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no. 18: die jüngste epoche -> die evolutionäre funktion von poesie
 

Kultur als biologische Adaptation

Ein Gespräch mit Karl Eibl über die evolutionäre Funktion von Sprache und Poesie

von Christoph Bock / Katja Mellmann

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* diskussion

Soziobiologie und evolutionäre Psychologie eröffnen neue Chancen der Zusammenarbeit von Geistes- und Naturwissenschaften. Fragen hierzu beantwortet Karl Eibl mit besonderem Rekurs auf die evolutionäre Funktion von Poesie. Zur Sprache kommen Aspekte wie menschliches Verhalten als biokulturelle Interaktion, die evolutionären Folgen von Moral und Sprache, die Kopplung von Poesie und Lust, menschliches Spielverhalten, interdisziplinäre Forschung und die Behandlung naturwissenschaftlicher Themen im Feuilleton.

 

Anlaß für das Gespräch mit Karl Eibl, Professor für neuere deutsche Literaturwissenschaft in München, ist sein im März 2004 im Mentis-Verlag (Paderborn) erscheinendes Buch Animal Poeta. Bausteine der biologischen Kultur- und Literaturtheorie. Der Literaturwissenschaftler unternimmt mit diesem Werk nicht zum ersten Mal den Versuch, anthropologische Annahmen der modernen Naturwissenschaften für die literaturwissenschaftliche Theoriebildung nutzbar zu machen. Während seine früheren Studien sich jedoch vornehmlich auf die Evolutionäre Erkenntnistheorie (Konrad Lorenz, Karl Popper, Gerhard Vollmer) und die Humanethologie (Irenäus Eibl-Eibesfeldt) stützten, ist die Basis von Animal Poeta nun erweitert um die neuen Forschungsparadigmen der Soziobiologie (William Hamilton, Edward O. Wilson) und der Evolutionären Psychologie (besonders Leda Cosmides und John Tooby). Animal Poeta hat Manifestcharakter, denn es bildet zugleich den ersten Band einer neuen Reihe mit dem Titel Poetogenesis. Studien und Texte zur empirischen Anthropologie, herausgegeben von Karl Eibl, Manfred Engel und Rüdiger Zymner. Grund genug für parapluie, einmal nachzufragen, was es mit diesem neuen Versuch einer Vermittlung von Geistes- und Naturwissenschaften auf sich hat.

Kurz zum Inhalt des Buches: Zunächst wird eine kritische Einführung in die beiden wichtigsten neueren Entwicklungen der Verhaltensbiologie, die Soziobiologie und die Evolutionäre Psychologie, gegeben. Auf dieser Basis werden dann die drei zentralen Thesen der Studie entwickelt: Erstens nimmt Eibl an, daß die hohe Flexibilität des menschlichen Verhaltens an dem prinzipiellen Zusammenwirken von genetischen Dispositionen und kultureller Umwelt liegt. Die 'Triebe' oder 'Instinkte' des Menschen reformuliert Eibl in Anlehnung an Ernst Mayr als 'offene Programme', die mittels spezifischer Suchimpulse kulturelle Informationen zu integrieren vermögen. Zweitens rekonstruiert Eibl für die Entwicklung der menschlichen Sprache eine Ausdifferenzierung des Sachbezugs aus der ursprünglich 'trifunktionalen' Protosprache und legt dar, wie diese Leistung der sprachlichen Vergegenständlichung von Lebensumständen die Grundlage für den take off-Effekt der menschlichen Kulturentwicklung bildet. Eibls dritte Hauptthese präsentiert eine überraschend direkte Anwendung der biologischen Evolutionstheorie auf Kultur und Kunst: Im Unterschied zu gängigen Sichtweisen naturwissenschaftlicher Provenienz (zum Beispiel Steven Pinker) faßt er Kunst und Dichtung nicht als kulturelle Nebenprodukte der Evolution des homo sapiens, sondern als eigenständigen Evolutionsfaktor auf. Sein Argument dafür lautet, daß Kunstverhalten in hohem Maße Lust produziert, d.h. Verhaltensprogramme involviert, die an das endokrine Belohnungssystem im menschlichen Gehirn gekoppelt sind. Eine 'Kultur der Lust' wirkt in hohem Maße streßreduzierend und bildet folglich einen klaren Überlebens- und Fortpflanzungsvorteil des animal poeta.

