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no. 16: driften
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WegdriftenEin Verschwinden in sieben Bildern |
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von Jutta-Maria Nieswand |
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"Ach, ich hab auch schon Alzheimer." Ein Spruch, den manch einer von sich gibt, wenn er etwas vergessen oder verlegt hat. Doch wie sich diese Krankheit entwickelt, wissen immer noch die wenigsten. Dabei ist sie im Vormarsch. In Deutschland sind nach Schätzungen 800 000 Menschen derzeit an Alzheimer erkrankt. Tendenz steigend angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung. |
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Eins | ||||
Sie kommt nach Hause, und er fragt: "Wo bist du so lange gewesen?" -- Sie schaut ihn erstaunt an: "Wieso? Ich hab dir doch gesagt, daß es heute abend später werden könnte, weil ich noch was für meinen Chef machen muß." -- "Nein, das hast du nicht gesagt", erwidert er fast etwas trotzig. Sie ist irritiert, weiß nicht so recht, was sie davon halten soll: "Aber klar, heut morgen hab ich dir das gesagt. Ich weiß doch noch, was ich sage." Ihre Stimme ist energisch, etwas zu laut für ihn. Er murmelt vor sich hin: "Und ich weiß doch noch, was ich höre." Sie kann nicht glauben, was er sagt, denn sie fühlt sich absolut im Recht und herrscht ihn an: "Also, das gibt's doch wohl nicht. Ich komme nach einem langen Arbeitstag nach Hause und muß mir sowas anhören." Eigentlich ist er sich ziemlich sicher, daß sie ihm verschwiegen hat, daß es später werden könnte, aber er weicht aus: "Du hättest ja auch anrufen können, daß du später nach Hause kommst." Jetzt ist sie nur noch wütend: "Aber ich hab's dir doch heute morgen gesagt. Wenn du mir nicht zuhörst, wenn ich dir was sage, dann kann ich dir auch nicht helfen. Und jetzt laß mich in Ruhe. Ich muß erstmal was essen. Ich bin total ausgehungert." Er schweigt betrübt, fühlt sich ungerecht behandelt, aber irgendwie fehlen ihm die Worte. Ihr Aufbrausen macht es ihm auch nicht leichter. Und es gibt keine Zeugen, die man fragen könnte. Während sie in der Küche hantiert, sitzt er stumpf auf seinem Sessel im Wohnzimmer. "Das ist kein Leben mehr so", murmelt er vor sich hin, denn es ist nicht der erste Streit dieser Art. In letzter Zeit häufen sich die Mißverständnisse und belasten ihn. Er hört sie Teller knallen und das Besteck, als müßte sie ihren Zorn abreagieren und den Streß auf der Arbeit. Als sie zum Essen ins Wohnzimmer kommt, hat sie sich etwas beruhigt. "Tut mir leid", sagt sie. "Vielleicht hast du's ja einfach nur vergessen." Er läßt es so stehen. |
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Zwei | ||||
"Wie heißen Sie denn?" Er lächelt verlegen. Der fremde Mann hat ihm ein Frage gestellt, die er nicht beantworten kann. "Tut mir leid. Das weiß ich nicht." Und er weiß auch nicht, wer die Frau ist, die neben ihm sitzt. Na klar, irgendwie schon, aber ihren Namen? "Welche Jahreszeit haben wir denn jetzt?" Er schaut leicht verwirrt, immer noch freundlich. Es scheint ihn gar nicht mal zu ärgern, daß er mit den Worten, die ihm angeboten werden, nichts anzufangen weiß -- Frühling, Sommer, Herbst, Winter. Er versucht zu raten: "Winter?" Hilfe suchend schaut er nach der Frau neben ihm. Doch sie sagt nichts, lächelt nur freundlich. Vielleicht stimmt es ja, was er gesagt hat, aber er ist sich nicht sicher. Der fremde Mann hört nicht auf zu fragen: "Wie heißt der Ort, in dem Sie hier wohnen?" Er versucht: "Münster." Und scheint nicht mehr zu wissen, daß er von dort vor rund 20 Jahren weggezogen ist. "Wo sind Sie denn geboren?" Er muß wieder passen, zuckt mit den Schultern. "Und was sind Sie von Beruf?" kommt schon die nächste Frage. "Das hab ich vergessen", meint er nach einer Pause zaghaft. Vielleicht ist es ihm peinlich, er sagt es nicht. "Wie alt sind Sie?" Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, als überlege er. Doch dann entschuldigt er sich wieder, er kann sich nicht erinnern. Er versucht ein Lächeln, ganz vorsichtig. Doch das kann auch nicht über diese große Leere hinwegtäuschen. Die Fragen reißen nicht ab, bis er sich traut zu sagen: "Ach quälen Sie mich doch nicht länger." Er weiß ja auch gar nicht, warum dieser Mann das alles von ihm wissen will. Der zeigt auf einmal Verständnis, stellt ihm keine Fragen mehr, scheint genug erfahren zu haben. Er ist erleichtert. Noch ein paar Fragen gehen an die Frau, die neben ihm sitzt, aber er muß sich nicht mehr anstrengen. |
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Drei | ||||
"Jetzt heb doch mal deine Arme", sagt sie. Er schaut sie groß an, weiß nicht, was er tun soll, spürt nur, daß sie genervt ist. Ihre Ungeduld überträgt sich auf ihn. Er steht vom Hocker auf. "Was machst du denn da", fährt sie ihn an. "So kann ich dir das Hemd nicht ausziehen." Er zuckt zusammen, protestiert: "Ach laß mich!" Er ist sehr empfindlich geworden. Laute Stimmen tun seinen Ohren weh. Sie atmet tief durch, versucht es in einer ruhigeren Tonlage: "So geht das doch nicht. Komm, setz dich bitte wieder hin." Sie drückt ihn sanft auf den Hocker. Sie tritt von hinten an ihn heran, hebt seine beiden Armen nach oben, und er läßt sie auch dort, während sie ihm das Hemd über den Kopf auszieht. Er senkt danach von selbst seine Arme. So bleibt er mit nacktem Oberkörper sitzen, bis sie mit der Pyjamajacke kommt. Sie hält ihm einen Ärmel hin, daß er den Arm hineinstecken kann. Er versteht die Geste nicht. Sie sagt: "Gib mir deinen rechten Arm." Er reagiert nicht. Sie geht in die Hocke und schiebt den Ärmel über den Arm nach oben. Beim linken Arm sagt sie nichts. Irgendwie schafft sie es auch hier, den Ärmel am Arm hochzuziehen. Er wehrt sich auch nicht, verläßt sich offenbar darauf, daß sie schon weiß, was sie tut, daß es schon richtig so ist. Nachdem sie ihm die Jacke zugeknöpft hat, fragt sie ihn: "Magst du noch etwas trinken?" Er nickt, nimmt auch das Glas Wasser in die Hand, hält es dann aber fest, trinkt nicht. "Trink doch mal", fordert sie ihn auf. Als er nicht reagiert, sie nur anschaut, nimmt sie sich selbst ein Glas Wasser und sagt: "Schau mal, so!" Sie macht es ihm vor, und er tut es ihr nach. |
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Vier | ||||
Seine Schritte bringen ihn nur noch langsam voran, so dicht setzt er seine Füße voreinander. Sie hält ihn am Arm, fordert ihn auf: "Mach doch mal ein paar größere Schritte." Sie macht es ihm vor: "Sooo!" Er ahmt sie nach -- für drei, vier Schritte. Dann werden seine Schritte wieder ganz klein. So trippelt er an ihrem Arm über den Gehweg. Die körperliche Nähe tut ihm gut. Er mag es, in den Arm genommen zu werden, hält dann auch fest. Küßchen hier und Küßchen da. So ganz anders als früher, wenn oft nur seine Augen seine Gefühle zu verraten schienen und sein Körper sich lieber auf Abstand hielt. Auf einer Bank machen sie Rast, das Gehen strengt ihn an. Sitzend betrachtet er die vorbeigehenden Menschen. Ein kleines Mädchen spielt mit einem Ball. Er starrt unverhohlen zu ihm hin, offenbar fasziniert ihn der springende Ball. Oder ist es das Lachen des Kindes? Nur ein paar Meter entfernt, spielt ein Mann Akkordeon. Er kennt die Melodie, summt leise mit. Mit einem Mal schaut er sich zu ihr um und meint ganz verschämt: 'Bin etwas...', er überlegt: '...heiser.' Das macht doch nichts", sagt sie. "Klingt doch gut." Er lächelt, fast dankbar, summt noch etwas weiter, verstummt dann wieder und starrt vor sich hin, bis sie aufstehen, um weiterzugehen. Sie wirft dem Akkordeonspieler eine Münze in den Hut. Der nickt dankend und schaut den beiden nach, wie sie am Geländer stehenbleiben und auf die vorbeifahrenden Schiffe schauen. Schließlich gehen die beiden ganz langsam weiter, als hätten sie ein gemeinsames Ziel. Doch am Ende dieses Spaziergangs steht das Krankenhaus, wo er bald schon wieder alleine auf dem Flur hin- und hertrippeln wird. |
