebot, kein Erzählmuster, kein Wille zur Wahrheit schützt vor dem Fließen der Erinnerung [...] vor dem Zerfließen einstiger Wirklichkeit.". Angesichts solch nachweisbar fehlerhafter Erinnerungen, seien gerade Forscher/innen, "die sich schriftlosen oder schriftarmen Vergangenheiten zuwenden" und also oft auf später niedergeschriebene Augenzeugen-Erinnerungen, Epik, Chroniken, Annalen zurückgreifen, aufgefordert, die erkenntnistheoretische Fundamentalität des Problems ernstzunehmen und eine Methode der Gedächtniskritik, eine "Memorik" zu entwickeln und anzuwenden. Die im weitesten Sinne historische Forschung hingegen habe sich diesem Problem von Beginn an nicht gestellt, was wissenschaftsgeschichtlich in einer Verschränkung der Geschichte der Behandlung von Oralität in der Mediävistik und der allgemeinen Entwicklung der strikten Separierung der Natur- von den Geisteswissenschaften seit dem 19. Jh. aufgezeigt wird, die verhindert habe, daß die historische Methodenlehre auch die psychologischen, geschweige denn später neurologischen Forschungen rezipiert und operationalisiert hätte. |
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Fried abstrahiert in einem ersten Schritt hin zu einer solchen Memorik aus den angeführten Beispielen eine Typologie von "primären Verformungsfaktoren" des Gedächtnisses. Während unter den "sekundären" Verformungsfaktoren die bewußte bzw. diskursbedingte Änderung und Verfälschung eines Faktums (einer Erinnerung) verstanden wird, geht es Fried vor allem um die primären, unbewußten Verformungen, denen jede Erinnerung schon unterlegen hat, bevor sie sekundär verformt werden kann: Das Gedächtnis als kommunikativer Akt wird immer durch einen "Weckruf" aktiviert, folgt also immer einer hirninternen oder hirnexternen Stimulanz und ist so auf die aktuelle Gegenwart kontextuell bezogen. Diese Einbettungen der Gedächtnisleistung in die gegenwärtigen Funktionsbezüge hat stets (Ver-)Formungsfolgen im Hinblick auf das Erinnerte, von denen Fried einen Katalog auflistet. Typische Verformungen sind insbesondere Kontaminationseffekte durch Überblendung gleichartiger Erlebnisse, Teleskopie und Überschreibungen (zeitlich Näheres und zeitlich Ferneres werden vermischt), schließlich auch normative Inversionen (Begriff nach Jan Assmann: aufgrund der aktuellen Lage vorgenommene Umwertungen). Trotz dieser Verformungen ist der Erinnernde oft der festen Überzeugung, die Vergangenheit präzise wiederzugeben ("Gewißheitssyndrom"). |
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Im engeren disziplinären Kontext der mediävistischen Forschung kann man diese Fragestellung als eine kognitionstheoretische Überbietung der älteren lesen, die sich etwa im Mammut-Kongress Fälschungen im Mittelalter der Monumenta Germaniae Historica (1986, publiziert 1988) manifestierte: während man hier im wesentlichen im Sinne der traditionellen Quellenkritik danach fragte, ob ein Autor ein Faktum oder einen Text bewußt verfälscht hatte, mahnt Fried, daß diese sekundären Verformungen nur einen geringen Bruchteil des Changierens und Veränderns bei der Kommunikation von Erinnertem ausmachten und zudem viel leichter aufzudecken seien -- wenngleich die Grenze zwischen primären und sekundären Verformungen fließend seien. |
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Da für die primären Verformungen die Funktionsweise des menschlichen Hirns/Gedächtnisses schlechthin verantwortlich ist, referiert und synthetisiert Fried im folgenden Kapitel neurologische, evolutionsbiologische, psychologische, ethologische und anthropologische Forschungen zum Problem der "neurokulturellen" Grundlagen der Geschichtswissenschaft: in der Wortbildung deutet sich der Versuch an, die humanbiologische und psychologische Forschung zur Funktionsweise des Hirns und die kulturwissenschaftlichen Konzeptionen zu kollektiver Erinnerung und Gedächtnis zusammenzuführen. Aus den so verbundenen Ergebnissen der unterschiedlichen Disziplinen zieht Fried im wesentlichen den Schluß, daß die gemeinsame Abstammung der menschlichen Spezies ("Out of Africa"-These) zu gleichen neurologischen Grundlagen von Gedächtnis, Vergessen und Erinnerung geführt hat, was trotz kultureller Unterschiede den interkulturellen Vergleich, wie ihn Ethnologen schon länger bemühen, zwischen gegenwärtigen und vergangenen oralen und über Schrift verfügenden Gesellschaften statthaft macht. Im Hinblick auf die Konzeption von Erinnern und Gedächtnis gelte es "keinen scharfen Bruch zwischen Natur und Kultur zu postulieren und das Gedächtnis als ein Übergangsphänomen zwischen beiden zu interpretieren". |
