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no. 11: virtuelle städte -> beobachtung gottes
 

Beobachtung Gottes

Systemtheorie -- Theologie -- Autologie

von Markus Hardtmann

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* literatur
* druckbares
* diskussion

Niklas Luhmanns Systemtheorie weist sich selbst als "Supertheorie" aus -- als eine Theorie also, die von allem handelt: von Gott und der Welt. Beobachten besteht für Luhmann in nichts als der steten Verschiebung des blinden Flecks von einem Beobachter zum nächsten. Um dies zu behaupten, braucht es den Allschluß vom Dorn im Auge eines bestimmten Beobachters auf den Pfahl im Auge sämtlicher Beobachter. Wenn aber Luhmann den Fehler des Teufels vermeiden will, sich beim Beobachten des Ganzen selbst zu vergessen, muß er dann nicht -- wie Gott -- neben dem Beobachteten zugleich auch sich selbst beim Beobachten beobachten?

 
"Noch gibt es ein Falsches, sowenig es ein Böses
gibt. So schlimm zwar als der Teufel ist das Böse
und Falsche nicht, denn als dieser sind sie sogar
zum besonderen Subjekte gemacht; als Falsches
und Böses sind sie nur Allgemeine, haben aber
doch eigene Wesenheit gegeneinander. -- Das
Falsche (denn nur von ihm ist hier die Rede) wäre
das Andere, das Negative der Substanz, die als
Inhalt des Wissens das Wahre ist. [...] Es wird
etwas falsch gewußt, heißt, das Wissen ist in
Ungleichheit mit seiner Substanz. Allein eben
diese Ungleichheit ist das Unterscheiden
überhaupt, das wesentliches Moment ist."
Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie
des Geistes

 

Auch Luhmann kommt anläßlich der Frage nach dem 'Unterscheiden überhaupt' auf den Teufel zu sprechen; anders als bei Hegel ist bei Luhmann aber von fast nichts anderem die Rede. Im Zuge seiner jahrzehntelangen Arbeit an der Systemtheorie hat Luhmann eine leibhaftige Teufelslehre entwickelt, zu der mit geradezu diabolischer Konsequenz das Detail paßt, daß die Sozialen Systeme, wie Luhmann-Leser bemerkt haben, als Band 666 einer wohlbekannten Taschenbuch-Reihe erscheinen. Worüber Luhmann auch schreiben mag, ob über Recht oder Religion, über Protest oder Politik, über Wirtschaft, Wissenschaft oder Kunst, es geht, geht es derart um Gott und die Welt, immer auch um den Teufel. Freilich ist Luhmanns Gesellschaftstheorie die Theorie einer modernen, funktional differenzierten Gesellschaft, in der der Teufel außerhalb (und wohl auch innerhalb) des Religionssystems an Glaubwürdigkeit verloren hat. Den Teufel 'gibt' es also auch für Luhmann nicht; seine Anwesenheit, und sei es nur als Allegorie, ist aber in keinem von Luhmanns Aufsätzen und Büchern zu übersehen.

Worum es Luhmann mit der Allegorie des Teufels geht, und warum sie sich zu einem Topos seiner Texte entwickelt, ist schnell gesagt: Mit dieser Trope wendet sich die Theorie sozialer Systeme sich selbst zu. Ähnlich wie der Teufel, der es darauf anlegt, Gott zu beobachten, geht auch Luhmanns "Supertheorie"[Anm. 1] aufs Ganze. "Es bleibt dabei: das Wahre meint das Ganze"[Anm. 2], schreibt Luhmann einmal in Anlehnung an Hegel, und ähnlich wie für Hegel ist für Luhmann darin eingeschlossen, daß Widersprüche nicht mehr ausgeschlossen werden können. Ein Beobachter, der aufs Ganze aus ist, bekommt es nämlich mit der Schwierigkeit zu tun, daß das Ganze nicht beobachtet werden kann, ohne daß der Beobachter sich selbst beobachtet. Eine Beobachtung des Ganzen macht Selbstbeobachtung also notwendig, sie macht sie zugleich aber unmöglich, weil der Beobachter sich als Beobachter vom Beobachteten jeweils unterscheiden muß. Man kann hier, mit theologisch inspirierten Logikern, von einem Teufelskreis sprechen, den logisch inspirierte Theologen -- wen wundert's? -- vor allem in der Beobachtungsaktivität des Teufels beobachten zu können glauben.

Der Teufel fällt von Gott ab, indem er Gott zu schauen sucht. Für eine theologische Tradition, der sich Luhmann nicht erst in der Religion der Gesellschaft widmet, ist Gott das All-Eine, dem noch der Teufel angehörte, würde er sich nicht selbst von ihm ausgrenzen. Will der Teufel die unüberbietbare Vollkommenheit Gottes anschauen, dann muß er sich als Beobachter von ihr unterscheiden, und folglich wird er zum Bösen. Vom Teufel aber unterscheiden sich die Theologen, so die Beobachtung Luhmanns, indem sie nicht Gott, sondern den Teufel beim Beobachten Gottes beobachten.

