![]() |
elektronische zeitschrift für kulturen · künste · literaturen ![]() |
![]() | |
no. 12: haut
![]() |
"Ohne Tätowierung bin ich nackt"Identität und Kopfjagd in Nordost-Indien |
||
von Aglaja Stirn/Peter van Ham |
|
Im abgeschiedenen und für ausländische Besucher jahrzehntelang gesperrten Nordosten Indiens haben die Menschen ein ganz besonderes Verhältnis zu ihrer Haut. Mittels kunstvoller Tätowierungen bezeugen sie ihre Verbindung zum alles umfassenden Prinzip der Fruchtbarkeit. |
||||
Laju -- ein Dorf, in dem seit fünfzig Jahren kein Weißer mehr war... | ||||
|
Der Tirap-Distrikt des indischen Bundesstaates Arunachal Pradesh wird hauptsächlich von zwei Volksgruppen bewohnt -- den Nocte und den Wancho. Beide blicken auf eine lang gefürchtete Kopfjäger-Tradition zurück. Laju im Gebiet der 'Oberen Nocte' ist das vorletzte Dorf auf dem Bergweg über den Patkoi-Gebirgskamm zur burmesischen Grenze, und um dort hinzugelangen, brauchen wir mit dem Jeep vom Distriktverwaltungsort Khonsa eine ganze Tagesreise. Als wir das Dorf erreichen, sehen wir keinen Menschen, es wirkt wie leergefegt. Wir laufen die breite, von palmblattgedeckten Langhäusern gesäumte Hauptstraße hinab wie durch eine Geisterstadt. Dem Brauch in dieser Gegend folgend, gehen wir als Fremde zuerst zum Häuptling -- um unsere Aufwartung zu machen, unsere guten Absichten zu bekunden, Gastgeschenke zu übergeben und seinen Schutz zu erhalten. Kaum daß wir das Häuptlingshaus betreten, lugen bereits die ersten neugierigen, kunstvoll verzierten Mädchen- und Frauenköpfe aus den Eingängen. Sie sind alle tätowiert, vom jugendlichen Mädchen bis zur alten Frau! Drei blaue Striche halbieren senkrecht die Stirn und den Nasenrücken. Das Kinn ziert ein Kreis. Hinzu kommen zwei tätowierte Dreiecke, welche die Wangen durchkreuzen und deren Spitzen an den Mundwinkeln enden. Die durchstochenen Ohrläppchen sind mitunter extrem geweitet und von Messingringen durchzogen. Ihr Haar tragen die Frauen entweder fast glatzenartig geschoren oder zu Frisuren geformt, die uns an Haarschnitte der 20er Jahre erinnern. |
|||
Über unseren Begleiter, Manwang Lowang, den Bruder eines Ministers aus dem Volk der Nocte, fragen wir den Häuptling, ob und wenn warum alle bei unserem Anblick in ihre Hütten geflohen seien. "Weil keiner von ihnen je einen Weißen gesehen hat", gibt der Mann zu verstehen und weist damit auf die Abgeschiedenheit seines Dorfes, aber auch die hohe Sterblichkeit seiner Einwohner hin. Der letzte westliche Forscher, der Brite Verrier Elwin, war in den 50er Jahren der letzte Europäer, der hier gesehen wurde. Wir zeigen dem Häuptling dessen Buch, und er ist ganz ergriffen, auf einem der Photos seinen Vater wiederzuerkennen. Als wir uns verabschieden und unter dem persönlichen Schutz des Häuptlings das Dorf durchwandern, sehen wir nur tätowierte Frauen, keine tätowierten Männer. Das war in Kheti ganz anders: |
||||
Der Halbnackte von Kheti | ||||
Zwei Tage zuvor waren wir in Kheti. Das Dorf, aus dem die machtvolle Häuptlingssippe unseres Freundes Manwang und dessen Ministerbruder stammt, liegt nur 15 Minuten vom modernen Township Khonsa entfernt. Die Lebensweise unterscheidet sich jedoch erheblich: die Menschen sind nur spärlich bekleidet, sie wohnen fast ausschließlich in palmstrohgedeckten Bambushütten, es gibt die sogenannten 'Junggesellenhäuser' und eben auch tätowierte Männer, die -- so versicherte uns Panwang Raja, der Häuptling von Kheti -- ihre kunstvollen blauen Linien aufgrund ihrer Erfolge in der Kopfjagd erhielten. |
||||
