![]() |
elektronische zeitschrift für kulturen · künste · literaturen ![]() |
![]() | |
no. 24: wildwüchsige autobiographien
![]() |
resonanzen |
Wildwüchsiger Gesang vom Ich: Oswalds von Wolkenstein Lied Durch Barbarei, Arabiavon Frieder von Ammon |
Autobiographische Lyrik, mithin 'Gedichte vom Ich' -- das scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, und niemand wundert sich heute über Zeilen wie "Ich, Bertolt Brecht, bin aus den schwarzen Wäldern" (wenngleich es hier durchaus Grund zum Wundern gäbe) oder über ganze Gedichte, denen ein biographisches Ereignis aus dem Leben ihres Autors zugrundeliegt, wie etwa im Fall derjenigen Gedichte Friederike Mayröckers, in denen diese den Tod ihres Lebensgefährten Ernst Jandl zum Thema macht, oder der letzten Gedichte Robert Gernhardts oder Thomas Klings, in denen diese freimütig ein Krebsfahrerlied oder einen Gesang von der Bronchoskopie anstimmen. Besonders eng verknüpft sind Lyrik und Autobiographie im populären Verständnis von Dichtung, dem die Vorstellung zugrundeliegt, ein Gedicht müsse einen autobiographischen Kern haben, um authentisch und damit ästhetisch überzeugend zu sein. Dieses Verständnis beruht allerdings auf der Verabsolutierung eines spezifischen, unter bestimmten historischen Voraussetzungen entstandenen Typs von Gedichten. Denn tatsächlich sind solche Gedichte vom Ich ein relativ neues Phänomen, das erst mit dem Übergang von Früher Neuzeit zu Moderne im 18. Jahrhundert entstand. Eine Schlüsselrolle dabei spielte -- wie so oft -- Goethe. In seiner sogenannten Sesenheimer Lyrik aus den frühen 1770er Jahren entwickelte er einen Gedichttyp, der später 'Erlebnisgedicht' genannt und -- zumal im 19. Jahrhundert -- zum Paradigma der Lyrik überhaupt erhoben wurde: das Gedicht als Gestaltung von Erlebnissen seines Autors und daher als eine im Kern autobiographische Gattung. Daß sich diese Vorstellung bis heute gehalten hat, zeigen zum Beispiel die immer noch unternommenen Versuche, Gedichte als Quellen für die Biographie ihrer Autoren oder umgekehrt diese als Schlüssel zu jenen zu verwenden. |
|||
Die vormoderne Lyrik, ja die Literatur der Vormoderne überhaupt, ging jedoch von gänzlich anderen Prämissen aus: Sie wurde nicht als authentische Selbstaussprache eines einmaligen Autor-Subjekts verstanden, sondern im Gegenteil als Ausgestaltung in der Tradition vorgebildeter, gleichsam objektiver Ich-Rollen; zum Beispiel der literarhistorisch so ungemein wirkungsmächtigen Rolle des unglücklich liebenden Mannes mit ihren verschiedenen Ausprägungen in der römischen Elegik, in der Lyrik der Trobadors, im Minnesang und im Petrarkismus. Das in vormodernen Gedichten sich äußernde Ich ist dementsprechend eher ein exemplarisches als ein individuelles Ich, eine spezifische Sprechhaltung, die der Autor einnimmt und die daher auch nicht mit ihm verwechselt werden darf. Für eine autobiographische Lyrik im eingangs skizzierten Sinn war in der Literatur dieser Zeit somit kein Raum. |
|||
Insofern ist es ein durchaus erstaunlicher -- und unbedingt der wildwüchsigen Autobiographik zuzurechnender -- Vorgang, wenn im frühen 15. Jahrhundert der Südtiroler Adlige Oswald von Wolkenstein eine Reihe von Liedern dichtet, in denen Elemente seiner Biographie eine wichtige, ja entscheidende Rolle spielen. Die Forschung spricht hier in der Tat von 'autobiographischen Liedern' und teilt diese in weitere Subgenera ein: 'Reiselieder', 'Stadtlieder', 'Ehelieder' etc. Den Gipfelpunkt bildet das sogenannte Rückblickslied Es fuegt sich, do ich was von zehen jaren alt, in dem Oswald in nicht weniger als sieben Strophen und 112 Versen sein Leben thematisiert, und dies in offener und stellenweise durchaus drastischer Form. In diesem Lied findet sich auch die Formulierung, die man gleichsam als Motto über das Korpus