Am Fall des Teufels spielt Luhmann die paradoxalen Konsequenzen durch, auf die ein unterscheidungsgebundenes Beobachten führt. Daß dem Teufel bei seiner Beobachtung Gottes entgeht, daß er sich dadurch notwendig zum Teufel macht, und daß die Theologen diese Selbstintransparenz des Teufels beobachten können --, diese Beobachtung ist für Systemtheorie so grundlegend, daß sie Luhmann sogar zu der Aussage verführt, alles Beobachten, und also auch das Beobachten der Systemtheorie, involviere Religion.[Anm. 3] Inwieweit Luhmanns Beobachtungen den intrikaten Überlegungen eines Anselm von Canterbury, eines Thomas von Aquin oder eines Nikolaus von Kues gerecht werden, braucht hier nicht zu interessieren. Es genügt festzustellen: Wer sich vom Teufel zu unterscheiden sucht und nicht aufpaßt, läuft Gefahr, sich mit Gott zu identifizieren. Die herkömmliche Logik, die nur ein 'Entweder -- Oder' kennt, verführt dazu mit geradezu teuflischer Leichtigkeit. Deshalb haben sich schon mittelalterliche Theologen um Alternativen zu einer solchen Logik bemüht. Nicht anders Hegel, nicht anders Luhmann.

 

Gesetze der Form

"Das Thema dieses Buches ist, daß ein Universum
entsteht, wenn ein Raum abgetrennt oder
aufgetrennt wird."
George Spencer Brown, Laws of Form

 

Wer nicht unterscheidet, taucht auch nach Luhmann in jene Nacht ein, worin, wie man seit Hegel zu sagen pflegt, alle Kühe schwarz sind. Die Form der Unterscheidung übernimmt Luhmann jedoch nicht aus Hegels Dialektik, von der er sich durchgängig abzugrenzen sucht, sondern er kopiert sie aus der Protologik George Spencer Browns. Dessen Laws of Form postulieren einen basalen Raum, für den häufig das Blatt Papier einstehen kann, auf das der Logiker seine Striche und Haken setzt; sie postulieren überdies, daß in diesem homogenen Raum genau eine primäre Unterscheidung getroffen wird und alle weiteren Unterscheidungen Kopien (tokens) dieser ersten Unterscheidung sind. Spencer Brown entfaltet die Möglichkeit, wiederholt Unterscheidungen zu treffen, zu einem konsistenten und vollständigen Kalkül, der seinem Anspruch nach den üblichen formalen Systemen (also der Aussagenlogik, der Prädikatenlogik und der Mengenlehre) logisch vorausgeht. Dieser Kalkül kommt mit einem einzigen Operator aus, dem sogenannten mark mark, der die Form der Unterscheidung bezeichnet.

Die Konstruktion des Kalküls beruht auf der Eingrenzung (definitio) eben dieser Form als einer Einheit von Unterscheidung und Bezeichnung. Form ist also Zwei-Seiten-Form, das heißt eine Unterscheidung (distinction), die in ihrem Raum eine sogenannte Innen- und eine sogenannte Außenseite schafft. Bezeichnung (indication) geht einher mit der Entscheidung, eine Unterscheidung zu treffen, und ist immer Bezeichnung einer Seite, nämlich der Innenseite. Eine Bezeichnung kann jeweils nur die eine Seite (und deshalb nicht die andere) bezeichnen, weil die Bezeichnung beider Seiten (anhand derselben Unterscheidung) auf die Ununterschiedenheit des Unterschiedenen hinausliefe. Jede Bezeichnung führt aber notwendig die Außenseite der von ihr jeweils genutzten Unterscheidung mit sich, weil sie nur bezeichnet, indem sie etwas im Unterschied zu allem anderen auszeichnet. Diese Außenseite läßt sich nur bezeichnen, indem die Grenze der Unterscheidung gekreuzt (crossing) und eine neue Unterscheidung in die Außenseite eingeführt wird, so daß diese nicht mehr (nur) Außenseite, sondern (auch) Innenseite ist. Auch diese zweite Unterscheidung kann aber nur eine ihrer beiden Seiten bezeichnen, und es bleibt wiederum eine unbezeichnete Außenseite zurück. Bereits die erste Unterscheidung grenzt also einen markierten von einem unmarkierten Bereich ab, und jede weitere Unterscheidung erneuert diese Unterscheidung -- oder Verstümmelung (mutilation ) -- des Raums der Unterscheidung.

Die Verletzung dieses Raums hat allerdings schon vor dem 'Sündenfall' [Anm. 4] der ersten Unterscheidung am Anfang des Kalküls begonnen, wie Spencer Brown nach dem Abschluß des Kalküls in einem metasprachlichen Kommentar zeigt. Eine Unterscheidung -- eben dies konstituiert ihre Form -- unterscheidet sich in Unterscheidung und Bezeichnung. Jede Unterscheidung, und also auch die erste Unterscheidung, mit der Spencer Browns Kalkül einsetzt, setzt sich daher fortgesetzt sich selbst voraus. Eine Unterscheidung muß immer schon getroffen sein, damit eine Unterscheidung getroffen werden kann. Der Anfang des Kalküls setzt sich über diese Schwierigkeit des Anfangens mit der Anweisung "Triff eine Unterscheidung!" hinweg. Der Anhang des Kalküls formuliert diese Schwierigkeit als Wiedereintritt (re-entry) der Unterscheidung in ihren Raum. Spencer Brown macht damit die Form der Unterscheidung als Paradox kenntlich, nämlich als Unterscheidung, die als Unterscheidung von Unterscheidung und Bezeichnung je schon in sich selbst hineinkopiert ist. Die Unterscheidung unterscheidet sich in sich und ist daher in sich differenzierte, von sich differierende Einheit, die als solche den ausgeschlossenen Dritten (nicht (p und nicht-p)) einschließt. Mit der Formulierung des Wiedereintritts der Form in ihren Raum tritt Spencer Brown folglich aus seinem zweiwertigen Kalkül aus.