parapluie: Herr Eibl, Angebote zu an sich ja wünschenswertem Gedankenaustausch zwischen Geistes- und Naturwissenschaften, so sagen Sie, würden bisher fast ausschließlich durch Naturwissenschaftler unterbreitet. Insbesondere prominente amerikanische Forschergruppen zeigten dabei oft eine so selbstbewußte Art, daß nahezu die Existenzberechtigung der Geisteswissenschaften auf dem Spiel stehe. Die Geisteswissenschaften hingegen verhielten sich, wenn sie naturwissenschaftliche Annäherung an ihre Fragestellungen überhaupt zur Kenntnis nehmen, gegenüber solchen Offerten meist scheu. So verfehlten beide einander, aus unterschiedlichen Interessenlagen heraus, einer defensiven und einer offensiven. Mit Ihrem in Kürze erscheinenden Buch Animal poeta nehmen Sie sich der Aufgabe an, aktuelle naturwissenschaftliche, d.h. vor allem biologische Ansätze von geisteswissenschaftlicher Warte aus auf ihre Fruchtbarkeit hin zu prüfen und weiterzudenken ...

Karl Eibl: Das mit der "geisteswissenschaftlichen Warte" ist eben das Problem. Das heißt ja: Der Geisteswissenschaftler sitzt irgendwo oben und von da aus beurteilt er das, was das einfache Wissenschaftlervolk so tut. Nein, ich möchte etwas von den Biologen erfahren, und dafür muß man von der Warte runter und sich bewegen. Allerdings hat sich auch die Biologie bewegt. Die Forschungsrichtung, von der ich am meisten gelernt habe, ist die Evolutionäre Psychologie. Sie ist eine Art Erbin der Soziobiologie. Sie erschöpft sich aber nicht in der Suche nach Parallelen zwischen tierischem und menschlichem Verhalten, sondern sie stellt die psychische Grundausstattung des Menschen, die 'menschliche Natur', in den Mittelpunkt.

Wenn man die Homepage der Deutschen Forschungsgesellschaft besucht, so kann man dort eine Einteilung der zu fördernden Disziplinen in u.a. die Geistes- und Sozialwissenschaften und die so genannten Lebenswissenschaften vorfinden. Erscheint Ihnen vor dem Hintergrund der Arbeit an Ihrem Buch eine solche Unterteilung sinnvoll? Wie steht es um die nun vielerorts anzutreffende Bezeichnung 'Kulturwissenschaften' als Ersatz für 'Geisteswissenschaften'?

Daß die Biologen sich nun als Lebenswissenschaftler ausrufen und damit einen völlig überdimensionierten Gegenstandsbereich beanspruchen, ist eine verständliche Retourkutsche. Wir hatten es ja als Geisteswissenschaftler nicht viel anders gemacht. Jetzt heißt unser Ding Kulturwissenschaft, nun gut, präziser ist es damit nicht geworden. -- Natürlich braucht man solche Schubladen für eine leidlich funktionierende Verwaltung. Aber ich habe den Eindruck, daß die Schubladen gelegentlich einen ontologischen Status bekommen, und das ist der Tod der Wissenschaft. Karl Popper meinte, Wissenschaften bestünden aus Traditionen und Problemen, und die Probleme liegen eben zumeist da, wo die Traditionen noch nicht hingekommen sind, also in den Grenzbereichen.

Eine Grundthese Ihres Buches ist, daß menschliches Verhalten weder ausschließlich kulturell bestimmt sei, noch einseitig biologisch determiniert. Problematisch seien deshalb Konzeptionen, die Kultur und Natur prinzipiell in ein antagonistisches Verhältnis setzen, so daß diese Unterscheidung etwa auf diejenige von Ratio und Gefühl oder auch auf Altruismus und Hedonismus abgebildet wird. Sie schlagen statt dessen ein Modell wechselseitiger Selektion von biologischen und kulturellen Möglichkeiten menschlichen Verhaltens vor. Zentral ist dabei Ernst Mayrs Begriff des offenen Programms. Wie hat man sich diesen sozusagen aus zwei gleichermaßen variablen Komponenten konstituierten Vorgang genau vorzustellen?