der autobiographischen Lieder Oswalds stellen könnte (und die tatsächlich auch als Titel der Oswald-Biographie Dieter Kühns Verwendung fand): ich Wolkenstain -- eine Wendung, die das eingangs zitierte "Ich, Bertolt Brecht" um 500 Jahre vorwegzunehmen und diesem auch in ihrer selbstironischen Färbung in nichts nachzustehen scheint. Oswald nämlich reimt seinen Namen auf klain: ich Wolkenstain leb sicher klain vernünftiklich -- "Ich Wolkenstein leb ohne Zweifel wenig vernünftig". Doch mit Erlebnislyrik im modernen Sinn haben auch diese Lieder wenig zu tun; vielmehr überlagern sich in ihnen gegenläufige Prinzipien auf eine schwierige und schwer voneinander zu trennende Weise. Eines dieser Lieder, das sich dazu eignet, in den Kosmos der autobiographischen Lieder Oswalds einzuführen, soll im Mittelpunkt des Folgenden stehen: das Lied Durch Barbarei, Arabia -- ein geradezu exemplarisch wildwüchsiger Gesang vom Ich. |
|||
Die Problematik wird gleich in den ersten Zeilen erkennbar: |
|||
Durch Barbarei, Arabia, |
|||
(Durch Berberland, Arabien, / durch Armenien nach Persien, / durch die Tatarei nach Syrien, / durch die Romanei ins Türkenland, / Ibernien -- / die Sprünge habe ich verlernt. / Durch Preußen-, Russen-, Eifenland / nach Litauen, Livland, über die Küste / nach Dänemark, Schweden, nach Brabant, / durch Flandern, Frankreich, England / und Schottland / bin ich lang nicht gezogen. / Durch Aragon, Kastilien, / Granada und Navarra, / aus Portugal und aus Léon / bis hin zum Finstern Stern, / von der Provence bis nach Marseille --) |
|||
Zu Beginn des Liedes läßt also ein Ich (das sich in der letzten Strophe als Wolkenstain zu erkennen geben wird) in einem eindrucksvollen Länder-Katalog seine früheren Reisen Revue passieren; vom Finstern Steren -- gemeint ist wahrscheinlich Kap Finisterre -- bis nach Schweden und von Portugal bis nach Rußland, also kreuz und quer durch die bekannte Welt des Spätmittelalters. Nun sind Reisen Oswalds, der sich unter anderem als Diplomat in den Diensten König Sigmunds verdingte, in einige der von ihm genannten Länder dokumentiert: so etwa eine Gesandtschaftsreise nach Portugal und Marokko, auch eine Pilgerfahrt ins Heilige Land hat er nachweislich unternommen. Insofern handelt es sich hier tatsächlich um eine zumindest ansatzweise authentische Darstellung biographischer Erlebnisse des Diplomaten und Dichter-Sängers. Und daß Oswald sein Leben überhaupt zum Thema eines Liedes macht, ist, wie gesagt, durchaus als ein Phänomen wildwüchsiger Autobiographik anzusehen, war doch in der deutschsprachigen Liedkunst des 15. Jahrhunderts eigentlich kein Raum für dergleichen. |
|||
Andererseits folgt die Aufzählung der Länder, die Oswald bereist haben will, eindeutig literarischen Prinzipien und nicht etwa der realen Chronologie seiner Reisen. Eine besondere Rolle spielt dabei die Klanglichkeit, denn Oswald kombiniert nicht weniger als fünf verschiedene Reimformen: Stab- (Litto -- Liffen), Binnen- (Preussen -- Reussen), Mittel- (Barbarei -- Harmanei), End- (Arabia -- Persia) und überschlagenden Reim (Turkia -- Ibernia). Er evoziert also die Farben-Pracht der Fremde mit üppigen klanglichen Mitteln; seine Lust an den klanglich luxurierenden, fremdartigen Ortsbezeichnungen wird in jeder Zeile spürbar. Und auch sonst ist die Form dieses Liedes überaus kunstvoll, ja artifiziell. Den Strophen liegt nicht die in der mittelalterlichen Lieddichtung gängige Kanzonenstrophe zugrunde, sondern eine neue, bemerkenswert anspruchsvolle Strophenform: bestehend aus 30 Zeilen, die sich in zwei sechszeilige, metrisch gleichgebaute und durch Reimbindung miteinander verklammerte Abschnitte und zwei neunzeilige, ebenfalls metrisch korrespondierende, aber nicht durch Reime verbundene Abschnitte aufteilen. Die -- von Oswald selbst stammende -- Melodie folgt diesem komplexen Aufbau, ist aber nichtsdestotrotz markant-eingängig und deshalb auch leicht memorabel. Mithin ist Durch Barbarei, Arabia in formaler Hinsicht ein virtuoses, ein geradezu demonstrativ meisterhaftes Lied. Damit aber ergibt sich ein erster Widerspruch, denn wenn autobiographische Elemente in einer derart elaborierten Form dargeboten werden, wird die Authentizität dieser Darstellung per se fraglich: Kein Leben könnte einer solchen Form entsprechen. Tatsächlich ist es unsicher, ob Oswald jemals in Persien oder Schottland war; und andere Länder, die er erwiesenermaßen bereist hat, werden von ihm nicht genannt. Mithin treten das Leben Oswalds und dessen literarische Gestaltung durch ihn selbst hier von Anfang an in ein deutliches Spannungsverhältnis zueinander, ein Spannungsverhältnis, das im Lied nicht etwa kaschiert, sondern als ein solches in den Mittelpunkt gerückt, ja regelrecht ausgestellt wird. |
|||
Im zweiten Teil der ersten Strophe wird darüber hinaus erkennbar, daß die Aufzählung der Reisen einem dramaturgischen Zweck dient, nämlich der Kontrastierung mit dem Ort, an dem Oswald sich jetzt, in der Gegenwart des Liedes, aufzuhalten vorgibt. Er stellt der farbenfrohen, weiten Welt des ersten Teils nun einen unwirtlichen, von unzivilisierter Natur eng umgrenzten Raum gegenüber. In der dritten Strophe wird deutlich, daß Burg Hauenstein in Südtirol gemeint ist, wo Oswald tatsächlich seit 1407 lebte: |
|||
in Races bei Saleren, |
|||
(in Ratzes hier am Schlern, / da bleibe ich in meinem Hausstand, / widerwillig, / und lasse mein Unglück wachsen. / Auf einem schmalen, runden Kofel / umgeben von dichtem Wald, / da seh ich lauter hohe Berge, tiefe Täler, / seh Felsen, Büsche, Wurzelstöcke und Schneestangen, / unzählige und Tag für Tag. / Dabei treibt eines mich in Angst: / daß mir der Lärm der kleinen Kinder / an die Ohren dringt, / sie schon ganz durchbohrt hat.) |
|||
In der zweiten Strophe setzt Oswald diese Kontrast-Dramaturgie fort. Vor dem Hintergrund der ihm als kosmopolitischem Adligen in der Vergangenheit zuteil gewordenen Ehrungen sowie seiner damaligen Erlebnisse und Liebschaften erscheinen die jetzigen häuslichen Nöte des Familienvaters in einem um so grelleren Licht: |
|||
Wie vil mir eren ie geschach |
|||
(Was mir an Ehren je erwiesen wurde / von all den Fürsten, Königinnen / und was ich je an Freuden erlebte, / das büß ich alles ab unter einem Dach. / Meine Bedrängnis / zieht sich in die Länge. / Ich bräuchte eine Menge guter Einfälle, / seit ich ums Brot mich sorgen muß. / Und noch dazu wird mir dauernd gedroht, / und niemals tröstet mich ein rotes Mündlein. / Die früher mir gehorchten, / die lassen mich im Stich. / Wohin ich blicke, stoße ich / auf Schlacken all der Köstlichkeiten. / Statt meiner früheren Gesellschaft / seh ich nur Kälber, Geißen, Böcke, Rinder / und knorrige Leute, schwarz und häßlich / und voller Rotz im Winter. / Die muntern auf wie Sauerwein das Vieh. / Aus Angst schlag ich oft meine Kinder / und treib sie in die Ecke. / Dann kommt ihre Mutter hergebraust, / die fängt nicht schlecht zu schelten an; / wenn ich von ihrer Faust eins abbekäme, / das würde ich wohl spüren. / Sie sagt: "Was hast du da die Kinder / gerauft und zu einem Fladen gemacht!" / Vor ihrem Zorne graust mir dann, / doch ich entgeh ihm nie, / scharf und spleißend, wie er ist.) |
|||
Unverkennbar trägt auch diese Schilderung literarisch-artifizielle Züge. Oswald operiert sowohl mit Elementen aus der sogenannten Dörperlichen Dichtung -- indem er sich selbst als eine Dörper-Figur beschreibt, d.h. als einen Adligen, der sich aber unhöfisch-gewalttätig verhält -- als auch der Verbindung eines Lobs der Vergangenheit mit der Klage über die Gegenwart, wie es beispielsweise auch aus Walthers von der Vogelweide sogenannter Elegie bekannt ist. Auch die Figur der scheltenden, ihren Mann prügelnden Ehefrau kennt man aus anderen mittelalterlichen Texten. Oswald kombiniert also verschiedene, für seine Zeitgenossen leicht erkennbare literarische Topoi und modelliert die Darstellung seines Lebens nach ihrem Vorbild. Autobiographische Authentizität wird damit noch unwahrscheinlicher. |