 

Beobachtungen beobachten

"Was aufgedeckt ist, wird verdeckt; aber was
verdeckt ist, wird wieder aufgedeckt."
George Spencer Brown, Laws of Form

 

Auch von außerhalb des Kalküls her gibt Spencer Brown der logischen Grenzfigur des re-entry eine epistemologische Wendung. Den Raum der Unterscheidung deutet Spencer Brown nun als Welt, das Unterscheiden-und-Bezeichnen interpretiert er als Beobachten. Es folgt dann unmittelbar, daß die Welt Form annimmt, indem sie sich über sich selbst informiert. Soll die Welt sich selbst beobachten, dann muß sie sich von sich selbst unterscheiden; selbst wenn die Welt beobachten könnte, könnte sie sich selbst also nicht beobachten. Die Welt ist, so Spencer Brown, immer nur als Differenz von sich und in Differenz zu sich zugänglich. Sie ist daher selbst sich selbst nicht zugänglich, sondern verbirgt sich in der paradoxalen Einheit ihrer Unterscheidungen. Aus der Perspektive des metasprachlichen Anhanges erscheint so jede Markierung (mark), die Spencer Brown zuvor auf die Seiten seines Buches gesetzt hat, als Mal (mark) der Unbeobachtbarkeit der Welt.

Die Unterscheidungen, mit denen Luhmann die Seiten seiner Bücher füllt, malen -- darf man den Selbstbeschreibungen Luhmanns glauben -- diesen Sachverhalt lediglich weiter aus. Systemtheorie läßt sich dabei von der Frage leiten, wer beobachtet, und gibt darauf die Antwort: wer als Beobachter beobachtet wird.

Entsprechend unterscheidet Luhmann zwischen einer Beobachtung erster und einer Beobachtung zweiter Ordnung. Im Anschluß an Spencer Brown bestimmt Luhmann Beobachten als den Gebrauch einer Unterscheidung, um die eine (und daher nicht die andere) Seite dieser Unterscheidung zu bezeichnen. Was eine Beobachtung beobachtet, ist daher abhängig von der Unterscheidung, die sie verwendet; je nachdem, anhand welcher Unterscheidung beobachtet wird, sieht man etwas -- und anderes nicht. Auch wiederholtes Beobachten schiebt daher Unbeobachtetes gleichsam vor sich her. Was jeweils unbeobachtet bleibt, ist insbesondere die Unterscheidung selbst, die eine Beobachtung nutzt, um etwas (im Unterschied zu allem anderen) zu bezeichnen. Jede Beobachtung behandelt, wie man auf fast jeder Seite von Luhmanns Texten lesen kann, die je eigene Unterscheidung als einen "blinden Fleck". Sie muß eine Unterscheidung verwenden und kann deshalb diese Unterscheidung nicht unterscheiden (und also nicht beobachten), weil hierzu eine weitere Unterscheidung notwendig wäre, welche die eine Unterscheidung von anderen Unterscheidungen unterschiede.

Die Unterscheidung, die eine Beobachtung benutzt, ist jedoch einer anderen Beobachtung zugänglich, die beobachtet, wie erstere beobachtet. Dieses Beobachten zweiter Ordnung konzentriert sich darauf, was die Beobachtung erster Ordnung notwendig unbeobachtet läßt, nämlich die Unterscheidung, die diese Beobachtung erster Ordnung gebraucht. Nun ist eine Beobachtung zweiter Ordnung jedoch immer noch eine Beobachtung, und sie muß also ebenfalls unterscheiden, um etwas zu bezeichnen. Selbst die Beobachtung einer Beobachtung kann sich daher nicht selbst beobachten, weil die Unterscheidung, die sie verwendet, ihr selbst verborgen bleiben muß. Die Blindheit, die eine Beobachtung an einer andern Beobachtung beobachten kann, wird insofern immer nur und immer neu verschoben. Alles Beobachten von etwas, auch das Beobachten von Beobachtungen, macht folglich etwas anderes unbeobachtbar, und die Welt insgesamt, die sich nur einem unterscheidenden Beobachten offenbart, offenbart sich also nicht. Es gibt, schreibt Luhmann, "keine dialektische 'Aufhebung' der Blindheit des Unterscheidens in einer Form von 'Geist', für den die Welt, ihn selbst eingeschlossen, voll transparent wäre."[Anm. 5]

 

Reflexion und Rekursion

"Und gerade darin kommt die Autopoiesis des
Systems zum Ausdruck: daß nämlich [...] kein
Schluß werden und das System sich nie in einem
einzigen Allsatz total erfassen [...] kann."
Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft

 

Zumindest eine Außenseite, eine Unterscheidung, eine Beobachtung bleibt, wie sich nach Luhmann beobachten läßt, immer unbeobachtet. Deshalb geht das Unterscheiden und Beobachten immer weiter, wie Systemtheorie mit Hilfe weiterer Unterscheidungen und Beobachtungen zu demonstrieren sucht. Luhmann beantwortet die Frage, wer beobachtet, nie mit dem Wörtchen 'ich', auch wenn dies, trotz der ungeschriebenen Schreibregeln wissenschaftlicher Publikationen, durchaus denkbar wäre. An die Stelle eines Selbstverhältnisses, das die Selbstbeantwortung dieser Frage mit 'ich' implizierte, setzt Luhmann Beobachtungsverhältnisse. Sein Frage- und Antwortspiel -- wer beobachtet? wer als Beobachter beobachtet wird! -- gibt den Schwarzen Peter der Reflexionsphilosophie, jenes tautologische "Ich = Ich", das sich bei genauerem Hinsehen als paradoxal erweist, von einer Beobachtung zur andern weiter. Damit weist Luhmann auf eine Verschränkung von Beobachtungsperspektiven, die er als Vernetzung systemeigener Operationen auslegt (und auseinanderlegt).