Unter den aufgeklärteren Vertretern der beiden Seiten hat sich die Auffassung durchgesetzt, daß das Verhalten der Menschen sich einer biokulturellen Interaktion verdankt. Ich will das noch etwas näher präzisieren (denn Interaktion kann ja sehr vieles bedeuten). Ich meine, daß die meisten kulturell relevanten biologischen Programme sich dadurch auszeichnen, daß sie Suchroutinen enthalten, die sich auf Kultur richten. Wir werden sozusagen geboren mit vielen kleinen Imperativen vom Typus: "Sei aufmerksam auf dieses, suche jenes!" Das ist natürlich etwas ganz anderes als die Reaktionsweise von Lurchen. Es gibt unserem Verhalten eine ganz andere Elastizität. Man kann es sich im Vergleich mit den Ameisen verdeutlichen, die ja zu den beliebtesten Beispieltieren der Soziobiologen gehörten. Auch die Ameisen sind fast über die ganze Erde verbreitet, aber dazu braucht es 12 000 hochspezialisierte Arten. Im Gegensatz dazu braucht der Homo sapiens nur eine einzige Art, um sowohl am Äquator als auch in der Arktis, in der Kalahari oder in New York zu leben. Möglich ist das nur, weil wir die Anlage zu sehr vielen Verhaltensweisen in uns tragen. (Das ist, nebenbei bemerkt, eine Alternative zur Gehlenschen "Mängelwesen"-These. Wenn man schon quantifizieren will, dann sind wir nicht Mängelwesen, sondern Überschußwesen.) Es ist dann bei all unseren Handlungen immer die Frage, welcher unserer Neigungen wir folgen sollen. Ich will es an einem undramatischen Beispiel verdeutlichen: Wir haben die Neigung (den 'Trieb'), uns mit dem Rücken zur Wand zu setzen. Was tut man, wenn man in eine Gaststätte kommt, in der alle derartigen Plätze schon besetzt sind? Man wird sich vielleicht ohnedies lieber an einen Tisch mit anmutigen Mädchen oder Knaben setzen. Auch damit folgt man einer 'natürlichen' Neigung. Ebenso wenn man jenen Mädchen zu imponieren versucht, indem man sich einen Platz an der Wand freiprügelt. Oder wenn man einen Platz sucht, an dem es nicht zieht. Oder wenn man auf jeden Fall versucht, unnötigen Ärger zu vermeiden. So haben wir immer eine ganze Reihe von Handlungsoptionen. Die Auswahl ist dann eine Frage der kulturellen Situation, die freilich auch meistens mehrere Handlungsoptionen offen läßt. Keine ganz einfache Situation also. Unter anderem deshalb brauchen wir die lange Lernphase, in der wir typisierte Verhaltensweisen entwickeln, die uns das dauernde Grübeln ersparen. Nur in atypischen, d.h. in Krisensituationen wird uns die Optionenfülle bewußt. Oder in der Literatur, in der atypische Situationen simuliert werden.

Sie versuchen, auch in die 'Reihenfolge' der einzelnen Schritte in der Evolution des Homo sapiens etwas Licht zu bringen. Die Entwicklung der Familie und der Sprache sind dabei wichtige Etappen. Können Sie etwas zum Stellenwert dieser beiden Entwicklungen sagen?