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Getreu dieser Maxime folgen nun verschiedene historische Quellenanalysen, die meist eher Phänomene des kommunikativen und kulturellen als des individuellen Gedächtnisses betreffen aus dem epochalen Bereich des Früh- bis Hochmittelalters. Sie dienen immer wieder dazu, im Wege dessen, was Fried "Gedächtniskritik" nennt, den Glauben an die Verläßlichkeit der Quellen und Überlieferungen in Frage zu stellen, um aus der gewählten kognitions- und gedächtnistheoretischen Perspektive "implantierte", d.h., nachträglich dem kulturellen Gedächtnis eingeschriebene Erinnerungen (etwa die demütigende Unterwerfung Kaiser Friedrich Barbarossas I. unter Alexander III. in Venedig 1177) nachzuweisen, ebenso Vergessen bewirkende Wertungs-Inversionen (Verdrängung der Öffnung des Grabes Karls des Großen durch Otto II. und Karls erste Heiligsprechung), die Begrenztheit der Erinnerungsfähigkeit sowohl einfacher mittelalterlicher Prozeßzeugen wie auch gelehrter Chronisten, selbst wenn es um ihre eigene Familie geht (Thietmar von Merseburg, Hermann der Lahme, Fulco von Anjou, Lambert von Watterloo). Nach Einschub einer weiteren methodischen Zwischenüberlegung, die die stärkere Rezeption ethnologischer Forschungen zum Funktionieren von Gedächtnis vor dem Hintergrund nicht oder nur gering ausgebildeter schriftlicher Kommunikation einfordert, folgen weitere Beispielsanalysen zum gleichen Problemkreis im Bereich der europäischen Alten und Mittleren Geschichte, insbesondere im Hinblick auf die Frage, was man eigentlich bei scharfer Kritik des kulturellen Gedächtnisses über das Frühmittelalter sicher wissen kann (Dekonstruktion von Tacitus als Quelle für ein Wissen über die Germanen, Nachweis fehlerhafter Erinnerung auch bei Königen und Historikern, Spärlichkeit des gesicherten Wissens über Chlodwig und Benedikt von Nursia). Überzeugend mahnt Fried, daß die über Jan Assmann ins Allgemeingut der historischen Wissenschaften eingegangene Vorstellung, daß der 'floating gap' zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis und damit ein Brüchigwerden der unmittelbaren Erinnerung erst nach drei Generationen oder 80 Jahren einsetze, stark zu relativieren sei, da Erinnerung und Gedächtnis sowohl individuell wie kulturell schon viel früher stark flottieren können. Er führt weiter aus, wie man aufgrund von Parallelüberlieferungen nur Unstimmigkeiten etwa zwischen Stammesherkunfterzählungen, nicht aber mehr "die eigentliche Wahrheit" (etwa der Langobardenherkunft) rekonstruieren kann: "Nichts schien fixiert und fest verankert, alles schwamm in einem fortgesetzten Kontinuum von Zugaben und Abstrichen [...]". Die "Sage" als vermeintlich hinter den Schriftquellen liegende Tradition wird als Herdersche und Grimmsche Utopie vom sich manifestierenden Volksgeist aus dem Bereich überprüfbarer Quellen ausgeschieden, um dann sezierend die jeweiligen kanonischen schriftlichen Hauptquellen -- etwa Cassiodors Gotengeschichte -- eher als Zeugnisse von "Konstruktivität anstelle mündlicher Tradition" vorzuführen. "Hat Siegfried gelebt?" -- "Siegfried hat nicht gelebt." |
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Fried fragt dann danach, wie bei all der Unzuverlässigkeit des individuellen wie des kollektiven Gedächtnisses menschliche Gesellschaften doch Stabilisatoren von Erinnerung entwickelt haben. Die oral poetry-Forschung rezipierend weist er für schriftlose Kulturen mindestens zwei Erinnerungstypen nach: beim einen schaffen es die Erinnerungsspezialisten (Sänger und Erzähler), die Überlieferung Wort für Wort textstabil zu halten (Irland), beim anderen ist dies gar nicht das Ziel, sondern Gesang und Erzählung sind auch bei den geschulten Spezialisten textvariabel. Weitere Stabilisatoren sind das autoritative Gedächtnis, rituelle und sakrale Kanonisierung (etwa in der jüdischen Schriftreligion), im allgemeinen Schrift und Techniken des Rationalitäts- und Gedächtnistrainings (Sophistik, Rhetorik und logisches Denken). Trotzdem war selbst Thukydides' Werk nicht gefeit vor den "Strategien des Gedächtnisses, der Musteranpassung, der Wiederholung, der Selektion und Inversion seiner Daten, dem Gewißheitssyndrom, der Konstruktivität und gleitenden Aktualisierung seiner Erinnerungen". |