Systeme sind bei Luhmann bekanntlich dadurch charakterisiert, daß sie die Elemente, aus denen sie bestehen, selbst -- oder, wenn man so will, 'autopoietisch' -- herstellen. Ob es sich dabei um Verbindungen von Atomen oder um Amöben, um Immunsysteme oder Nervensysteme, um biologische Organismen oder soziale Organisationen handelt, ist zunächst irrelevant; entscheidend ist allein, daß jedes Element des Systems vom System selbst produziert wird. Die Operationen, welche die Elemente eines autopoietischen Systems erzeugen, müssen daher auf frühere Operationen desselben Systems zurückgreifen. So ähnlich wie beispielsweise in der Mathematik die Reihe natürlicher Zahlen durch die sukzessive Anwendung der Operation '+ 1' generiert wird (0+1=1; [0+1]+1=2; [[0+1]+1]+1=3; etc.), müssen also auch die Operationen eines Systems Resultate dieser Operationen als Basen weiterer Operationen verwenden. Die Operationen eines autopoietischen Systems müssen, mit anderen Worten, rekursiv aneinander anschließen.

Diese rekursive Schließung seiner Operationen konstituiert die Einheit des Systems und setzt es von seiner Umwelt ab. Jede Operation eines Systems zieht, indem sie sich auf andere Operationen desselben Systems bezieht, die Grenze zwischen System und Umwelt. Das gilt auch für Beobachtungen, die nach Luhmann nie als singuläre Akte, sondern nur im operativen Zusammenhang eines Systems möglich sind. Folglich sind zwar sind nicht alle Operationen eines Systems Beobachtungen, alle Beobachtungen sind aber Operationen eines Systems. Und weil der Begriff autopoietischer Systeme so abstrakt ist, kann das Beobachten, wie Luhmann häufig betont, nicht nur Menschen oder einer wie immer bestimmten Form von Bewußtsein vorbehalten bleiben: Auch Amöben können beobachten, sofern sie sich nur als autopoietische Systeme beschreiben oder beobachten lassen.

Genau diese Beschreibung oder Beobachtung können Amöben aber, so ist zu vermuten, nicht selbst leisten. Jede Operation eines Systems schließt zwar an andere Operationen desselben Systems an, aber diese, wie Luhmann nicht ganz unmißverständlich sagt, "Selbstbeziehung" der Operationen eines Systems ist nicht jeder Operation eines Systems zugänglich. Es kommt, wie Luhmann nicht weniger mißverständlich sagt, zur "Selbstbeobachtung" und "Selbstreflexion" eines Systems erst dann, wenn das System, beispielsweise ein Bewußtseinssystem oder ein soziales System, der Beobachtung zweiter Ordnung fähig ist. Das System kann dann nicht nur, wie jedes andere System auch, andere Beobachtungen wiederholen oder etwas beobachten, was auf der Außenseite bisheriger Beobachtungen verblieben ist; es kann dann auch andere Beobachtungen beobachten, und zwar auch solche, die diesem System selbst angehören. Die so verstandene "Selbstbeobachtung" bezeichnet Luhmann als "Selbstreflexion", operiert das System mit der Unterscheidung von System und Umwelt.[Anm. 6] Beobachtungen des Systems beobachten dann nicht nur andere Beobachtungen desselben Systems, sondern sie beobachten auch, daß die beobachteten Beobachtungen diesem System angehören. Was und wie eine Beobachtung aber auch beobachten mag, sie führt als Operation die Autopoiesis ihres Systems fort.

Deshalb kann kein System, auch kein System, das der Beobachtung zweiter Ordnung fähig ist, sich, im Vollsinn des Wortes, selbst beobachten. Was der rekursiven Vernetzung von Operationen jeweils durch die Maschen fällt, ist das 'Selbst' selbst: die Einheit des Systems, die diese Operationen sozusagen blind erzeugen. Jede Beobachtung des Systems im System verändert das System, indem sie dem rekursiven Zusammenhang seiner Operationen eine Operation hinzufügt. Um auch noch die Zugehörigkeit dieser Operation zum System zu beobachten, bedürfte das System einer weiteren Beobachtung, die dann aber ihrerseits die operative Einheit des Systems erweiterte. Jede Selbstbeobachtung scheitert folglich daran, daß sie sich als Operation in genau dem Moment von ihrem Gegenstand unterscheidet, in dem sie sich als Beobachtung in ihm wiederfinden müßte. Da jede einzelne Operation eines Systems die Einheitsbildung des Systems fortsetzt, setzt das System, das sich selbst zu beobachten sucht, sich fortgesetzt sich selbst voraus.