Ein Wesen mit einem so großen Verhaltenspotential braucht neben der genetischen Verhaltensprogrammierung dringend auch eine kulturelle. Andernfalls wäre gerade eine der herausragenden Fähigkeiten, die zu kooperativer Problemlösung, kaum denkbar. Ich verwende einen altmodischen Begriff: Der Mensch braucht Moral, um sich selbst und seinen Mitmenschen berechenbar zu sein. Und an die Moral kann sich dann auch vielfältiges Wissen anlagern. In alten Zeiten war das wahrscheinlich kaum zu unterscheiden, ob man etwas tut, weil es moralisch gebilligt ist oder weil es technisch erfolgverheißend ist. In jedem Fall kam es im Laufe der Hominisation zu einer immensen Erhöhung des Lernanteils am Verhalten, und diese Erhöhung des Lernanteils bedeutete konkret eine extrem lange Phase der Erziehung. Das ist der Ursprung der menschlichen Familie, denn jene Menschen, die sich um ihren Nachwuchs kümmerten, hatten weit höhere Chancen, ihre Gene zu vererben (und mit ihnen die Neigung, sich um den Nachwuchs zu kümmern), als andere, die ihren Nachwuchs verwahrlosen ließen. Es gibt natürlich eine Fülle von Varianten der Familie, aber in allen Weltgegenden gibt es das elementare Phänomen der kooperativen Nachwuchsaufzucht.

Sprache -- das ist natürlich ein riesiger Problemhaufen. Ich konzentriere mich auf eine bestimmte Eigenschaft der Menschensprache, nämlich die Ausdifferenzierung der Darstellungsfunktion. Gemeint ist damit, daß wir im Tierreich sprachähnliche Äußerungen finden, in denen alle drei Sprachfunktionen Karl Bühlers -- Kundgabe, Appell, Darstellung -- gemeinsam auftreten. Ein Warnruf gibt dem eigenen Schrecken Ausdruck, ist Aufforderung, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, und bezeichnet bei manchen Tieren auch erkennbar die Art der Gefahr (z.B. 'Leopard' oder 'Schlange' oder 'Adler'). Die Menschen aber sind in der Lage, die Darstellung weitgehend zu verselbständigen, z.B. riesige Lexika mit Wissen zu füllen oder ihren Nachwuchs in 13 Schuljahren mit Wissen vollzustopfen. Das geht nur, weil sich die Darstellungsfunktion ausdifferenziert hat, und es hat enorme Folgen für Konstitutionsfragen der menschlichen Kultur.

Diejenigen Kapitel, in denen Sie sich mit den evolutionären Funktionen von Kunst im allgemeinen und Dichtung im besonderen auseinandersetzen, finden sich gegen Ende Ihres Buches. Diskutiert wurden bis dahin u.a. Aspekte wie Genompotential, Kulturpotential, Meme, das Bewußtsein als Beobachter, die Entstehung der Familie, Vergesellschaftung, Disziplinierung und Moral. Wäre es auch ohne umfassenden Rekurs auf diese Aspekte möglich, hier etwas über die evolutionäre Funktion, also den Vermehrungsnutzen bzw. genetischen Selbstverstärkungseffekt von Dichtung zusammenzufassen? Vielleicht könnten Sie dabei zugleich auf Ihre These der evolutionären Bedeutung der Kopplung von Lust und Streß eingehen.

Die evolutionsbiologische Perspektive stellt konsequenterweise immer die Frage nach dem Adaptations-Nutzen bestimmter Eigenschaften. Das kann man natürlich auch bei der Dichtung tun und insbesondere hervorheben, daß Dichtung Informationen enthält, die nützlich sein können. Das ästhetische Vergnügen ist damit aber nicht erklärt. Ich gehe zu diesem Zweck einen kleinen Umweg, der insgesamt vielleicht geeignet ist, das zuweilen etwas freudlose Bild der menschlichen Evolution etwas aufzuhellen. Die Vorstellung von der natürlichen Selektion ist ja noch immer bestimmt vom Bild blutiger innerartlicher Konkurrenzkämpfe. Tatsächlich scheint aber ein Phänomen dabei eine große Rolle zu spielen, von dem Darwin noch nichts wußte: der Streß, genauer der Dauerstreß. Die endokrinen Vorgänge beim Streß sind geeignet, momentan letzte Kraftreserven zu mobilisieren. Die Kehrseite von Streßsituationen ist aber, daß die Keimdrüsen und das Immunsystem ihre Tätigkeit zurückfahren oder gar einstellen. Die Folge von Dauerstreß ist klar: Unfruchtbarkeit und Infektionsanfälligkeit. Es spricht einiges dafür, daß Dauerstreß ein wichtiger Selektionsfaktor war, der in Situationen der Ressourcenknappheit mindestens ebenso wirksam war wie der direkte Konkurrenzkampf. Umgekehrt bedeutet das aber auch: Eigenschaften und Verhaltensweisen, die dem Dauerstreß entgegenwirkten, wurden evolutionär 'belohnt' und verstärkt. Muß ich noch mehr sagen? Unsere Sehnsucht nach sozialer Wärme und Harmonie, unser Bedürfnis nach informationeller Sicherheit, das wir durch Religion und Metaphysik befriedigen, ja, und eben auch die pure Lust, wie sie vom Karnevalsgaudium bis zu erlesensten ästhetischen Genüssen reicht -- all das ist in der Evolution begünstigt worden, weil es Streß abbauen kann und damit der Tätigkeit der Keimdrüsen und dem Immunsystem auf die Sprünge hilft. Sigmund Freud meinte, "daß der Mensch 'glücklich' sei, ist im Plan der 'Schöpfung' nicht enthalten." Da hat er sich getäuscht. Nicht nur die stärkeren Muskeln oder die größeren Zähne brachten in der Evolution Vorteile, sondern auch die größere Glücksfähigkeit.

