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no. 3: unkultur
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Kultur, Sprache und NormativitätTendenzen der analytischen Kulturphilosophie |
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von Catrin Misselhorn/Guido Naschert |
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Anhand von zwei prominenten Beispielen der amerikanischen Gegenwartsphilosophie, den beiden Pittsburgher Philosophen John McDowell und Robert B. Brandom, soll dargestellt werden, wie sich zentrale Überzeugungen des pragmatistischen Kulturverständnisses gewandelt haben. Diese neuen Wittgenstein-Interpretationen betonen die Normativät und Objektivität unserer Sprache, haben keine Scheu, sich in die Traditionslinien eines Aristoteles, Kant oder Hegel zu stellen und versuchen den Vorwurf eines Kultur- und Sprachspiel-Relativismus explizit zu widerlegen. |
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I. | ||||
Glaubt man Richard Rortys Geschichte über Solidarität und Objektivität, so teilen sich die nachdenklichen Menschen unserer Zeit in zwei Lager, die Realisten und die Pragmatisten. Während sich erstere auf ein hierarchisches Kulturmodell verpflichtet sehen, in welchem Tradition, Autorität und Wahrheit die entscheidende Rolle spielen, streben letztere nach Freiheit, Gleichheit und Solidarität. Erstere glauben in ihrem Wunsch nach Objektivität die wahren Erben der Aufklärung zu sein, indem sie das Projekt des Vernunftfortschritts fortsetzen, letztere aber sind aufgrund ihres Solidaritätsstrebens die wahren Erben, indem sie das aufklärerische Denken selbst hinter sich lassen und die hierarchielose Gleichheit der individuellen Selbstschöpfungen ebenso wie die ganzer Kulturen untereinander als Faktum zu akzeptieren gelernt haben. Die Anspielungen derart postaufklärerischen Denkens an die Topik der Tradition gleichen nur noch Empfehlungen, das nun einmal vorhandene und ja auch nicht unschöne Vokabular weiterzusprechen, solange kein schöneres zuhanden ist. Eine Rechtfertigung dafür besteht freilich nicht mehr.[Anm. 1] |
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Eine Kultur ohne Zentrum zu denken, soll daher bedeuten, Kulturen und kulturelle Subsysteme, Gruppen und Individuen in ihrem grundlosen Nebeneinander zu betrachten, in dem die Kontingenz der Sprache, des Selbst und des Gemeinwesens eine ausgemachte Sache ist.[Anm. 2] Noch vor zwanzig Jahren hätte sich Rortys Pragmatist lediglich auf den Namen Wittgensteins berufen müssen, und seine LeserInnen hätten ihn verstanden. Hatte nicht Wittgenstein in den Philosophischen Untersuchungen gezeigt, daß die verschiedenen Praktiken unserer Kultur Sprachspielen gleichen, die unvermittelbar sind? Und haben nicht Autoren wie Lyotard, Winch und Kuhn diesen Gedanken zu plausiblen Beschreibungen unseres kulturellen und wissenschaftlichen Selbstverständnisses weiterentwickelt? Neuere Deutungen von Bernard Williams, Jonathan Lear und anderen lassen jedoch eine derartige Umarmung Wittgensteins fragwürdig erscheinen, und sie haben gleichzeitig dazu beigetragen, pragmatischere Modelle des kulturellen Widerstreits zu entwickeln (John McDowell, Robert B. Brandom), die Rortys wortgewandtes Insistieren auf der Kontingenz mittlerweile als überholt erscheinen lassen. |
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Dieser Wandel im Wittgenstein-Verständnis ging zwar nicht von Bernard Williams und Jonathan Lear aus, aber mit ihrer These eines "transzendentalen Idealismus" in den Philosophischen Untersuchungen, verstärkten sie ihn.[Anm. 3] Indem sie Wittgenstein in die Nähe Kants rückten, zeigten sie eine Ambivalenz des Spätwerks auf, die in den einseitig relativistischen Lesarten verlorengegangen war. Nun darf die These vom "transzendentalen Idealismus" nicht so verstanden werden, daß Wittgenstein mit Kants transzendentalphilosophischem Ansatz gleichgesetzt werden soll: Es ist selbstverständlich, daß der späte Wittgenstein Kants transzendentale Psychologie und seinen Repräsentationalismus ablehnt. Williams und Lear können jedoch in einer überraschenden Interpretationsführung darauf hinweisen, daß der zumeist relativistisch verstandene Gedanke der sprachlichen "Abrichtung" und Sozialisation selbst letzte Grenzen setzt, die nicht noch einmal hintergangen werden können: |