Was sich derart je schon und immer neu sich selbst voraussetzt, kann eben deshalb -- so die Pointe der Systemtheorie -- endlos fortgesetzt werden. Der Gedanke der Selbstbeziehung, Selbstbeobachtung oder Selbstreflexion eines Systems führt jeweils auf einen infiniten Regreß seiner Beobachtungen, den Luhmann, wie seine Umdeutung dieser Begriffe anzeigt, als infiniten Prozeß seiner Operationen auslegt. Jede Beobachtung eines Systems im System erzeugt als Operation Einheit, als Beobachtung aber Differenz, weil jede Beobachtung für ihr eigenes Operieren eine Unterscheidung erfordert (und sei es nur die Unterscheidung von Operation und Beobachtung). Deshalb macht jede Beobachtung eines Systems im System jeweils eine weitere Beobachtung nötig -- und also auch möglich. Ein System entzieht sich immer wieder seinem eigenen Beobachten und kann aus diesem Grund mit seinem Beobachten immer weitermachen. Das Paradox der Selbstbeobachtung, das Luhmann mit Hilfe der Unterscheidung von Operation und Beobachtung entfaltet, garantiert in diesem Sinne die 'Offenheit' operativ geschlossener Systeme.

 

"Theoriedesign" mit Luhmann

"Anders als im großen Roman der Philosophie,
anders als in der Phänomenologie des Geistes,
gibt es deshalb kein Ende, in dem die Erkenntnis
mit ihrem Gegenstand, die Vernunft mit der
Wirklichkeit eins wird."
Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft

 

Beobachten Systeme, dann muß auch der Beobachter von Systemen als System beobachtet werden können, soll er beobachten, was es mit der Beobachtung eines Systems auf sich hat. "Die Beobachtung eines Systems" -- diese Formulierung muß also immer im doppelten Sinne des Genitivs gelesen werden. Luhmanns Antwort auf die Frage, wer beobachtet, führt somit auf Umwegen auf das ursprüngliche Paradox der Selbstbeobachtung zurück. Damit aber nähert man sich in der Architektur von Luhmanns Theorie jenem Sachverhalt, den Spencer Brown erst im Anhang zu seinem Kalkül benennen kann.

Wie sich in den metasprachlichen Spekulationen Spencer Browns nachlesen läßt, instantiiert jeder Beobachter das Paradox der Unterscheidung, die in sich wiedereintritt. Soll beispielsweise die Welt sich selbst beobachten, dann muß sie sich als Beobachter in Beobachter und Beobachtetes unterscheiden. Ob aber die Welt, die auf diese Weise noch einmal in sich vorkommt, dieselbe oder nicht dieselbe ist, bleibt logisch unentscheidbar, weil im einen Fall die Welt nicht beobachtet, im andern Fall die Welt nicht die Welt beobachtet. Auch wenn man annimmt, daß nicht die Welt, sondern ein Physiker die Welt beobachtet, stößt man, wie Spencer Brown anmerkt, auf dasselbe Problem.[Anm. 7] Dasselbe Problem noch einmal, aber noch einmal anders, ergibt sich auch für jeden anderen Beobachter, und zwar auch dann, wenn er sich nicht an einer Beobachtung des Ganzen versucht. Spencer Brown betont, daß ein Beobachter die Welt, das heißt den ganzen Raum der Unterscheidung, in genau zwei Seiten teilen muß, um irgendetwas (im Unterschied zu allem anderen) zu bezeichnen. Vom so Unterschiedenen muß der Beobachter sich als Beobachter unterscheiden, obwohl er selbst doch ebenfalls in diesem Raum angesiedelt ist. Also trifft man auf einen Beobachter, der sich von dem unterscheidet, was er voneinander unterscheidet, und darin doch noch einmal vorkommt und nicht anders vorkommen kann. Unabhängig davon, was ein Beobachter beobachtet, er selbst ist folglich er selbst und nicht er selbst. Bei einem Beobachter handelt es sich immer um eine Unterscheidung, die im Unterschiedenen noch einmal auftaucht und sich daher sowohl in sich als auch von sich unterscheidet.

Selbst wenn ein Beobachter sich nicht auf eine Beobachtung der Welt verlegt, ist er selbst also ein Paradox. Das kann, wie Luhmanns Theorie einer Beobachtung zweiter Ordnung nahelegt, ein anderer Beobachter sehen -- aber nur bei anderen, nie bei sich selber. Beobachtet ein Beobachter sich selbst, dann bezeichnet er sich notwendig als eine mit sich identische Einheit. Die Beobachtung, die er damit gerade vollzieht, blendet er gerade damit aus, und die Paradoxie, die genau dieser Sachverhalt einschließt, wird genau dadurch vom Beobachteten ausgeschlossen. Ein anderer Beobachter mag auch das noch beobachten; beobachtet er sich aber selbst, dann gilt für ihn dasselbe. Als blinder Fleck allen Beobachtens wird die Paradoxie des Beobachters also lediglich vom einen zum andern Beobachter verschoben, und ihre Auflösung wird dadurch auf immer aufgeschoben.