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Fünf | ||||
Abrupt steht er aus dem Rollstuhl auf, bleibt stehen, den Strohhalm noch im Mund. Die Kaffeetropfen landen auf der Tischdecke, hinterlassen kleine braune Flecken auf dem Weiß. "Bleib doch sitzen", ruft sie aus, selbst etwas erschrocken. Sie steht auf, nimmt ihm den Strohhalm aus dem Mund, versucht, ihn in den Rollstuhl zurückzudrücken. Doch er bleibt erst mal stehen. Sie weiß, daß die Leute im Café sich nach ihm umgedreht haben. Sie bemüht sich, sie zu ignorieren. Er nimmt die Blicke schon nicht mehr wahr, ist viel zu beschäftigt mit Essen und Trinken und seinem Drang, sich zu bewegen. Doch selbst Trippelschritte wollen ihm nicht mehr gelingen. Nur im Rollstuhl kommt er mit ihrer Hilfe in die Stadt. Doch manchmal gibt es offensichtlich noch den Wunsch, es noch mal mit Schritten zu versuchen. Als wäre da eine Erinnerung. Dann steht er ruckartig auf, wie jetzt, und bleibt erst mal stehen, versucht sogar einen Schritt nach vorne, bleibt aber doch stecken. "Bitte setz dich wieder hin", sagt sie, versucht es wieder, ihn in den Rollstuhl zu setzen. Für eine Augenblick noch widersteht er ihrem leichten Druck, gibt einen ärgerlichen Laut von sich, dann läßt er sich wieder zurückfallen. Aus Worten sind Töne geworden, mit denen er versucht, sich verständlich zu machen. Dankbar nimmt er nun ein Stück Kuchen entgegen, das sie ihm auf der Gabel in den Mund schiebt. Er kaut und schluckt, wartet auf den nächsten Happen. "Jetzt mußt du aber nochmal was trinken", sagt sie, stellt den Strohhalm in den lauwarmen Kaffee und hilft ihm dabei, ein Ende des Halmes in den Mund zu nehmen. Doch irgend etwas stimmt nicht. Sie merkt schnell, was es ist: "Nicht pusten! Ziehen! Du mußt ziehen!" Er versteht nicht. Sie macht es ihm vor, saugt an dem Halm und trinkt so selbst einen Schluck. Dann wieder ist er dran, es zu versuchen, und es gelingt ihm, den Kaffee durch den Strohhalm zu trinken. In kleinen Schlucken. Für diesen Moment weiß er wieder, wie es geht, wie dieser kleine Teil der Welt funktioniert. |
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Sechs | ||||
Er liegt im Bett. Die Arme sind angewinkelt, die Beine auch. Er starrt zur Decke, schaut ins Leere, als sie den Raum betritt. "Hallo!", begrüßt sie ihn. "Wie geht es dir?" Sie nimmt ihn in den Arm. Er macht die Augen dabei zu, genießt offensichtlich die körperliche Nähe. Die Umarmung kann er nicht mehr erwidern, denn seine Glieder sind steif geworden. Weder Arme noch Beine kann er selbständig bewegen. Sein Mund ist leicht geöffnet. Sein Gebiß trägt er nicht mehr. Es läßt sich im Mund nicht mehr fixieren. Das Essen steht schon bereit für ihn, alles püriert. Er muß nur noch schlucken. Sie kostet für ihn mit einem Löffel vor, wie es schmeckt und ob es noch warm ist. Auf dem Teller türmen sich zwei Häufchen. Das Gelbe ist offensichtlich Kartoffelbrei, das Weißliche daneben Blumenkohl. Das Ganze ist mit brauner Soße übergossen. Nur eine Löffelspitze nimmt sie von dem Kartoffelbrei mit etwas Soße. Sein Mund ist jetzt geschlossen. Sie hebt den Löffel zu ihm hin. Sein Mund öffnet sich nur kurz. Es bleibt nicht viel Zeit, den Löffel hinein zu schieben. Doch sie schafft es. Jetzt muß sie warten, bis er geschluckt hat, bevor sie den nächsten Versuch starten kann. Löffelspitze um Löffelspitze füttert sie ihn. Nur nicht zuviel auf einmal, damit er sich nicht verschluckt, anfängt zu husten. Ganz langsam geht es voran. Der Mund öffnet sich mal, mal bleibt er zu. Dann macht sie eine Pause, erzählt ihm, was sie heute so gemacht hat. Eine Stunde brauchen sie wieder miteinander. Hin und wieder rinnt Soße aus den Mundwinkeln. Manchmal trifft sie auch nicht den Mund, bleibt hängen an seinen Lippen, seinem Kinn, das sich verschmiert mit dieser Mischung aus Kartoffelbrei, Blumenkohl und Soße. Immer wieder wischt sie seinen Mund mit einem Tuch ab. "Schmeckt dir das?" fragt sie ihn. "Mmmmh!" ist seine Antwort, als hätte er die Frage verstanden. Eine Schnabeltasse füllt sie mit Tee, den sie abschmeckt, um die Temperatur zu testen, bevor sie ihm die Flüssigkeit Schluck für Schluck gibt. Trinken ist wichtig.