|||
In der dritten Strophe klagt Oswald -- dabei durchaus die der Szenerie innewohnende Komik auskostend -- über das unhöfische Hauenstein sowie seine gesellschaftliche und politische Isolation: |
|||
Mein kurzweil die ist manger lai, |
|||
(Meine Unterhaltung ist recht abwechslungsreich: / nur Eselgesang und Pfauengeschrei -- / kein bißchen mehr würd ich mir davon wünschen. / Der Bach rauscht mir mit Hurlahei / den Kopf kaputt, / daß er ganz matt und krank wird. / So trag ich meine ganz besondre Last. / Von Tagessorgen, schlechten Nachrichten / ist Hauenstein kaum je verschont. / Könnt ich dem einfach eine Wendung geben, / oder tät's ein andrer, / ich wär ihm ewig dankbar. / Mein Landesfürst ist böse auf mich, / weil schlechte Leute mich nicht leiden können. / Meine Dienste sind ihm unwillkommen, / das schädigt und das schmerzt mich, / da mir doch sonst bei meinem heiligen Eid / kein Fürstenhaus / je an Besitz, Leib, Ehre, gutem Ruf / etwas zuleide tat / in seinem kostbar strahlenden Fürstenglanz. / Die Freunde hassen mich, der eine wie der andere, / ganz ohne Grund, das macht mich alt.) |
|||
Oswald nimmt hier Bezug auf die Situation, in der er sich zur Entstehungszeit dieses Liedes (zwischen 1424 und 1427) nachweislich befand: Er war in ernsthafte Streitigkeiten mit seinem Landesfürsten Herzog Heinrich IV. von Österreich verwickelt, der ihn 1421 sogar gefangengenommen hatte; seit 1425 unterstützte ihn in dieser Angelegenheit auch König Sigmund nicht mehr. Insofern ist diese Schilderung durchaus autobiographisch. Auf der anderen Seite ist ihr apologetischer Unterton kaum zu überhören: Oswald stilisiert sich zu einem an schuld, einem schuldlos in Mißkredit Geratenen, obwohl er in Wahrheit natürlich sehr wohl eine Mitschuld trug. Insofern wäre der Abschnitt mit Auto-Apologie treffender bezeichnet als mit Auto-Biographie. Die apologetische Selbststilisierung Oswalds gipfelt im letzten Abschnitt, in dem er sich namentlich nennt, und zwar den armen Wolkenstain: |
|||
das klag ich aller welt gemain, |
|||
(Ich klage es der ganzen Welt, / den Anständigen und den Weisen / und vielen großen, edlen Fürsten, / die sich doch gerne rühmen lassen, / daß sie mich armen Wolkensteiner / die Wölfe nicht zerzausen lassen / und ganz vertreiben.) |
|||
Aber wie ist dieses Lied nun zu verstehen? Läßt sich das Spannungsverhältnis von Leben und Literatur auflösen -- und wenn ja, wie? Ist Durch Barbarei, Arabia tatsächlich -- wie Dieter Kühn schrieb -- als ein "S.O.S. von Hauenstein" aufzufassen, oder -- mit den Worten Thomas Cramers -- als eines der "dichtesten und genauesten Auto-Psychogramme der deutschen mittelalterlichen Literatur"? |
|||
|
Hierauf eine eindeutige Antwort zu geben, ist unmöglich; zu sehr sind die Ebenen ineinander verschränkt. Insgesamt wird man im Fall von Durch Barbarei, Arabia aber vorsichtig sein und eher als von einem authentisch-autobiographischen von einem artifiziell-artistischen Lied sprechen müssen, in dem autobiographische Elemente -- und zwar in hochgradig stilisierter Form -- eine große Rolle spielen. Andererseits würde diesem Lied eine den autobiographischen Elementen jedwede Authentizität absprechende Deutung auch nicht gerecht, denn bei einigen Angaben Oswalds über sein Leben handelt es sich ja keineswegs 'nur' um Literatur. Zudem sind Autobiographismen der beschriebenen Art in Oswalds Oeuvre ja kein Einzelfall, sondern eine Tendenz. Diese kommt