Einer dieser ehemaligen Kopfjäger ist Lohang Hoto, ein 75 Jahre alter Mann mit warmherzigen, freundlichen Augen in seinem ledrigen Gesicht, der uns in einem grauen T-Shirt mit aufgedruckten Teddybären empfängt. Auf der Veranda seines Hauses bitten wir ihn, aus den Tagen der Kopfjagd zu berichten. Früher, so sagt er, sei alles viel leichter gewesen. Da habe es sie, die Nocte, gegeben, und ihre Feinde, die Wancho. Jedes Jahr zwischen Ernte und Aussaat haben die großen Baumstammtrommeln verkündet, daß nun die gefährliche Zeit beginne -- die Zeit der Kopfjagd. Denn Köpfe seien wichtig gewesen: für die Fruchtbarkeit der Felder und die Fruchtbarkeit des Dorfes. Man sei ausgezogen mit den anderen Jungen aus dem Junggesellenhaus und habe seinen Mut unter Beweis gestellt, indem man der Forderung nach Steigerung der Fruchtbarkeit nachkam und die Wancho überfiel. Zusammen habe man die Feinde geköpft, sei nach Hause geeilt, um dem Häuptling die Trophäen zu übergeben, und dieser habe dann mit dem Ältestenrat die Belohnungen festgelegt: spezielle Stoffe und Amulette, Erlaubnis zur Hausdekoration, Heiratsbewilligung, Tätowierung! |
||||
|
Auch er, Lohang Hoto, habe sein Tattoo erhalten: für den Kopf, den er dem Häuptling zu Füßen gelegt habe, die kunstvollen Linienanordnungen auf der Brust und dafür, daß auch sein Speer sich in das Blut eines von anderen erlegten Feindes gesenkt habe, die Querstreifen am Oberarm. Da springt Lohang plötzlich auf, schwingt den dao, seinen Kopfjägerdolch und fällt in einen eigentümlichen Singsang. Lohang singt von den ruhmreichen Zeiten, von Mut und Stärke, von der Feigheit der Wancho, vom Abtrennen des Kopfes, von der Kraft, mit der er nach der Jagd die Frauen beglückt habe. Doch dann bricht der Alte plötzlich ab und setzt sich wieder. Das Lied ist auf den Vorgang der Tätowierung zu sprechen gekommen. Wir fragen Lohang nach dem Grund für sein Verstummen. Nun, antwortet er traurig, kurz nach seiner erfolgreichen ersten Jagd, seien die Engländer mit ihren Waffen gekommen und hätten die Kopfjagd unter Androhung von schweren Strafen verboten. Da es ihm fortan nie mehr vergönnt gewesen sei, einen zweiten Kopf zu erbeuten, habe er auch nie seine Tätowierung vervollständigen dürfen. Und so habe er sein Leben halbnackt fristen müssen -- nicht mehr ganz Tier aber auch noch nicht ganz Mensch, sagt er und weist damit auf die zentrale Rolle der Tätowierung in seinem Volk hin: Tätowierung ist Kulturgut. Sie steht als unmittelbares Zeichen dafür, daß er, Lohang Hoto, mit seinem Akt der Kopfjagd die Fruchtbarkeit seines Volkes gemehrt hat, daß er dazu beigetragen hat, daß seinem Volk Wohlstand zuteil wurde -- Wohlstand, der nur aus guten Ernten entsteht und den Frauen seines Volkes das Weben neuer Stoffe ermöglicht, den Männern das Schnitzen neuer Skulpturen, das Gießen neuer Amulette, das Errichten neuer Gedenksteine... Und diese Fähigkeit, Kultur zu schaffen unterscheidet den Mensch vom kulturlosen Tier. |
|||
Alte rituelle Praktiken im Gebiet der 'Sieben Schwestern Indiens' | ||||
Der Nordosten Indiens ist ein Gebiet so groß wie Westeuropa und besteht aus sieben Unionsstaaten -- den sogenannten 'Sieben Schwestern Indiens'. Zentrum dieses Gebiets ist Assam. Darum herum gruppieren sich die anderen an Tibet, Südchina, Burma und Bangladesh grenzenden Länder: im Norden und Osten das regenwaldreiche Arunachal Pradesh, der östlichste Ausläufer des Himalaya, wo wir den Kopfjäger gesprochen haben, im Südosten Nagaland sowie das Fürstentum Manipur, im Süden Mizoram und im Südwesten Tripura und Meghalaya. |
||||
|