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Abschließend umreißt Fried noch einmal die Memorik-Methode: Die Kulturwissenschaften seien, wenn sie einmal den grundlegenden Sachverhalt des "irrenden, unwillkürlich Fehler produzierenden Gedächtnisses" anerkannt hätten, auf interdisziplinäre Gedächtnisforschung angewiesen: hier sieht Fried in Zusammenarbeit von naturwissenschaftlichen Neuro- und historischen Kulturwissenschaften einen Arbeitsbereich, "dem freilich nur ein aufwendiger Forschungsverbund mit einer Vielzahl diskreter und reduktionistisch vorgehender Arbeitsschritte, kein einzelner Historiker gerecht werden kann.". Nach allem gedanklich-theoretischen Höhenflug klingt die Zielformulierung geradezu original rankeanisch: "[V]ordringlichte[s] Ziel der geschichtswissenschaftlichen Memorik" sei die "Kritik, Kontrolle und Rückführung der Verformungen auf eine ursprüngliche Wahrnehmung und wirkliche Sachverhalte" (Hervorhebung C.Z.). In der Skizze einiger Grundelemente der Memorik erwähnt Fried dann, daß Erinnerungskritik "zunächst in Quellenkritik" münde, entsprechend macht er Ausführungen zur niedrigeren oder höheren Anfälligkeit bestimmter Quellentypen für Gedächtnisverfälschungen. Anschließend geht es darum, in den schriftlichen Quellen Spuren mündlicher Tradition aufzudecken, Berichtszeit und Geschehenszeit zu trennen, die zeitliche Schichtung der verfügbaren Quellen streng zu beachten, systematisch nach Spuren nie ausbleibender Gedächtnisverformung zu suchen, wozu der gesellschaftliche Kontext, aus dem heraus der Gedächtnis-Weckruf erfolgt, und der Bildungshorizont des Autors zu beachten seien. Man müsse bei jeder Erinnerung möglichst nach Gegenerinnerungen, also nach Kontrollzeugnissen suchen. Durch Gedächtniskritik sei nicht ein Verlust an Quellen wegen ihrer etwaigen Entwertung als Zeugnisse für die Fakten, die sie wiederzugeben meinen, zu befürchten. Es würden sich lediglich Umwertungen der Bedeutung der Quellen und dessen, was man aus ihnen herauslesen kann, ergeben. Der anvisierte Erkenntnisgewinn durch die Gedächtniskritik seien neue Vergangenheitsbilder, "die nicht bloß dem ursprünglichen Geschehen näher rücken, sondern durch den Vergleich zwischen der erfaßbaren Wirklichkeit und den späteren Gedächtniskonstrukten neuralgische Punkte dieser letzteren und damit Handlungsmotive der Zeitgenossen erkennen lassen.". Im Ausblick erhofft sich Fried die Begründung einer ganzen neurokulturellen Geschichtswissenschaft, bei der sie sich mit den Kognitionswissenschaften zu einer neuen, universaleren Aufklärung über den Menschen verbündet. |
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Frieds in beeindruckender Rhetorik vorgetragene Überlegungen sind sicher ein gewichtiger Anstoß zu einer fundamentaleren Erfassung des Phänomens Gedächtnis/Erinnerung in der Geschichtswissenschaft. Man könnte sagen, sie sind ein auf das Gedächtnisproblem fokussierter Schritt dahin, eine Historische Anthropologie zu begründen, die auch evolutionsbiologisch und neurologisch informiert ist und nicht lediglich eine Mikrogeschichte oder neohermeneutische Kulturgeschichte unter anderem Etikett. Trotz des wichtigen Anstoßes, den das Buch gibt, sind einige Kritikpunkte vorzubringen, die hier nur auf methodischer Ebene erfolgen können, da mangels mediävistischer Spezialkompetenz des Rezensenten die Exemplifizierungen an den Quellen nicht im einzelnen diskutiert werden können, sie vielmehr als durchaus überzeugend hingenommen werden: Zunächst leidet der Text an zu deutlichen Spuren seiner prozeßhaften Genese. Die einzelnen Kapitel präsentieren sich immer wieder als eigene Einheiten, die sie oft in Artikelform einst waren. Das führt zu einigen Wiederholungen, insbesondere was den cantus firmus von der Unsicherheit und Unverlässlichkeit des Erinnerns anbelangt, zu einer nicht immer klaren Struktur im Verhältnis von methodischen Ausführungen und Exemplifizierungsteilen, vor allem aber zu einigen vielleicht zu wenig bedachten Widersprüchlichkeiten. So wird etwa auf S. 207 die Überwindung der Theorie kultureller Evolution als gegeben dargestellt, auf S. 97f. wird im Kern des Teils, in dem die Evolution des menschlichen Hirns als neurologisches Grundlagenwissen rezipiert wird, zwanglos von der "Fortbildung der biologischen in der kulturellen Evolution" geschrieben; das kollektive Gedächtnis unterliege "in gleicher Weise der Evolution wie das biologische". Wie muß man sich aber dann diese Evolution vorstellen? Jenseits von unproblematischen Unachtsamkeiten, scheint mir gerade in diesem Bereich ein zentrales methodisches Problem aufzuscheinen, das nicht gelöst wird: Auf S. 379 stellt Fried selbst das methodische