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"Let us say that a person is minded in an certain way, if he has the perceptions of salience, routes of interest, feelings of naturalness in following a rule, etc. that constitute being part of a certain form of life." (Lear: 1982, p. 385) Diese kulturbedingte mindedness läßt sich gemäß Lear als synthetische Einheit unserer Repräsentationen verstehen, für die selbst keine weitere empirische Erklärung gegeben werden kann -- so handeln wir eben. Und dem "We are so minded" kommt daher eine vergleichbare Stellung zu wie Kants "Ich denke", das alle meine Urteile muß begleiten können. Der Gehalt unserer Sprache wird als abhängig gedacht von der kulturellen und sozialen Praxis, in der die Sprache erworben wird. Und dieser Spracherwerb setzt gleichzeitig die Grenzen unseres Denkens: "we cannot make any sense of the possibility of being 'other minded'." (Lear: 1989, p. 232) Wer aus Schlüssen wie "wenn A, dann B" C folgert, hat offensichtlich nicht in unserer Kultur zu schlußfolgern gelernt; wer deswegen aber die Relativität des Schlußschemas behauptet, übersieht den normativen Charakter der Sozialisation. Als einer von uns bleibt jeder von uns an unser Begriffs- und Schlußschema gebunden. Ein Gegebenes, anhand dessen man die verschiedenen Perspektiven gleichsam von der Seite betrachten könnte, um ihre normative Relativität festzustellen, gibt es nicht. Kulturessentialismus und -relativismus sind gleichmaßen übertriebene Positionen. |
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Die Lesart Wittgensteinscher "Lebensformen" als Weisen der "mindedness" kann als Antwort auf einen interkulturellen Relativismus verstanden werden. Die soziale Abrichtung setzt Grenzen faktischer Unverzichtbarkeit. Doch wie steht es mit der Binnenbeziehung innerhalb einer Kultur selbst? Wie ist das Verhältnis zwischen dem initiierten Individuum und den Initiierenden zu verstehen? Häufig wurde Wittgensteins Sozialisierungskonzept im Zusammenhang seines Privatsprachenarguments betrachtet, dessen prägnanteste Formulierung bekanntlich lautet: "Es kann nicht ein einziges Mal nur ein Mensch einer Regel gefolgt sein. Es kann nicht ein einziges Mal nur eine Mitteilung gemacht, ein Befehl gegeben, oder verstanden worden sein, etc. -- Einer Regel folgen, eine Mitteilung machen, einen Befehl geben, eine Schachpartie spielen sind Gepflogenheiten (Gebräuche, Institutionen)." (Philosophische Untersuchungen, § 199) Und er fährt fort: "Darum ist 'der Regel folgen' eine Praxis. Und der Regel zu folgen glauben ist nicht: der Regel folgen. Und darum kann man nicht der Regel 'privatim' folgen, weil sonst der Regel zu folgen glauben dasselbe wäre, wie der Regel folgen." (§ 202) Saul Kripke hat aus diesen Zitaten in seiner bekannten Interpretation geschlossen, ein einzelner in Isolation gedachter Mensch könne sich der Bedeutung seiner Regeln nicht vergewissern. Erst in der Übereinstimmung mit dem Gebrauch einer Gemeinschaft, in der Teilnahme an einer Praxis wird verständlich, was es heißt, einer semantischen, mathematischen oder auch moralischen Regel zu folgen. Doch führt dieser Praxisbegriff auf mißliche Fragestellungen, die Kripke nicht entgangen sind. So heißt es einmal: "Aber kann der einzelne die Frage aufwerfen, ob sich die Gemeinschaft immer irrt, selbst wenn sie ihren Fehler nie korrigiert?" (Kripke: 1987, S. 141, Anm. 87) Und die Antwort lautet mehr oder weniger stark: Nein. Dieser Auffassung zufolge hat also die Gemeinschaft immer recht oder wie Robert Brandom im Anschluß an McDowells Kripke-Kritik[Anm. 4] schreibt: "... what the community takes to be correct is correct. The community, it may be said, is globally priviledged." (Brandom:1994, p. 599) Schon Kripke selbst empfand "ein gewisses Unbehagen" (Kripke: 1987, ebd.) über die Allmacht, die er Wittgensteins Gemeinschaft in seiner Lesart zugebilligt hatte, aber er fand keinen befriedigenden Ausweg aus der Aporie. |