Sie betonen besonders den Lustwert der Kunst als evolutionären Faktor. Wenn die Produktion und Rezeption von Kunst zu einem guten Teil die Ausübung von Adaptationen im Lustmodus sind, wie Sie schreiben, rückt Kunstbetätigung ein weiteres Mal in Parallelität mit menschlichem Spielverhalten. Die Idee des Homo ludens aber ist ja -- spätestens seit Schiller -- nichts Neues in der Geisteswissenschaft. Was ist ungewöhnlich an Ihrem Ansatz?

Auch Aggression, Kooperation, Sexualität und tausend andere Dinge waren bekannt, ehe die Biologie sich mit ihnen befaßt hat. Aber die Biologie bietet neue Erklärungen an. Nehmen Sie als Beispiel Schillers Begriff des Spiels. Weshalb spielen wir? Schiller meint: Weil wir einen Spieltrieb haben. Aber das ist keine sehr befriedigende Erklärung. Die Biologie kann uns erklären, welche evolutionären Vorteile ein Wesen hatte, das seine Adaptationen nicht nur im Ernstfall, sondern auch im Organisations- oder Lustmodus gebrauchte, und damit ist der 'Spieltrieb' nicht nur postuliert, sondern auch erklärt.

Hand aufs Herz: Ist Kunst nun etwas Angeborenes oder etwas Erworbenes? (Oder warum ist diese Frage falsch gestellt?) Wie lautet die Antwort Ihres Buches in Kurzform?

Fast schäme ich mich, denn die Antwort klingt sehr salomonisch: Die Dispositionen, die Kunst ermöglichen, sind gewiß angeboren. Aber Kunst selbst, in der Vielfalt und Jeweiligkeit dessen, was wir mit diesem Begriff bezeichnen, ist etwas Kulturelles. Wir sollten ohnedies bei alledem wegkommen von den Entweder-oder-Behauptungen, auch bei anderen klassischen Kontroversfragen. Ist das Inzestverbot etwas Biologisches oder etwas Kulturelles? Es ist beides. Schon im Tierreich gibt es Strategien der Vermeidung von Inzest, einfach weil solche Strategien zu weniger Erbkrankheiten führten. Und die menschliche Kultur nutzt diese natürliche Tendenz, weil sie ökonomische und ökologische Vorteile bietet.

Animal poeta trägt den Untertitel "Bausteine zur evolutionären Kultur- und Literaturtheorie". Könnten Sie ein Beispiel für einen solchen Baustein geben und skizzieren, inwiefern es (noch) nicht möglich ist, diesen wissenschaftlich fundiert mit anderen zu verbinden?

Der Baustein-Charakter ergibt sich aus dem methodischen Ansatz. Wenn man eine Kulturtheorie aus Begriffen konstruiert, dann darf von dem Gebäude Vollständigkeit und Konsistenz erwartet werden. Von dieser Art ist zum Beispiel die Theorie Luhmanns. Mein Anliegen ist, den Kontakt mit der empirischen Wissenschaft Biologie zu nutzen, um auch die Kulturwissenschaften in die wohltuende Disziplin der Empirie zu nehmen. Insoweit bin ich Popperianer, und da ist es selbstverständlich, daß alle unsere theoretischen Bemühungen Baustein- und Stückwerkcharakter haben. Der Untertitel ist also nur eine Warnung: Erwartet nicht Vollständigkeit.