Postulat der Gedächtniskritik auf, daß individuelles und kollektives Gedächtnis auseinanderzuhalten sind. Immer wieder hält er sich aber dann selbst nicht an dieses Postulat, wenn er im Willen, einen zu starken Bruch zwischen Natur und Kultur zu vermeiden, Analogieschlüsse vom individuellen auf das kollektive Gedächtnis tätigt. Das ist harmlos, wenn etwa vom Beispiel von Erinnerungsimplantationen beim Therapiepatienten zu "Implantationen auf kultureller Ebene" gesprungen wird (S. 153-155), solange dies metaphorisch gemeint ist. Immer wieder werden aber die anhand des Funktionierens des menschlichen Individualhirns aufgenommenen Begriffe weitgehend ohne Erläuterung analog auf das kulturelle Gedächtnis angewandt. Diese Analogieschlüsse werden auf S. 81 methodisch eingeführt: "Denn die Organisation unseres Hirns dürfte sich in seinen geistigen und kulturellen Hervorbringungen und in den interzerebralen, gesellschaftlichen Kommunikationsnetzen spiegeln, in die jeder Mensch eingebunden ist." (Hervorhebung C.Z.) -- Dieses Spiegelungsverhältnis zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis (auch auf S. 165, ansonsten stets im unterschiedslos angewandten Sprachgebrauch für beide Gedächtnisse) müßte immerhin als Fundament für eine enge Zusammenarbeit von Neurowissenschaften und Kulturwissenschaften dienen, insofern wollte man hier mehr Indizien und Argumentationen einfordern als ein konjunktivisches "dürfte", da sonst doch der Verdacht eines ganz ungesicherten, geradezu allegorischen Analogieschlusses naheliegt. Jenseits dieser Analogiebildungen kann Fried selbst die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse kaum in die memoristisch geschulte Textarbeit einbringen. Wie sollte er auch? -- Zwar wird jeder zustimmen, daß auch bei Thietmar von Merseburg als homo sapiens sapiens die feuernden Neuronen manch 'falsches' Erinnern erzeugten und sein Gedächtnis modulierte, aber bei jedem Fehler oder jedem vergessenen Faktum im Text dürfte man allermeist die gerade wirksame Art der Verformung kaum alternativlos angeben können -- schon die Entscheidung, ob primäre oder sekundäre Verformung vorliegt, dürfte im empirischen Einzelfall oft kaum lösbar sein. So könnte man in den Kapiteln, in denen Fried in beeindruckender Genauigkeit und souveräner Bereitwilligkeit, mit allen überkommenen Vorstellungen zu brechen, Quellenanalyse betreibt, auch fragen, ob das nicht letztlich doch einfach radikal und meisterhaft angewandte Quellenkritik alter Schule ist, nur daß als Zielobjekt von "Gedächtnis" statt von "Quelle" geschrieben wird, weil man gleichsam durch den Text hindurch die Modulation des kommunizierenden Gedächtnisses anvisiert. Auch zeigt Fried in seinen Beispielen noch nicht wirklich das positive Erkenntnispotential seines Ansatzes, obwohl er ihn behauptet. In seinen Exempelanalysen gelangt er immer nur zum Nachweis der Unsicherheit des herkömmlichen Wissens, Aussagen über das, was wir stattdessen anderes wissen können, verlieren sich en passant: dies liegt, scheint mir, an einer strukturellen Unentschiedenheit beim Autor, der die Memorik einerseits doch geradezu rankeanisch als Methode einführen will, um auf einer höheren Ebene und nach Abrechnung aller Gedächtnisverformungen zu dem, "wie es wirklich gewesen" ist, vorzustoßen. Andererseits zeigt er durchaus mit Wonne stets, daß bei genauer Analyse die Wirklichkeit aufgrund der Gedächtnismodulationen zerfließt. Ist dann aber nicht die Wirklichkeit, auf die der Forscher noch stoßen kann, immer nur die Wirklichkeit der Sprunghaftigkeit und Unverlässlichkeit von Erinnerung? -- Das führt dann aber eher zu einer (im übrigen sehr sympathischen) Wissensethik, die sich bei Fried immer wieder darin zeigt, daß er die "datensüchtigen", vom Gewissheitssyndrom befallenen Historiker/innen auf die nötige Demut angesichts der Unsicherheit des individuellen wie des kollektiven Gedächtnisses verweist. Vielleicht müßte an dieser Stelle der Mut aufgebracht werden, als Erkenntnisziel eher die Analyse der Schichtstrukturen der kulturellen Gedächtnisse und ihrer Wirkmächtigkeit unabhängig von der Frage nach der ursprünglichen "wirklichen Wirklichkeit" sukzessive nachzuzeichnen -- eine Operation, die in etwa schon das lieu de mémoire Konzept und z.T. die Gießener Erinnerungskultur-Heuristik verfolgt. |