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Der Fehler dieser geradezu "mythischen" Praxiskonzeption (Brandom: 1994, p. 594) scheint darin zu bestehen, daß sie die Gemeinschaft zu einem Über-Ich personifiziert, das in direkte Opposition zu jedem einzelnen ihrer Teilnehmer treten kann. McDowell, aber vor allem Brandom in seinem Werk "Making It Explicit", versuchen daher eine nicht unerhebliche Korrektur am Wittgensteinianismus zu unternehmen und konzipieren die Teilnahme an einer sozialen Praxis nicht als Ich-Wir-Beziehung, sondern als Summe von wechselseitigen Ich-Du-Relationen. Doch auch ein derart egalitärer Gemeinschaftsbegriff ist mit dem Relativismusproblem belastet. Zwar mag es sein, daß sich der einzelne nicht von den letzten (bzw. nicht gleichzeitig von allen) Rationalitätsbedingungen seiner Kultur distanzieren kann, aber wie soll diese Normativität gedacht werden, wenn sie intrakulturell aus einer Summe von wechselseitigen Beziehungen emergieren muß? Wer von uns oder was ist es, der oder das die Richtigkeit unserer Praktiken und die Objektivität unserer Erkenntnis verbürgt? Die beiden Pittsburgher Philosophen-Kollegen McDowell und Brandom haben darauf eine ähnliche, aber in ihrer Akzentsetzung unterschiedene Antwort gegeben. |
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II. | ||||
In seinen Oxforder John-Locke-Lectures von 1991, die unter dem Titel "Mind and World" erschienen sind[Anm. 5], geht McDowell diesem Problem in einem breit angelegten Rahmen nach, der hier nicht in seinen Details wiedergegeben werden kann, dessen Zielsetzung wir aber ein Stück weit verfolgen wollen. Insgesamt geht es um eine Verhältnisbestimmung zwischen Natur und Kultur, die die moderne Kluft beider Bereiche überwindet und im Sinne Wittgensteins zu einer Therapie unnötiger Problemkonfusionen führen soll. Zwei Fragen stehen dabei im Vordergrund: (1) Was sind die Bedingungen dafür, daß die Welt objektiver Gegenstand unserer kulturbedingten Erkenntnis sein kann? Und (2): Welche Stellung nimmt das Bewußtsein, das die Welt erkennt, in der Welt selbst ein? |
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Was die Beantwortung der ersten Frage angeht, so sahen sich die Philosophen bislang mit einem Dilemma konfrontiert, dessen Alternativen McDowell gleichermaßen unplausibel scheinen. Die eine besteht in der Annahme eines vorbegrifflich Gegebenen, das die Welthaltigkeit unserer Erfahrungserkenntnis sicherstellt. Gegebenheiten solcher Art (wie z.B. Sinnesdaten, Gegenstände oder Reize) können höchsten als Ursachen unserer Gedanken fungieren, begründen können sie sie nicht. Der Verweis auf Gegebenes scheint die Unmöglichkeit weitere Begründungen daher nur zu entschuldigen: <"the idea of the Given offers exculpations where we wanted justification." (McDowell: 1996, p. 8) Dem derart durch Gründe definierten Geist (mind) steht nach dieser Konzeption die rein kausal-gesetzlich beschreibare Natur unversöhnlich gegenüber. |
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Vertreter der zweiten Alternative streichen erwähnte Entschuldigungen aus ihrem Begründungsrepertoire und ziehen die Konsequenz, daß Meinungen nur mit Rekurs auf andere Meinungen gerechtfertigt werden können. Das Kriterium der Rechtfertigung ist somit ein kohärenter Zusammenhang zwischen Meinungen, während "der Welt da draußen" keine rechtfertigende Rolle zugewiesen wird. Doch auch gegen einen schrankenlosen Kohärentialismus läßt sich ein Vorwurf erheben. Es scheint, daß unsere Gedanken den Rückhalt in der Welt verloren haben, und Rechtfertigung zu einem "frictionless spinning in a void" wird (p. 66). Zwar