Ihr Buch enthält einige polemische Spitzen, vor allem gegen poststrukturalistische Theorie, aber auch gegen weitere aktuelle literaturwissenschaftliche Methoden. Sind diese für Sie auf den Status von neuen 'großen Erzählungen', zuweilen mit Dissidentenstatus, zu reduzieren, die also jeglichen Anspruch aufgegeben haben, falsifizierbare, empirisch gehaltvolle Theorien zu formulieren, und es statt dessen mit Wohlklang und innerer Konsistenz halten -- wobei die Referenz auf mögliche Empirie so vage gehalten wird, daß nahezu nichts falsch sein kann?

Ich glaube, man muß da unterscheiden. Wenn ich bestimmte Denkweisen (religiöse, philosophische) biologisch zu erklären versuche, hat das mit Polemik nichts zu tun. Obwohl es natürlich sein kann, daß manche Leute das als störend empfinden, weil sie diese Denkformen als selbstevidente und 'irreduzible' Dogmen pflegen. Da kann ich dann auch nicht helfen. Etwas anderes sind bestimmte fachinterne Bräuche. Ich finde die Reihe von Nietzsche bis Derrida recht interessant. In ihrem Windschatten hat sich allerdings eine vulgärrelativistische Maßstabslosigkeit breitgemacht, die einem zuweilen auf die Nerven gehen kann. Ich hoffe, daß von der gelegentliche Verärgerung im Buch nichts übrig geblieben ist.

Ihr Manuskript enthielt ursprünglich einen Anhang mit dem Titel "Biologische Ideologiekritik". Was verstehen Sie darunter?

Dieser Anhang ist aufgelöst. Ein paar Elemente sind in die übrige Argumentation eingegangen. Was gemeint ist: Die vielfältigen Beschränkungen und Kanalisierungen unseres Denkens und Fühlens bedürfen besonderer Aufmerksamkeit. Wenn man zum Beispiel, wie das manche 'Friedensforscher' getan haben, den Gedanken einer natürlichen Disposition zur Aggression als unanständig verwirft, schlägt das irgendwann zurück. Dahinter steckt eine Art von biologischem Fatalismus der Nichtbiologen: Wenn etwas 'natürlich' ist, dann kann man es nicht beeinflussen. Aber das ist Unsinn. Wir sind fortwährend dabei, kognitive Beschränkungen oder emotionale Kanäle zu korrigieren. Es ist letztlich das Forschungsprogramm der Evolutionären Psychologie, die natürlichen Beschränkungen und Bahnungen unseren Denkens und Fühlens aufzufinden, und zwar nicht, um sie als schicksalhafte Zwänge anzubeten oder zu verfluchen, sondern um mit ihnen kritisch umzugehen. Da kann man sogar auf Freud zurückgreifen: Wo Es war, soll Ich sein.

"Orang Utan oder Präriewühlmaus?" lautete eine mittlerweile geänderte Überschrift im Manuskript. Zu sehr, so sagen Sie, habe diese Formulierung an die Dramatisierungs- und Verkürzungsgepflogenheiten des Feuilletons im Umgang mit kulturell interessanten Erkenntnissen der Naturwissenschaften erinnert. Inwiefern genau ist die feuilletonistische Abhandlung einschlägiger Themen oft problematisch?

Mein Gegenstand enthält einen gewissen Sog zu anthropomorphisierenden Formulierungen. Es gibt mittlerweile sogar so etwas wie einen programmatischen Anthropomorphismus, der unser Bewußtsein schärfen will für die Rechte der Tiere. Aber gleich daneben liegen die billigen Pointen, die nur in die Irre führen. Ich habe da in der Endphase noch einmal gejätet. Um es am genannten Beispiel zu verdeutlichen: Männlein und Weiblein der Orang Utans haben nur bei der Paarung miteinander zu tun, sonst gehen sie ihre eigenen Wege. Die Präriewühlmäuse hingegen leben in lebenslanger Monogamie. Das sind also zwei grundsätzlich verschiedene reproduktive Strategien, und in Kaffeepausen kann man ja getrost herumwitzeln, ob es jemand mehr mit den Orang Utans hält oder mit den Präriemäusen. Aber in einer ernsthaften Argumentation führt das nur auf Abwege.