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Frieds Ansatz ist sicher eine mutige Bereicherung und zwingt die Historiker wie alle Kulturwissenschaftler dazu, die Möglichkeit eines Dialogs mit den Naturwissenschaften zu überdenken. Der Weg hin zu einer neuen, auch evolutionsbiologisch und --psychologisch interessierten Historischen Anthropologie ist sicher einschlagenswert. Zum jetzigen Zeitpunkt bleibt aber noch der Nachweis zu erbringen, daß mit der Memorik jenseits der neuen Bezeichnung wirklich mehr geleistet wird als penible Quellenkritik und daß das neurologische Wissen bzw. gegebenenfalls ein Katalog von Verformungsregeln bei der jeweiligen Quellenanalyse wirklich anwendbar und eindeutig zuzuordnen ist und tatsächlich zu neuen, nachprüfbaren Erkenntnissen führt. |
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(Cornel Zwierlein) |
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Bruno Preisendörfer: Die Beleidigungen des Glücks. Erzählungen. -- Arne Nielsen: Buddeln, 1-3. Erzählungen. -- Johanna Straub: Das Zebra hat schwarze Streifen, damit man die weißen besser sieht.Verlagsbuchhandlung liebeskind |
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In der Verlagsbuchhandlung liebeskind München, erschienen letztes Jahr unter anderem zwei Erzählbände: Preisendörfers Die Beleidigungen des Glücks und Nielsens Buddeln, 1-3, und dieses Jahr der Debüt-Roman von Johanna Straub Das Zebra hat schwarze Streifen, damit man die weißen besser sieht. Alle drei stellt der Verlag im Klappentext mit ähnlichen Worten vor. Im Falle von Preisendörfer spricht er von "großer Beobachtungsgabe", einer "ebenso prägnante[n] wie poetische[n] Sprache" und von einer "melancholischen Schönheit"; im Falle von Nielsen von "schnell[en], pointiert[en]" "Storys" [sic!]; und im Falle von Straub von "präzise erzählt" und wieder von "melancholisch". Und in der Tat, der Eindruck, der beim Lesen entsteht, ist tatsächlich irgendwie melancholisch, pointiert, präzise oder auch gut beobachtet -- aber eben nur 'irgendwie'. Die Differenz, die sich da zwischen Ist- und Sollzustand auftut, scheint ein grundsätzliches Problem der Lakonie zu sein. Denn aus einer knappen, unumwundenen Schreibweise -- durch die alle drei Bände gekennzeichnet sind -- können zwar Melancholie, Präzision und Pointiertheit entstehen, aber nur, wenn klar wird, was da zusammengezogen, verknappt, von welcher Basis aus etwas auf die Spitze getrieben wurde. Aus einer losen Reihung von Inhalten und Beobachtungen entsteht diese Wirkung nicht. So erzählte Geschichten sind dann tatsächlich nur "schnell". Es entsteht ein Geschwindigkeitssog, in dem die einzelnen Stationen vorbeirauschen, da es keinen Grund gibt, sich lange bei ihnen aufzuhalten. Dieses Problem teilt die Lakonie mit der Abstraktion. Lakonie ist, zumal und besonders für 'junge Gegenwartsliteratur', nichts außergewöhnliches. Die Probe aufs Exempel zeigt's: fast alle Treffer, die Google bei der Suche nach 'Lakonie' auf den ersten Seiten aufführt, stammen aus Literaturrezensionen. Und: Lakonie wird durchwegs als positives Beschreibungsmerkmal verwendet, vor allem, um eine gegenwärtige gegen eine traditionelle Schreibweise abzugrenzen, aber auch dort, wo es sich eben nicht um Lakonie handelt, sondern lediglich um eine Reihung von Einzelbeobachtungen. Zumindest streckenweise trifft dies auch auf die drei vorliegenden liebeskind-Bände zu. |
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Bei Bruno Preisendörfer läßt sich das Phänomen zum Beispiel an der ersten seiner neun Erzählungen zeigen. Dem Titel Ringe folgt zunächst eine Darstellung des Plots oder, wenn man so will, ein 'poetischer/lyrischer Abstract': |
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"Bettina und Winfried haben ein Affäre. |
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Die Erzählung selbst beginnt wie folgt: |
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"Wenn man zehn Jahre verheiratet ist, ist man zehn Jahre verheiratet. Eine Rose ist ein Rose, eine Ehe ist eine Ehe, ein Ring ist ein Ring. Bis zur diamantenen Hochzeit dauert es sechs Jahrzehnte. Die Eheringe von Carola und Winfried sind mit Edelsteinen verziert, [...] beide eingefaßt in filigranes Weißgold in Form stilisierter Rosenblätter. |
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Eine Passage aus der Mitte lautet: |
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"Carola und Winfried sind ein wenig matt von den vielen Krisengesprächen. Hinterher ist man immer etwas matt, egal ob man im Bett komische Sachen gemacht oder am Küchentisch komische Sachen gesagt hat. Sie sind gemeinsam dahin gekommen, wo sie schon immer waren: sie lieben sich, sie führen eine gute Ehe, und wie man es macht, ist es sowieso verkehrt. Aber dann könnte man es auch mal anders verkehrt machen als gewohnt." (S. 48) |