Aufgrund der Abgeschiedenheit und Unzugänglichkeit einiger Gebietsteile des indischen Nordosten haben sich hier z.T. Traditionen erhalten, die anderswo bereits lange ausgestorben sind. Hierzu zählen die Matrilinearität (die mütterliche Erbfolge) im Bundesstaat Meghalaya, die Verehrung von Sonne und Mond als Götter (am ausgeprägtesten im Donyi-Polo Kult in Arunachal Pradesh), animistisch-schamanistische Praktiken als dominante Form der Religionsausübung fast im gesamten Nordosten Indiens, die Brautpreisgabe in Form von Rindern unter vielen Völkern Nordost-Indiens sowie die Kopfjagd der Naga-Volksgruppen in Nagaland, Manipur und dem Tirap-Distrikt von Arunachal Pradesh. Diese Praxis ist mittlerweile längst von Regierungsseite verboten, doch die damit zusammenhängenden Vorstellungen sind noch als durchaus lebendig zu bezeichnen. Aus der Kopfjagd abgeleitet haben sich Formen der freiwillig beigebrachten Körperveränderungen, die Status, Initiation in gewisse Tugenden und soziale Stellung nach außen dokumentieren. Gemeint ist: eine rege Tätowierpraxis, die noch unter vielen Völkern Nordost-Indiens zu beobachten ist. |
|||
Hautritzung als Statussymbol und Zeichen der Zugehörigkeit | ||||
|
Die beiden geschilderten Reiseerlebnisse weisen bereits auf die unterschiedlichen Bedeutungen hin, die Tätowierungen unter den Stammesgesellschaften Nordost-Indiens beigemessen werden. Zum einen ist dies die Dokumentation von Status, der zumeist mit der Praxis des Kopfjagens verbunden war und ist: Denn obwohl die Kopfjagd heutzutage offiziell untersagt ist, praktizieren Wancho wie Konyak-Naga sie immer noch -- allerdings nur noch in symbolischer Weise. Will ein Wancho-Jüngling heiraten, verstecken seine Stammesangehörigen eine hölzerne Figur auf dem Territorium eines verfeindeten Nachbarn. Der jugendliche Krieger zieht mit seinem Gefolge los, jagt und erlegt den 'Feind' und bringt den Kopf als Trophäe heim. Manchmal wird es auch als ausreichend angesehen, Gras oder Büsche von einem feindlichen Territorium mitzubringen -- wobei das Gras die Haare des Feindes symbolisiert. Nun kann sich der erfolgreiche 'Kopfjäger' dem Tätowierungsritus unterziehen, der ihn fortan als Mann auszeichnet und ohne den es unmöglich ist, zu heiraten. |
|||
|
Unter allen Naga-Völkern gilt das Tattoo als Symbol von Stärke, Mut und Männlichkeit, das seinen Träger mit einer Aura von Gefährlichkeit umgibt. Hinzu kommt, daß die oft im Gesicht angelegten Tattoos ähnlich einer Kriegsbemalung dem menschlichen Antlitz einen maskenhaft-furchterregenden Charakter verleihen, was gemeinsam mit dem Bewußtsein um die Tat, mit der ursprünglich ein solches Tattoo allein verdient werden konnte (durch erfolgreiche Kopfjagd), diesen Eindruck noch zusätzlich verstärkt. Diesen im Tattoo repräsentierten Status behält der Krieger auch nach seinem Tod bei, was in den Naga-Gesellschaften durch Errichtung eines Denkmals auf dem Grab des Verstorbenen in Form eines geschnitzten, mit Tattoo-Mustern versehenen Porträts symbolisiert wird. |
|||
|
Darüberhinaus sind Tattoos für die Mitglieder eines Volkes bedeutsam, da sie die Zugehörigkeit zu ihrem Stamm dokumentieren; darin sind sie vergleichbar mit volkseigenen Trachten oder anderen Ornamentierungen. Ihre Muster sind von Volk zu Volk verschieden und oft nur den Frauen vorbehalten. Diese Identifikations-Tattoos werden meist zu besonderen, mit dem Lebenszyklus in Verbindung stehenden Anlässen angefertigt. Schon im Säuglingsalter werden den Apa Tani-Mädchen tiefe Einstiche mit einem in Farbe und Ruß getränkten Dornenkamm beigebracht. Die entstehenden Wunden bleiben unbehandelt, da Infektionen die Chance des Erhalts des Tattoos nur begünstigen. Im Alter von fünf und elf Jahren wird diese Prozedur jeweils wiederholt, und man kann davon ausgehen, daß die Zeichnung anschließend ein Leben lang erhalten bleibt. Hinzu kommt das Einlegen von Scheiben in den Nasenrücken, dessen Tradition eine ganz besondere Bewandtnis hat. Die Apa Tani besiedeln ein kleines fruchtbares Tal im Subansiri-Distrikt von Arunachal Pradesh. Es ist umgeben vom Siedlungsgebiet der Volksgruppe der Nishi, die den Apa Tani in früheren Zeiten die Frauen stahlen. Aus diesem Grund, so behaupten die Apa Tani heutzutage gegenüber Fremden, versuchten die Frauen, sich bewußt häßlich zu gestalten -- mit Tätowierungen und eben jenen Nasenscheiben. Tatsächlich mag aber ein besonderes Schönheitsideal motivationsgebend für diese Form der Körperveränderung gewesen sein, denn bis heute besitzt in den Apa-Tani-Dörfern diejenige Frau das höchste Ansehen, welche die breitesten Nasenscheiben tragen kann. |