Aufgeschoben ist nicht aufgehoben, wie Luhmann in Abgrenzung von Hegel immer wieder klarzumachen sucht. Das gilt auch dann, wird das Beobachterparadox mit Hilfe der Unterscheidung von System und Umwelt entfaltet. Ist ein System der Beobachtung zweiter Ordnung fähig, kann es die Unterscheidung von System und Umwelt in das System einführen, um damit sich zu bezeichnen und sich -- wie Luhmann sagt: "reflexiv" -- von seiner Umwelt abzugrenzen. Das System kann dann aber nicht sehen, daß seine Selbstreflexion nur als Selbstsimplifikation möglich ist. Kommt es zur Selbstreflexion eines Systems, dann kommt die Unterscheidung von System und Umwelt nämlich zweimal vor, und zwar zugleich als dieselbe und nicht dieselbe. Das System selbst setzt diese Unterscheidung ein, um sich als Einheit (im Unterschied zu seiner Umwelt) zu bezeichnen; mit eben dieser Beobachtung unterscheidet sich das System aber operativ von dem, was das System als System bezeichnet, und eben das kann das System dann nicht beobachten. Jeder erneute Ansatz des Systems zur Selbstreflexion erneuert den blinden Fleck des Systems. Wie Luhmann häufig betont, kann das System jeweils nicht sehen, was es nicht sieht --, und es kann jeweils nicht sehen, daß es nicht sieht, was es nicht sieht: die Paradoxie nämlich, daß das System die Welt jeweils in System und Umwelt unterscheidet und sich von dieser Unterscheidung unterscheiden, in dieser Unterscheidung aber auch als Relat erscheinen muß.

All dies gilt offenkundig auch für den Beobachter, der all dies beobachtet. Wie Luhmann bisweilen anmerkt, ist ein Beobachter, der die Selbstreflexion eines Systems betrachtet, ein Beobachter dritter Ordnung. Unabhängig davon, auf welcher Ebene man den Beobachter auch anordnet, er muß aber ebenfalls als System (oder als Teilsystem) beobachtet werden können, soll die Unterscheidung von System und Umwelt universale Geltung beanspruchen. Der Soziologe (der beim Soziologen Luhmann, nicht aber beim Ingenieur und Logiker Spencer Brown auftritt) ist hiervon nicht ausgenommen. Beobachtet ein Soziologe das System Wissenschaft, betreibt er noch immer Wissenschaft, beobachtet er das System Kunst, dann betreibt er damit noch nicht Kunst; aber selbst dann, wenn sich der Beobachter außerhalb eines Systems befindet, befindet er sich noch immer innerhalb eines Systems -- und sei es nur innerhalb des Gesamtsystems Gesellschaft, in dem sich der Soziologe Luhmanns so bewegt, wie sich der Physiker Spencer Browns in der Welt bewegt. Auch der Beobachter eines Systems unterliegt also den Bedingungen der Möglichkeit eines beobachtenden Systems. Das heißt, auch er kann die für ihn jeweils konstitutive Paradoxie nicht sehen, weil er mit jeder seiner Operationen diese Paradoxie erneuert. Folglich kann auch Luhmanns Soziologe seinen blinden Fleck nicht 'reflexiv' auflösen, sondern ihn bestenfalls 'rekursiv' von einer Beobachtung zur andern verschieben.

Der Soziologe Luhmann macht eben hierauf unablässig aufmerksam, und er legt den Rückschluß auf ihn selber nahe, indem er beispielsweise selbstimplikative Parenthesen in seine Theorie (oder Beobachtung) der Beobachtung einfügt, oder indem er immer wieder darauf hinweist, daß die Unterscheidung von Beobachtern nur von einem Beobachter, die Unterscheidung von System und Umwelt nur in einem System und die Unterscheidung von Operation und Beobachtung nur als Operation vollzogen werden kann. Luhmann zeigt damit, daß seine Theorie, da sie mit universalistischen Unterscheidungen arbeitet, mit 'autologischen' Komplikationen und vitiösen Zirkeln rechnet. Und er sagt es auch. [Anm. 8] Bereits auf den ersten Seiten der Sozialen Systeme und noch auf den letzten Seiten der Gesellschaft der Gesellschaft ist zu lesen, daß Systemtheorie sich in ihren Gegenständen wiedererkennt. Systemtheorie weist sich damit, so ist immer mitzulesen, als docta ignorantia aus, die im Unterschied zum Ununterschiedenen, zum Einen, Guten und Wahren, den Unterscheidungsrelativismus als den ihr eigenen Pluralismus erkennt. [Anm. 9] Wie Luhmann in seinen zahlreichen theologischen Exkursen schreibt, könnte nur Gott das Ganze, also die Welt und sich selbst, beobachten. Für den Rest der Welt, und das soll Luhmanns Soziologen ebenso einschließen wie den Soziologen Luhmann, bleibt es bei einem unterscheidungsgeleiteten Beobachten, das die ihm eigene Paradoxie verschieben und also jeweils verdecken und verstellen muß, um mit dem Beobachten weitermachen zu können.

 

Einsicht und Blindheit

"Sie [Systemtheorie] muß sich also vorsehen,
jedenfalls umsehen: Sie kann über ihren
Gegenstand nichts behaupten, was sie nicht als
Aussage über sich selbst hinzunehmen bereit ist."
Niklas Luhmann, Soziale Systeme

 

Nun bestimmt sich die Virtuosität des Umgangs mit vitiösen Zirkeln allerdings nach seiner Genauigkeit[Anm. 10], und also tut man gut daran, die systemtheoretische Selbstbeschreibung via negationis noch einmal zu lesen. Systemtheorie konstituiert sich als Beobachter über eine spezifische Serie von Beobachtungen. Sie fokussiert insbesondere auf das Beobachten von Beobachtern, und sie beobachtet sich selbst, so wird einem nahegelegt, dabei immer mit: als sich selbst beobachtender Beobachter, der die ihm eigene Intransparenz ebensowenig auflösen kann wie andere sich selbst beobachtende Beobachter (die sich eben darin ebenfalls von Gott unterscheiden). Die Unterscheidung von Beobachtern und von Beobachtungsebenen, die für Systemtheorie so charakteristisch ist, soll daher keine privilegierte Beobachtungsposition auszeichnen. [Anm. 11] Jede ihrer Unterscheidungen vollzieht als Unterscheidung das, was Systemtheorie an ihren Gegenständen beobachtet, nämlich jenen paradoxalen Wiedereintritt (re-entry) der Unterscheidung in das Unterschiedene, der in seinem operativen Vollzug jeweils unbeobachtbar bleibt. Daß Systemtheorie als Beobachter und das von ihr Beobachtete die Form der Paradoxie also teilen, kann diese Form, so die Beobachtung der Systemtheorie, nur einmal mehr instantiieren.