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Zunächst handelt es sich sowohl bei der Darstellung des Plots als auch bei der Erzählung selbst um eine Aneinanderreihung von Einzelbeobachtungen. Der wesentliche Unterschied aber besteht in der Handhabung dieser ausgeprägten lakonischen Schreibweise. Während ihr die lyrische Form des Plots eine zusätzliche Dimension, eine übergeordnete inhaltliche Ebene verleiht, die Möglichkeiten der Interpretation eröffnet, bleibt in der Erzählung das Wiederholungsmoment selbst dominant. Sie erzählt nicht mehr als dies bereits der 'lyrische Abstract' getan hat. Was sie erzählen hätte können, wäre die Ausführung des Angekündigten gewesen: die Konkretisierung des Weges zu diesen Wiederholungsmomenten. Daß es bei der Reihung der Wiederholungsmomente selbst geblieben ist, mag der schlichten Konstitution der Figuren und nicht nur der knappen Schreibweise geschuldet sein. Wenn dem aber so ist, bedürfen solche Figuren eines erzähltechnischen Ausgleichs, so daß der Rezipient die Schleifen nicht nur mitdreht, sondern auch davon abstrahierend einen Einblick in die sie bedingenden Dynamiken gewinnen kann. Im Plot übernimmt eben diese, einen Mehrwert herstellende Funktion, die lyrische Form, in der Erzählung fehlt dieses Element. Die Beobachtungen sind dann zwar "groß", aber nur, weil sie als Stoff erkannt und benannt werden. Sie bleiben einem gewissen Positivismus verhaftet, sind sozusagen nur an der sichtbaren Wirklichkeit orientiert. Zwar durchaus im Sinne einer "Diagnose, die man [...] prompt als die richtige erkennt", wie es in einer Rezension von Joachim Scholl des Deutschlandradios heißt. Befunde aber führen nur weiter, wenn sie operationalisiert werden. |
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Bei Arne Nielsen ist diese Lakonie als lose Reihung von Einzelbeobachtungen auf die Spitze getrieben. Jede der sieben Erzählungen besteht aus kleinen Momentaufnahmen, deren Erzählreihenfolge lediglich durch den Zufall des Blicks bestimmt zu sein scheint. Die Kamera geht sozusagen davon aus, daß es nichts weiter zu sehen gibt, als das, was sie optisch greifen kann. Es entsteht dadurch soetwas wie ein literarischer Fotorealismus: |
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"Die Koteletts sahen gut aus. Meine Frau hatte sie bereits gewürzt, und die Kartoffeln mußte ich nur noch anmachen. Das war einfach. Ich holte Butter aus dem Kühlschrank und schenkte mir noch ein Glas Wein ein. Die Kartoffeln stellte ich gleich auf sechs, danach holte ich die Bratpfanne, die ich von meiner Frau zu Weihnachten bekommen hatte, aus dem Schrank. Und dann tat ich etwas, worüber ich heute noch nachdenken muß. Während die Koteletts in der Pfanne vor sich hin brutzelten, überquerte ich den Flur und machte die Haustür auf. Ich legte sogar die Fußmatte so hin, daß die Tür nicht wieder zugehen konnte. Und da stand ich also und briet Koteletts, während ich sehen konnte, was draußen vor sich ging. Es war ein tolles Gefühl, viel intensiver, als durch ein Fenster schauen. Und hier ist, was ich sah: der Himmel über der Hecke war rot, wie ich ihn noch nie zuvor gesehen hatte. Es war, als wäre ich plötzlich mittendrin in einer bestimmten Sache." (S. 13f.) |
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Nicht nur, daß durch die Reihung von Einzelbeobachtungen allein die Oberfläche zum Betrachtungsgegenstand wird. Auch ihre inhaltliche Schlichtheit, besonders, wenn es sich um den Ausdruck von Gefühlen handelt, trägt dazu bei. Gefühle werden in groben Kategorien benannt und nur graduell unterschieden: "Es war ein tolles Gefühl, viel intensiver, als [...]" (S. 14). Auch hier mag es sein, daß die Figuren so entworfen sind, daß sie über differenziertere emotionale Befindlichkeiten nicht verfügen und deshalb, wie es im Klappentext weiter heißt, die Erzählungen "verschweigen oder nur andeuten". Spannend aber ist das nicht. Denn es läßt sich nicht sagen, ob da tatsächlich etwas verschwiegen wird, oder ob da schlicht nicht mehr ist. Die bloße Reihung der Einzelbeobachtungen, ohne daß sie inhaltlich zu einer Lakonie pointiert werden -- also ohne daß sie der Autor in einer knappen Schreibweise verdichtet bzw. auf einen Kern reduziert ausgedrückt, 'karikiert' hat (ähnlich dem metaphorischen Ausdruck), dabei aber das 'volle Bild' voraussetzt -- spricht eher für letztere Variante. Emotionen sind hier nicht durch Lakonie ersetzt, sondern durch Oberflächenbeobachtungen. Sie erzeugen den charakteristischen Eindruck dieses Bandes. Und dieser Eindruck wird durch ein weiteres, ähnliches Moment verstärkt: die Figuren und Geschichten wirken wie eine Blaupause aus dem Amerikanischen: |