Mit Blick auf die wichtigsten Vertreter der modernen Evolutionsbiologie und die einschlägigen Publikationen muß man sagen, daß die Diskussion im Augenblick vor allem im amerikanischen, oder jedenfalls anglophonen Raum stattfindet und dort auch in besonderem Maße popularisiert wird. In der europäischen und deutschen Fachpresse bzw. dem Feuilleton ist dieses Thema vergleichsweise unsichtbar. Hat dies mit einer historisch-politischen Brisanz entsprechender Ansätze zu tun? Zumindest der oberflächliche Blick sieht in diesen ja oft nicht nur "deterministische" oder "reduktionistische" Theorie, von der man am besten die Finger läßt, sondern darüber hinaus sozialdarwinistisches oder gar Rassismus legitimierendes Gedankengut.

Es ist gar nicht zu leugnen, daß oberflächliche biologische Kenntnisse solche ideologischen Ausdeutungen zulassen. Und besonders ärgerlich ist es, daß auch respektable Vertreter des Faches sich gelegentlich Zweideutigkeiten und Anbiederungen geleistet haben. Die Globalisierung des Kapitalismus treibt ähnliche vulgärdarwinistische Sumpfblüten hervor. Deshalb ja mein Einspruch gegen manche billigen Pointen aus der Feder von Soziobiologen oder ihnen wohlgesonnenen Journalisten, denn mit der Effekthascherei fängt der Verrat an. Aber gegen oberflächliche Kenntnis hilft keine Tabuisierung, sondern nur gründlichere Kenntnis.

Welche Möglichkeiten sehen Sie für interdisziplinäres Arbeiten zwischen Geistes- und Naturwissenschaften?

Die letzte größere Diskussion zu diesem Thema fand in den 70er und 80er Jahren statt; Karl-Otto Apel und ihm folgend zum Teil auch Jürgen Habermas hatten da die Komplementaritätsthese vertreten, d.h. die These, daß es sich um zwei verschiedene Rationalitätstypen handle, die sich irgendwie auf höherer Ebene zu einem Ganzen zusammenschließen. Die praktische Konsequenz: Jeder macht weiterhin seinen Stiefel, und am Sonntag schaut mal ein Philosoph herein. Will man wirklich so etwas wie Interdisziplinarität, dann ist das vor allem eine Sache der Ergebnis-Kompatibilität, und die wiederum setzt zweierlei voraus: daß die Begriffe kompatibel sind und daß man von derselben Realität spricht. Da hapert es zur Zeit.

(Idee und Interview: Christoph Bock; Einleitung: Katja Mellmann)

 

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Christoph Bock studierte Germanistik, Komparatistik und Philosophie in Tübingen, Seattle und München. Arbeitet als freier Lektor und Redakteur. Interessiert sich für Retro- und Cyberkulturen, Medientheorien und Brass Band Jazz.
E-Mail: christoph.bock@parapluie.de
 
 
Dr. Katja Mellmann Dozentin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität München seit 2000. Studierte 1994-2000 deutsche und französische Sprache und Literatur in München und promovierte dort 2005 mit einer Arbeit über Emotionalisierungsstrategien in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Veröffentlichungen: "E-Motion -- Being Moved by Fiction and Media? Notes on Fictional Worlds, Virtual Contacts, and the Reality of Emotions", in: PsyArt -- An Online Journal for the Psychological Study of the Arts, vol. 6, 2002, http://www.clas.ufl.edu/ipsa/journal/2002_mellmann01.shtml. -- Emotionalisierung - Von der Nebenstundenpoesie zum Buch als Freund. Eine emotionspsychologische Studie zur Literatur der Aufklärungsepoche. Paderborn 2006.
Homepage: http://www.mellmann.org/
E-Mail: katja.mellmann@germanistik.uni-muenchen.de

 

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