Nicht zufällig läßt Systemtheorie aber offen, wie diese letzte Beobachtung näher zu charakterisieren ist. Das häufige Changieren Luhmanns zwischen einer Beobachtung zweiter und einer Beobachtung dritter Ordnung sowie die auffälligen Veränderungen in seinem Vokabular deuten an, daß es um mehr -- und um anderes -- als nur um die Rekursion von Beobachtungen geht, soll Systemtheorie sich im Beobachten anderer Beobachter mitbeobachten.[Anm. 12] An sich führt das Beobachten von Beobachtungen (oder das Beobachten von Beobachtungen von Beobachtungen) noch nicht zu Aussagen über das Beobachten überhaupt. Dazu ist ein Allschluß notwendig, der dann allerdings den Rückschluß der Systemtheorie auf sich selbst impliziert.[Anm. 13] Auch wenn Luhmann in diesem Zusammenhang von einer "formalen Einsicht" und von einem "autologischen Schluß" der Systemtheorie spricht, ist aber klar, daß es sich dabei noch immer um Beobachtungen handeln soll. Die Bestimmung des Beobachtens als Unterscheiden-und-Bezeichnen begreift nach Luhmann alle Kognition (und übrigens auch alles Handeln) unter sich. Der enorme Abstraktionsgrad dieser Form zeigt sich auch daran, wie häufig Luhmann Wörter aus der Familie 'beobachten' verwendet -- und daran, daß jeder Text über Luhmann (wie beispielsweise dieser Text hier und jetzt) dadurch zu einem Pastiche von Luhmanns Texten verformt wird. Aus der Allgemeinheit von Luhmanns Beobachtungsbegriff folgt, daß nicht gefragt werden kann, ob Systemtheorie beobachtet, sondern nur wie Systemtheorie beobachtet, wenn sie im Beobachten anderer Beobachter ihren eigenen blinden Fleck erschließt -- oder eben beobachtet.

Systemtheorie beobachtet also ihren blinden Fleck. Wie ist das möglich? Ein blinder Fleck ist nicht nur (tautologisch) dadurch bestimmt, daß jemand nicht sieht, was er nicht sieht. Vielmehr kann, wer einen blinden Fleck hat, auch nicht sehen, daß er nicht sieht, was er nicht sieht.[Anm. 14] Diese kompliziertere Formulierung, die sich bei Luhmann mehrfach findet, weist auf die Unterscheidung von Beobachtern sowie auf die Separierung von Beobachtungsordnungen. Ein Beobachter erster Ordnung kann das sehen, was ein anderer Beobachter nicht sieht, und ein Beobachter zweiter Ordnung kann außerdem sehen, daß ein anderer Beobachter nicht sieht, was er nicht sieht: die Außenseite der Unterscheidung, die der beobachtete Beobachter gerade gebraucht, oder diese Unterscheidung selbst oder die für diesen Beobachter jeweils konstitutive Paradoxie. Nun wird ein Beobachter beim Beobachten anderer Beobachter zweifelsohne seine Erfahrungen machen und etwas lernen; auch ein Beobachter zweiter Ordnung wird aber weiterhin -- so Luhmann -- über einen blinden Fleck verfügen, und das kann ein Beobachter dritter Ordnung beobachten, für den dann aber wiederum dasselbe gilt.[Anm. 15] Einen Beobachter charakterisiert also jeweils ein Zugleich von Sehen und Nicht-Sehen, wie ein jeweils anderer Beobachter auf einer jeweils anderen Beobachtungsebene sehen kann.

Wenn man diesen Sachverhalt verallgemeinert (wie wir es eben im Gefolge der Systemtheorie getan haben), dann tritt man aus dem Spiel rekursiver Verknüpfungen aus. Nach Luhmann und wie Luhmann wird man dann nämlich sehen, daß man nicht sieht, was man nicht sieht.[Anm. 16] Wie sich an der Wiederholung des Abstraktums 'man' als Subjektausdruck unschwer erkennen läßt, geht es hier nicht mehr um einen Beobachter, der einen andern Beobachter beobachtet. Vielmehr bezieht sich diese Formulierung auf einen einzelnen Beobachter, und sie löst dadurch auch die logische Trennung von Beobachtungen unterschiedlicher Ordnung auf. Ein Beobachter zweiter Ordnung, der einen anderen Beobachter beobachtet, ist immer auch ein Beobachter erster Ordnung, insofern auch er eine Unterscheidung treffen muß, um etwas (im Unterschied zu allem anderen) zu beobachten. Kann Systemtheorie als Beobachter aber sehen, daß auch sie aus diesem Grunde nicht sieht, was sie nicht sieht, dann bezieht diese Beobachtung zweiter Ordnung eben diese Beobachtung als Beobachtung erster Ordnung mit ein. Es kommt zur Selbstbeobachtung im logisch strengen Sinn des Wortes. Beobachtet Systemtheorie sich im Beobachten anderer Beobachter mit, dann tritt sie als Beobachter ins Beobachtete als Beobachtetes ein, und die fürs Beobachten konstitutive Unterscheidung von Beobachter und Beobachtetem kollabiert.