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"Sie hatte eine der Flaschen dabei und vier Gläser. Es waren vier. |
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Solche und ähnliche Passagen gibt es zuhauf, zumal mit der Vorliebe, die namentliche Anrede ans Ende der Repliken zu setzen. Nun bestehen auch hier zwei Möglichkeiten der Deutung, eine für den besten Fall, eine für den schlechtesten. Die übertriebene Kopie dieses Stils spricht für Ironie (bestenfalls). Andererseits setzt Ironie auf Seiten der Figuren ein Reflexionsvermögen voraus, mit dem sie nicht ausgestattet wurden. Für Ironie auf der Rezipientenebene, auf der sich sozusagen der Leser gemeinsam mit dem Autor über ein bestimmtes amerikanisches Genre oder gar über eine amerikanische Eigenart amüsiert, fehlt ebenso die Voraussetzung: es gibt keinen Hinweis auf eine entsprechende Referenz, jede einzelne Erzählung steht für sich selbst und nicht im Dienst einer übergeordneten Intention. Es scheint so, als ob Nielsen hier die Technik eines Genres, und also lediglich die Oberfläche kopiert hat. Das macht er zwar gut. Dennoch ist es nichts anderes als eine Fingerübung (schlechtestenfalls). |
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Bei Johanna Straubs Band handelt es sich nicht um eine Erzählanthologie, sondern um einen Roman, ihren Debüt-Roman. Der Titel hat ein schier barockes Ausmaß und den Ton eines Lehrsatzes: Das Zebra hat schwarze Streifen, damit man die weißen besser sieht. Das und nicht weniger will der Roman zeigen. Er hat also ein konkretes Ziel, die Latte ist hochgehängt: Es geht um die Frage der Perspektive. Auch der Klappentext formuliert das so, er spricht von einem "Wechselspiel [der] Perspektiven". Die Umsetzung dieses Ziels erfolgt dann doch in mehr oder weniger selbständigen Erzählungen, zwölf insgesamt. Das Thema bietet das an: verschiedene Perspektiven, eine pro Figur und Erzählung; das also wären die schwarzen Streifen. Sie aber stehen in einer bestimmten Funktion zu den weißen. Sie heben diese hervor, "damit man [sie] besser sieht". Die unterschiedlichen Perspektiven haben also ein gemeinsames Ziel. Dieses, in allen Erzählungen wiederkehrende Element ist eine Figur, Philippa. Sie ist soetwas wie ein passives Zentrum. Im Gegensatz zu den schwarzen Streifen, vereinigt sie, so könnte man sagen, alle weißen Streifen auf sich: denn in jeder Erzählung wird sie an einer anderen Stelle ihres Lebens und in gemessenem chronologischem Abstand aus dem Blickwinkel einer jeweils anderen Figur gezeigt: beginnend bei ihrer Geburt im Jahre 1969 ("1. Mondlandung") bis zu den Jahren kurz nach ihrem Tod, ca. 2040/50 ("12. Zebra"). Soweit das Grundkonzept des Romans. Die Durchführung aber verschenkt einiges dieses vielversprechenden Ansatzes. |
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Das geschieht vor allem deshalb, weil Philippa zwar durchgängige Konstante, aber eben nicht eigentliches Zentrum der einzelnen Episoden ist. Daher handelt es sich auch eher um eigenständige Erzählungen, als um zusammengehörende Kapitel. Die Figuren erzählen von Philippa nur am Rande, und sie tun es nicht sehr differenziert, sowohl was die jeweilige Perspektive auf sie anbelangt, als auch ihre Reaktion auf diejenige der jeweiligen Figur. Die Verbindung zu Philippa ist immer nur lose, unabhängig davon, ob die Schwester, die beste Freundin, der Lebensgefährte, der Sohn oder die Enkelin spricht, vor allem aber immer nur von einer relativ weit entfernten Außenperspektive, so daß Philippa selbst dem Leser kaum näher kommt, stets nur zufällig Anwesende einer Situation ist, nie ausführlicher Gegenstand der Auseinandersetzung. |