auch in der Tatsache zum Ausdruck, daß er seine autobiographischen Lieder in die beiden von ihm selbst in Auftrag gegebenen Sammelhandschriften seiner Lieder aufnahm, daß er sie also, wie auch andere Dokumente seines Lebens (Briefe, Urkunden usw.), für deren Überlieferung er ebenfalls sorgte, für die Nachwelt bewahrt wissen wollte. Die autobiographischen Lieder sollten einen Beitrag zu dem Wissen späterer Generationen um das Leben der vielschichtigen Persönlichkeit Oswald von Wolkenstein leisten, und sie haben diese Funktion auch erfüllt: Nicht zufällig war es das Lied Durch Barbarei, Arabia, das Dieter Kühn zu seiner Beschäftigung mit Oswalds Biographie angeregt hat. Oswalds Sammelhandschriften erinnern außerdem insofern an ihn als Individuum, als beiden ein Porträt Oswalds vorangestellt ist, das -- anders als noch die Minnesänger-Miniaturen der Manessischen Liederhandschrift -- den Autor eher realistisch als stilisiert wiedergibt. Dies gilt vor allem für das berühmte, wohl von dem Maler Pisanello angefertigte Porträt, das entstanden sein dürfte, als Oswald sich im Jahr 1432 in Italien aufhielt (Abb. 1). Dieses Porträt Oswalds gilt sogar als das erste authentische Autoren-Porträt der deutschen Literaturgeschichte überhaupt. Mithin manifestiert sich auch hierin die Tendenz weg von mittelalterlicher Rollenhaftigkeit hin zu einem frühneuzeitlichen Individualitäts-Bewußtsein. |
||
Wie wenig Oswald damit allerdings dem Zeitgeist entsprach, geht aus der handschriftlichen Überlieferung seiner Lieder außerhalb der auf seine Initiative hin angefertigten Handschriften hervor. Von den Zeitgenossen abgeschrieben wurden nämlich diejenigen Lieder, in denen er die populären Themen und Formen seiner Zeit aufgriff und gerade nicht die mit autobiographischer Thematik; diese sind nur durch Oswald selbst überliefert worden. Daß diese heute wiederum die einzigen seiner Lieder sind, die einem breiteren Publikum bekannt sind, zeigt, wie sehr sich der Stellenwert des Autobiographischen in der Lyrik seither verändert hat. Was zu Beginn des 15. Jahrhunderts exzeptionell war, ist heute eine Selbstverständlichkeit; was einst wildwüchsig war, ist in der Zwischenzeit in den Bereich gepflegter Autobiographik übergegangen. |
|||
|
|||
(Die Wiedergabe des Textes und dessen Übertragung folgen der Ausgabe Oswald von Wolkenstein: Lieder. Frühneuhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Ausgewählte Texte herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Burghart Wachinger. Melodien und Tonsätze herausgegeben und kommentiert von Horst Brunner. Stuttgart 2007. S. 196-203. Die Veröffentlichung der Übertragung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Reclam Verlags. Das Porträt Oswalds von Wolkenstein entstammt der Liederhandschrift B der Universitätsbibliothek Innsbruck (o. Sign., fol. lv), mit freundlicher Genehmigung.) |
|||
autoreninfo
Dr. Frieder von Ammon, studierte Neuere deutsche Literatur, Musikwissenschaft und Komparatistik in München und Portland, Oregon. Promotion 2004 mit der Arbeit Ungastliche Gaben. Die 'Xenien' Goethes und Schillers und ihre literarische Rezeption von 1796 bis in die Gegenwart. 2004-2007 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Münchner Sonderforschunsgbereich 573 (Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit). Seit 2008 wissenschaftlicher Assistent am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literatur von Prof. Dr. Friedrich Vollhardt an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Forschungsschwerpunkte: Lyrik, Paratextualität, Literatur und Musik, Satire und Weimarer Klassik. Mitherausgeber der Münchner Reden zur Poesie.
Homepage: http://www.friedrichvollhardt.de/ E-Mail: frieder.vonammon@gmx.net |
|||
[ druckbares: HTML-Datei (22 kBytes) | PDF-Datei (111 kBytes) ] |