|||
|
Auch das Einsetzen der Menstruation kann Anlaß für die erste Tätowierung sein, so z.B. bei den Karbi von Assam. Tätowierungen sind auch bei den Wancho-Frauen eminent wichtig: Zur Verlobung mit sechs oder sieben Jahren erhält das Mädchen drei Streifen entlang des Nabels eintätowiert. Die erste Menstruation wird mit Zickzack-Linien an den Waden dokumentiert. Dies symbolisiert zugleich den formalen Verlobungsakt. Der dritten Tätowierung in Form von senkrechten Linien oberhalb und waagerechten Linien unterhalb der Knie muß sich die Frau unterziehen, wenn sie das Haus ihrer Eltern verläßt, um mit ihrem Mann zu leben. Im vierten und letzten Schritt bekommt die Frau im siebten Monat der ersten Schwangerschaft bzw. wenn das erste Kind geboren wurde, ein breites M-förmiges Muster oberhalb der Brust eintätowiert. Das Gesicht der Wancho-Frauen wird im Gegensatz zu den Männern nicht tätowiert. |
|||
Das Tätowierungsritual | ||||
Soll z.B. ein junger Mann, der sich in der rituell durchgeführten Kopfjagd Ansehen erworben hat und daher legitimiert ist zu heiraten, tätowiert werden, legt der Schamane unter Befragung der Orakel den Tag der Zeremonie fest. Diese geht mit einem Fest für die Dorfbewohner einher. Der zu Tätowierende zieht ins Junggesellenhaus, an anderen Orten auch ins Häuptlingshaus, wo er sich zumeist alleine aufhält, in weiße Tücher gekleidet wird und eine spezielle Diät einhalten muß. Eine Woche lang dauert diese ritualreiche Zeit der Abstinenz, die den zu Tätowierenden auf 'seinen Tag' einstimmen soll. In dieser Woche bereitet er sich innerlich auf die zu ertragenden Schmerzen vor -- im Gegensatz zu den Frauen wird es bei den Männern nach wie vor als Schande angesehen, wenn er angesichts seiner Schmerzen schreit oder gar weint. |
||||
Von einem Experten -- meist ist es die Frau des Häuptlings, deren Fertigkeiten im Dorf besonderes Ansehen genießen und die für ihre 'heilige Handlung' nur in Naturalien bezahlt werden darf -- werden die dem erworbenen Status oder dem Identifikationsmerkmal entsprechenden Tattoo-Muster mit schwarzer Rußfarbe auf die dafür vorgesehenen Körperteile aufgetragen. Pflanzendornen werden an Bambusstäben befestigt. Mit hämmernden Schlägen werden die Muster zunächst mit der Dornennadel nachgezogen und dabei die unteren Epidermisschichten eingestochen bzw. eingehämmert. Ein Gehilfe hält die Haut straff. Nach Vollendung der Prozedur wird in das Muster ein Gemisch aus dem Saft einer speziellen Pflanze und blauer Farbe eingerieben. Dieses verursacht beim Einziehen in die Haut nicht selten schmerzhafte Entzündungen, die zudem so stark werden können, daß die Haut stark anschwillt und der Tätowierte sich tage- bis wochenlang nicht bewegen kann. Der Tätowierte ist bereits vor und auch nach dem Tattoo-Ritual genna -- tabu. |
||||
Kopfjagd, Blut und das Prinzip der Fruchtbarkeit | ||||
Der Vorgang der Tätowierung ist Teil eines umfangreichen Rituals, das in enger Verbindung mit den Riten steht, die den Krieger zuvor auf die Kopfjagd vorbereiteten. Die Wirkmacht des Symbols endet selbst mit dem Tod des Betreffenden nicht, wie das Aufstellen von Grabfiguren zum Andenken der Verstorbenen beweist. Noch zu Lebzeiten spielen weitere Inszenierungen des Kopfjägerstatus wie Verzierung des Hauses, Tragen besonderer Kleidungsstücke, Abhalten von Verdienstfesten eine Rolle. |