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Statt dessen leben die Erzählungen eher von ihren jeweiligen Protagonisten. Und als Einzelerzählung betrachtet, sind da durchaus auch Würfe dabei, so zum Beispiel die ersten beiden Kapitel: "1. Mondlandung" erzählt von Philippas Eltern am Tag ihrer Geburt aus der Perspektive ihres Vaters und "2. Kapern" ein paar Jahre später aus der Zeit der Trennung ihrer Eltern und der Perspektive ihrer Großmutter "Ömchen". Beide Texte sind gute Beispiele für das Potential dieser Autorin. Es zeigt sich an der souveränen Handhabung der unterschiedlichen Erzählweise, die an die jeweilige Figur angepaßt ist: die erste mit unvermittelten Rückblenden, Zeitsprüngen und Gedankenkonstrukten eines Menschen, der sich in emotionalen Zwiespälten befindet. Die zweite dagegen ist in traditioneller Manier gehalten, einer älteren Dame angemessen, die, um ihre Tochter besorgt, sie vorsichtig in Lebenskrisen berät und sich um die Enkelkinder kümmert. Dieses hochdiffizile Unterfangen gelingt aber nicht bei jeder Figur, nicht in jedem Kapitel und scheitert in manchen völlig. Statt einer dichten Atmosphäre begegnen einem hier dann auch aneinandergereihte Einzelbeobachtungen, die isoliert bleiben und wie lose Enden aus dem Text hängen. So etwa im letzten Kapitel, und dort besonders auffällig in derjenigen Passage, die den Titel des Bandes aufgreift: |
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"Ich weiss, was Vater dazu sagen wuerde. Es muss ein Ende geben fuer einen neuen Anfang. Es muss dunkel werden, damit es wieder heller werden kann. Das Zebra muss schwarze Streifen haben, damit man die weissen besser sehen kann. Das Unglueck bedingt das Glueck. Und wenn das Zebra ganz weiss waere? Ich kann mir die dunklen Streifen doch dazu denken. Ich wuerde schon nicht vergessen, dass es sie gibt." (S. 202) |
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Hier erzählt die Enkelin Philippas. Die durchgängige Ersetzung der Umlaute durch den entsprechenden Vokal und ein beigefügtes 'e' bzw. die Streichung der Sonderzeichen soll wohl die ferne Zukunft der 40er oder 50er Jahre dieses Jahrtausends symbolisieren. Notwendig ist das Manöver nicht. Es hilft einem bei der Rekonstruktion der vergangenen Jahre Philippas nicht weiter, sondern lenkt nur ab. Solche blinden Informationen sind im Text öfters gesetzt. So wird etwa im Kapitel "9. Sieger" -- das sonst ebenfalls zu den gelungenen zählt -- eine weibliche Figur allein aus dem Grund genannt, um die in keinem Zusammenhang stehende Information zu vergeben, daß die Eltern der erzählenden Protagonistin Zoe, eine Tochter von Philippas Schulfreundin Mareike, homosexuell sind: |
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"Ich bin gerne hier, weil Daniel und Philippa fast so etwas sind wie meine Pateneltern [...]. Falls uns etwas passiert, sagt Kira, dann habt ihr jemanden, der sich um euch kümmert, und Mareike sagt, uns passiert schon nichts, und wenn doch, dann gibt es jemanden, und Daniel und Philippa würden zusammen den Weltuntergang überstehen." (S. 146) |
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Unmittelbar die gleiche Irritation erfährt der Leser beim Lesen des Buches. Wäre man nicht durch den Untertitel "Roman" darauf aufmerksam gemacht worden, daß die einzelnen Kapitel in einem Zusammenhang stehen könnten und die Figuren in einer Verbindung, wäre diese Information lediglich eine einfache Feststellung und würde wahrscheinlich nicht weiter auffallen. Erst die durch den Titel geweckte Erwartung eines Zusammenhangs veranlaßt dazu, eine unter Umständen übersehene Gabelung der Geschichte zu vermuten. Die Rückverfolgung (Kapitel "4. April", auch ein gelungenes, in dem Mareike erzählt) zeigt dann aber, daß diese gar nicht existiert. Die Verbindungen, vor allem die der erzählenden Figuren zu Philippa, sind für eine zusammenhängende, größere Erzählung grundlos äußerst sparsam gesetzt. Die Spannung steigt dadurch nicht. Den Roman aber kann man paradoxerweise auch ohne die Verbindungen zu kennen, lesen, es entgeht einem dadurch nichts. Es ist dann eben doch eine Sammlung von Erzählungen, die mal mehr, mal weniger atmosphärisch dicht gelungen sind. Denn es geht ja nicht vornehmlich um Philippa, sondern um unterschiedliche Figuren aus ihrem Umkreis. Philippa stört dabei zwar nicht. Der Titel aber ist verschenkt, weil damit die Bezugsgröße zu den Einzelperspektiven fehlt. So sind es keine Perspektiven auf etwas, sondern aneinandergereihte, unterschiedliche Positionen, die sich zwar gegenseitig sichtbar machen, aber ohne das angekündigte einseitige Funktionsverhältnis: die schwarzen Streifen hat das Zebra dann nicht mehr, "damit man die weißen besser sieht"; statt dessen kontrastieren sich Schwarz und Weiß lediglich gegenseitig in einer unendlich fortsetzbaren Reihe, ohne sich an einem Punkt zu einem Zentrum zu verdichten, das Wiederholungsmoment, die schlichtere Form, 'Die Streifen des Zebras', bleibt dominant. |
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(Uta Klein) |
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