-- Mit einem Mal scheint er satt, denn er öffnet den Mund nicht mehr. Doch als sie aufhört, kommt nach einer Pause ein energisches "Ääääh...!" aus seinem Mund.. "Ja, ja", sagt sie. Also doch noch etwas, vielleicht etwas Nachtisch. Sie versucht es mit dem Fruchtquark im Silberschälchen. Er öffnet wieder den Mund, schluckt und zieht seine linke Augenbraue hoch, als wollte er sagen: "Na also, geht doch." Doch das sind ihre Worte, nicht seine. |
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Sieben | ||||
Sein Mund ist leicht geöffnet. Unverändert seit Stunden, seit Tagen. Eine Kiefersperre verhindert jedes Schlucken. Essen und Trinken sind nicht mehr möglich, nur noch Infusionen. Über eine Magensonde, könnte er noch weiter ernährt werden. Dazu wäre eine Operation notwendig. Er kann nicht mehr ausdrücken, ob er so ernährt werden möchte. Einen Herzschrittmacher hat er vor Jahren abgelehnt. Lebensverlängernde Maßnahmen scheint er nicht gewollt zu haben. Doch fragen kann man ihn jetzt nicht mehr. Vielleicht hätte er auch wieder nur gesagt: "Das ist kein Leben mehr so!" Der letzte Genuß seines Lebens -- das Schmecken von Essen und Trinken -- ist nun auch nicht mehr da. Was bleibt, sind Worte von Menschen, die ihn lieben oder auch einfach nur pflegen. Für ihn sind es vielleicht nur noch Laute, deren Klang ihm etwas von der Stimmung mitteilen, in der die mit ihm sprechende Person sich gerade befindet. Und dann sind da noch die Berührungen: das Streichen über seinen Kopf, die Umarmung seines Oberkörpers oder ein Kuß auf seine Wange. Er verschwindet immer mehr -- nun schon seit Jahren. Er ist abgemagert bis auf Haut und Knochen -- trotz all des stundenlangen Fütterns. Doch noch ist Atem in ihm -- tief und regelmäßig, hin und wieder rasselnd, manchmal auch kurz unterbrochen, als halte er die Luft an. Husten muß er inzwischen kaum noch. Nun, da keine Nahrung und keine Getränke mehr durch seinen Mund gelangen, er sich nicht mehr verschlucken kann, ist dort alles ausgetrocknet. Das einzige, was sie für ihn noch tun kann, ist, die Mundhöhle mit einem feuchten Tupfer zu benetzen. Seine offenen Augen blicken wie ins Nichts, durch sie hindurch, fixieren nicht mehr. Sie erzählt ihm aus seiner Vergangenheit. Alte Geschichten leben in dem Raum auf, in dem er liegt. Vielleicht sind die Worte ja Musik für seine Ohren. Vielleicht versteht er auch das eine oder andere. Als das Herz mit einem Mal stehenbleibt und der Atem aus ihm entweicht, ist er alleine. Kein Laut dringt mehr aus seinem Körper, als die Krankenschwester nach ihm schaut. Nichts regt sich mehr. Er ist nicht mehr in dieser Welt. Wer ihn hat wegdriften sehen, hat gespürt, wie er Stück um Stück verrückt ist -- in eine andere Welt. |
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Die Krankheit tritt häufig im Alter auf. In den westlichen Ländern sind fünf Prozent der Bevölkerung über 65 Jahren und 20 Prozent der Bevölkerung über 80 Jahren betroffen. Alzheimer ist eine Form von Demenz. Gemeint ist damit der Verlust von intellektuellen und kognitiven Hirnfunktionen. Gedächtnis- und Orientierungsstörungen sowie Störungen des Denk- und Urteilsvermögens treten auf, die die Bewältigung eines normalen Alltagslebens immer schwieriger machen. Die betroffenen Menschen sind zunehmend auf Hilfe angewiesen. Im Endstadium sind sie vollkommen pflegebedürftig. |
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