Dieser Sachverhalt gewinnt im Vergleich mit den Laws of Form noch weiter an Kontur. Nach Spencer Brown kommt der Beobachter im Unterschiedenen wieder vor, von dem er sich zugleich als Beobachter unterscheidet. Wie die Unterscheidung selbst ist der Beobachter also ein Paradox. Die Unterscheidung und der Beobachter treten bei Spencer Brown allerdings -- hier muß man genau lesen -- ins jeweils Unterschiedene, nicht aber ins jeweils Bezeichnete wieder ein; sie beide tauchen, mit anderen Worten, jeweils auf der Außenseite der fraglichen Unterscheidung wieder auf.[Anm. 17] Soll das Verhältnis zwischen Spencer Browns metasprachlicher Beschreibung des re-entry und seinem Kalkül seinerseits als re-entry beschrieben werden, dann muß diese Figur objektsprachlich in einen (anderen) Kalkül integriert werden. Entsprechende Versuche zeigen aber, daß auch dann ein Beobachter übrigbleibt, der im Kalkül selbst nicht repräsentiert ist.[Anm. 18] Die für die Laws of Form charakteristische Unterscheidung zwischen Objekt- und Metasprache wird in solchen Versuchen also verschoben, sie wird aber nicht aufgehoben.

Systemtheorie aber kommt zu Allaussagen über das Beobachten, die ihrerseits als Beobachtungen ausgewiesen werden. Luhmann muß -- das erfordert das 'Design' seiner Theorie -- auch dann am Begriff der Beobachtung festhalten, geht es um die Einsicht, daß Systemtheorie als Beobachter und das von ihr Beobachtete die Form der Paradoxie teilen. Für eine solche Beobachtung, die in das von ihr Beobachtete als Beobachtetes wiedereintritt, gibt es im gesamten Corpus von Luhmanns Schriften aber nur einen Namen: visio Dei. Wie bei Nikolaus von Kues, an dem sich Luhmanns theologische Exkurse vor allem orientieren, bezieht sich die Rede von der Beobachtung Gottes nun aber auf Gott als Beobachter und nicht mehr, wie noch in Luhmanns Teufelsallegorie, auf die Beobachtung Gottes durch den Teufel. Gott, diese einzige Ausnahme, hat nämlich keinen blinden Fleck, weil er jede Unterscheidung zugleich als Unterscheidung und als Einheit realisieren kann. Jeder Beobachter ist für sich selbst intransparent, aber ausnahmslos jeder Beobachter ist für den Ausnahmebeobachter Gott transparent. "Er ist vor jedem Unterschied", wie der von Luhmann so häufig zitierte Nikolaus von Kues schreibt, "auch vor dem Unterschied von Sein und Nichtsein, Etwas und Nichts, und vor dem Unterschied von Unterschiedslosigkeit und Unterschiedenheit"[Anm. 19] Als ens universalissimum vor aller Unterscheidung und vor aller Bestimmung beobachtet Gott jenseits aller Unterscheidung und jenseits aller Bestimmung. Gott kann deshalb alles, die Welt und sich selbst, auf einen Blick erfassen.

Daß Systemtheorie am Ende also auf Gott verfällt --, von innerhalb des Religionssystems her müßte man dies als Blasphemie, von außerhalb des Religionssystems her könnte man dies vielleicht als Ironie bezeichnen.[Anm. 20] Um der Genauigkeit willen, um die es Luhmann zu tun ist, müßte man dann aber immer noch erklären, warum seine Allegorie des Teufels also ihr Gegenteil meint. Denn wie immer man den Teufel in Luhmanns Texten auch bewerten mag, es ändert nichts daran: die Selbstbeobachtung der Systemtheorie, daß sie sich selbst im Beobachten ihrer Gegenstände mitbeobachtet, ist keine Selbstbeobachtung im Sinne der Systemtheorie mehr. Vielmehr vollzieht sie genau das, was nach Luhmann nur Gott möglich wäre, nämlich eine Beobachtung, die den Beobachter und seine Beobachtung im Beobachteten als -- und das ist entscheidend -- Beobachtete einzuschließen vermag. Wie Hegel gezeigt hat, läßt sich eine solche Selbstbeobachtung ohne den unbestimmten Verweis auf Gott als eine allen Unterscheidungen vorgängige Einheit denken. Was am Ende als Bruch in Luhmanns Theorie erscheint, erscheint nämlich als Satzbruch am Anfang von Hegels Wissenschaft der Logik: "Sein, reines Sein, -- ohne alle weitere Bestimmung." [Anm. 21] Das Paradox, das sich hier im Elisionszeichen verbirgt, erläutern und entfalten all die folgenden Sätze der Logik -- und sie erläutern und entfalten auch, daß und wie sie dies tun.[Anm. 22] Die Formeln "Absoluter Geist" und "Absoluter Begriff" bezeichnen bei Hegel nichts anderes als diesen Vorgang, und deshalb muß man Luhmann wohl zustimmen: "Man wird weiter an Hegel denken -- der bisher einzige voll durchdachte Versuch." [Anm. 23]

 

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