versuchen Kohärenztheoretiker wie Donald Davidson dieser Konsequenz mit dem Hinweis zu begegnen, die Welt besitze keine Rechtfertigungsfunktion, sie sei aber dennoch kausal verantwortlich für den Gehalt unserer Gedanken, und die Bodenhaftung des kohärenten Meinungssystems sei auf diese Weise ausreichend hergestellt. Doch kommt auch dieser Lösungsvorschlag für McDowell einen Schritt zu spät. Erfahrung gleicht schließlich nicht einer Inferenz vom Gehalt unserer Gedanken als Wirkungen auf die Beschaffenheit der Welt als Ursache. Vielmehr präsentiert sich die Welt unserer Alltagserfahrung unmittelbar und selbstverständlich als objektiv und erfahrungsunabhängig. Wer wie Rorty dazu tendiert, die Welt gleich ganz zugunsten einer kohärentialistischen Konstruktion aufzugeben (vgl. Rorty: 1972), hat schwer mit diesem "phänomenologischen" Charakter der Erfahrung zu kämpfen. |
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McDowell stellt uns also vor ein Paradox: Die Möglichkeit der sprachlichen Erkenntnis muß von etwas abhängen, was unseren Meinungen wirkliche Gründe verschafft (gegen den Kohärentialismus); gleichzeitig aber kann sich unser Erkennen nicht auf etwas rein Gegebenes stützen, das außerhalb unserer Sprache liegt (gegen den Fundamentalismus). Wie Wittgenstein strebt McDowell weniger eine vermittelnde Lösung des von ihm diagnostizierten Gegensatzes als vielmehr eine Therapie desselben an. Wir sollen uns zu der Ansicht durchringen, daß die begrifflichen Gegensätze unserer erkenntnistheoretischen Problemstellungen falsch angelegt seien. Die Dualismen der modernen Philosophie, die Entgegensetzungen von Sein und Sollen, von Subjekt und Objekt (McDowell: 1996, p. 93ff.) seien vermeibar, wenn wir auf konstruktive, den common-sense belehrende Philosophie verzichten würden. Denn die Normativität und Faktizität fallen in der begrifflichen Erfahrung ineins, Rezeptivität und Spontaneität seien in der Erkenntnis nicht zu trennen, auch das rezeptive Moment sei implizit immer schon begrifflich strukturiert. Der Halt, den die Welt dem erkennenden Bewußtsein gewährt, kommt deswegen zwar von außerhalb des jeweils explizit Gedachten; wir erkennen passiv, daß sich die Dinge unabhängig von unserem Zutun so und so verhalten. Trotzdem ist aber auch diese Erfahrung nur möglich, weil die Welt im Prinzip begrifflich strukturiert ist, wie die Kritik am "Mythos des Gegebenen"[Anm. 6] rechtfertigen konnte. Alle Erfahrungsgehalte können deswegen als "thinkable contents" (p. 28) betrachtet werden, das Zusammenspiel von Aktivität und Passivität in der Erfahrung ließe sich als "openness to the layout of reality" (p. 26) verstehen: "When one thinks truly, what one thinks is what is the case. [...] Of course thought can be distanced from the world by being false, but there is no distance from the world implicit in the very idea of thought." (p. 27) Jeder Versuch einer Rechtfertigung nicht-begrifflichen Erfahrungsgehalts wird zurückgewiesen. McDowell glaubt damit eine der idealistischen Überzeugungen Wittgensteins weiterzuführen: "Wenn wir sagen, meinen, daß es sich so und so verhält, so halten wir mit dem, was wir meinen, nicht irgendwo vor der Tatsache: sondern meinen, daß das und das -- so und so -- ist." (Philosophische Untersuchungen, § 95) Das gilt auch in Situationen, in denen die Nuancen der Welt reichhaltiger sind als die Feinkörnigkeit unserer Begriffe. Selbst dann könne man die begrifflichen Unterschiede immer noch mit deiktischen Formulierungen angeben. |