||||
|
Im Lebenslauf beider Geschlechter haben Tätowierungsrituale eine im wahrsten Sinne des Wortes prägende Bedeutung. Bei der Frau schon als Kind, beim Mann erst, nachdem er einen Kopf (bzw. dessen symbolisches Äquivalent) erbeutet hat. Die Tätowierungen der Mädchen stehen in Zusammenhang mit ihrer schrittweisen Entwicklung zur gebärfähigen Frau und Mutter. Aber auch die männliche Kopfjagd ist Ausdruck eines Prinzips von Fruchtbarkeit als zugrundeliegender, alles umfassender Macht: Mit dem Abschlagen eines Kopfes glaubte man, das Fruchtbarkeitspotential des Gegners, welches mehr ist als nur dessen Stärke oder Mut und das sich in dessen Kopf befindet, freisetzen zu können. Es ging auf den Jäger über, der es zum einen mit dem sexuellen Akt an seine zukünftige Frau weitergeben würde. Zum anderen gab der Kopfjäger sein Potential und die ihm aufgrund seines Status entgegengebrachte Ehre mit allen damit verbundenen materiellen Gütern im Rahmen von aufwendigen Festveranstaltungen auch an die gesamte Dorfgemeinschaft und selbst an das umgebende Ackerland weiter. So wurden die Köpfe bis zur nächsten Aussaat in die Getreidespeicher gelegt oder auf in die Felder eingelassene Stangen gespießt. Mit dem Blut der Getöteten wurden Steine beschmiert, die dann dem erfolgreichen Kopfjäger zu Ehren anläßlich der Verdienstfeiern am Feldrand aufgerichtet wurden. Mit der Praxis des Kopfjagens war es dem Mann möglich, ebenfalls einen Beitrag zur Mehrung dieses Prinzips zu leisten. Indem er Blut fließen ließ und den Kopf als Wohnort der Fruchtbarkeitspotenz nach Hause brachte, reihte er sich ein in die als weiblich erachtete Kraft stets mit Blut verbundener Fruchtbarkeit, die sich in der Frau in ihrer erneuernden Menstruation und im Gebären darstellt. Frauen besonders erfolgreicher Kopfjäger oder Häuptlinge wiederum zeigten ihren durch ihre Männer potenzierten Fruchtbarkeitsstatus z.B. durch besondere Tattoos wie menschliche Figuren auf dem Dekolleté oder von auf den Schulterblättern aufblühende Blumen. Hierbei stehen die Schulterblätter in einem symbolischen Zusammenhang mit den bei den Verdienstfesten geschlachteten Opferrindern, die wiederum für die Weitergabe des Fruchtbarkeitspotentials an alle Stammesmitglieder stehen. |
|||
|
Besonders deutlich wurde das als weiblich erachtete Prinzip von Fruchtbarkeit in dem Glauben der Sema Naga: Sie gingen davon aus, daß das Abschlagen eines Männerkopfes wesentlich weniger wert war als das eines Frauenkopfes. Nur mit diesem konnte das weibliche Wesen der Seele, welches für das höchste Fruchtbarkeitspotential stand, erworben werden. Letztendlich dadurch, daß die Tätowierung der symbolische Ausdruck einer erfolgreichen Kopfjagd ist, kann sie bei beiden Geschlechtern der kopfjagenden Völker Nordost-Indiens gleichsam als nach außen hin dokumentiertes Verbundensein und Teilhaben an den kosmischen Kräften des Weiblichen und der Fruchtbarkeit verstanden werden. |
|||
Doch mit der Vorstellung, man könne die Kraft der Fruchtbarkeit auch auf andere Weise als durch das tatsächliche Abschlagen eines menschlichen Kopfes mehren, hat sich der stets traditionell gebliebene Lohang Hoto aus Kheti sein Lebtag lang nicht anfreunden können. Und so ist er halbnackt geblieben, in seinen eigenen Augen eine bedauernswerte Kreatur, nicht mehr ganz Tier aber auch noch nicht ganz Mensch... |
||||
(Abdruck der Photos mit freundlicher Genehmigung. Weitere Informationen zum Thema gibt es im Buch The Seven Sisters of India. Tribal Worlds between Tibet and Burma von Aglaja Stirn und Peter van Ham .) |
||||
|