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Zur Therapie des epistemologischen Dilemmas hat uns McDowell eine Position empfohlen, die er selbst "naturalisierten Platonismus" (p. 91) nennt und die die Differenz zwischen Gesetzmäßigkeiten und Gründen anerkennt, ohne die Kluft zwischen beiden zu groß werden zu lassen. McDowell greift hier auf den von Wilfrid Sellars geprägten Begriff eines "space of reasons" zurück, in dem sich die soziale Praxis kommunizierender Individuen abspielt. Es ist im wesentlichen Robert Brandoms Verdienst, ein präzises systematisches Modell dieses kulturellen "Raums der Gründe" angeboten und entwickelt zu haben. McDowell schlägt demgegenüber den historischen Weg ein und versucht -- allerdings in genauer Kenntnis der Brandomschen Theorieentwicklung -- eine Beschreibung des Gedankens in aristotelischem Vokabular. Der "space of reasons" gleiche Aristoteles' Begriff der "zweiten Natur". Denn die Spontaneität des Bewußtseins[Anm. 7] ist weder mit der biologischen Grundausstattung des Menschen gegeben (erste Natur), noch transzendiert sie jene in Richtung auf etwas Übernatürliches. Vielmehr besteht die kulturelle, ontogenetische Entwicklung des Menschen in einer schrittweisen Initiation in den Bereich der Gründe. McDowell bevorzugt das deutsche Wort "Bildung" (p. 125) für diesen Prozeß der Einführung in die Tradition und Praxis einer Gemeinschaft, der wesentlich vom Erwerb einer gemeinsamen, überindividuellen Sprache abhängt. |
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III. | ||||
Robert Brandoms Hauptwerk "Making it Explicit" aus dem Jahr 1994, ein Werk das die Überlegungen mehrerer Jahrzehnte zusammenführt, kann als eine systematische Ausarbeitung dessen gelesen werden, was McDowell die "zweite Natur" genannt hat. Diese besteht nach Brandom in der Fähigkeit, Begriffe zu verwenden -- ein Gedanke, der an die Konzeption des "space of reasons" anschließt. Nur demjenigen kann der Besitz eines Begriffs zugesprochen werden, der ihn richtig verwenden kann. Dazu gehört nicht nur, daß der Begriff auf die richtige Art von Gegenstand bezogen wird, sondern auch ein Verständnis der inferentiellen Beziehungen, die zwischen verschiedenen Begriffen bestehen. Der Gehalt eines Begriffs hängt nämlich davon ab, in welchen Schlußbeziehungen er mit anderen Begriffen steht (Inferentialismus). Im Sinne McDowells ausgedrückt könnte man auch sagen, der Gehalt eines Begriffs ist bestimmt durch seine relative Position im "space of reasons." Diese These unterscheidet Brandom von den sog. repräsentationalen Theorien des Gehalts, die die faktische Beziehung zwischen Begriffen und Gegenständen als gehaltskonstituierend ansehen. |
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Einer solchen inferentiellen Theorie des Gehalt stellt sich jedoch das Problem, daß nur korrekte Schlüsse den begrifflichen Gehalt bestimmen dürfen. Diese normative Dimension der Begriffsverwendung möchte Brandom als Wittgensteinianer mit Hilfe des sozialen Charakters des "space of reasons" erfassen und versucht, den Slogan "Bedeutung ist Gebrauch" mit neuem Leben zu erfüllen. Seine Strategie ist es daher, mit einem Ansatz sozialer Praxis beginnend, die genaue Struktur anzugeben, die eine genuin bedeutungsvolle, also sprachliche Praxis aufweisen muß, und dann die verschiedenen Arten von semantischem Gehalt zu diskutieren, die Ausdrücke und Handlungen innerhalb dieser Praktiken annehmen können. Die Bedeutung eines Ausdrucks besteht in der Rolle, die er in der linguistischen Praxis spielt. Und da die sprachliche Praxis wesentlich auf dem Sprechakt der Behauptung gründet, ist ihre Basisstruktur eine des Gebens und Nehmens von Gründen oder des Schlußfolgerns. Brandoms Ansatz läuft daher auf eine normative Pragmatik hinaus. |
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Die Normativität sprachlicher Praxis kann jedoch in zwei Weisen mißverstanden werden: wer sie als Anwendung expliziter Regeln versteht (Regulismus), gerät in einen Regelregreß, den Brandom im Anschluß an Kant und Wittgenstein erläutert. Versteht man sie hingegen nicht als bewußtes Befolgen der richtigen Regel, sondern lediglich als bloße Regularität, als empirisch beschreibbare Regelhaftigkeit (Regularismus), so wird die spezifisch normative Dimension und d.h. der auch den Bewertenden selbst betreffende Verpflichtungscharakter verspielt. Den Ausweg soll deswegen ein Verständnis von Praxis bieten, bei dem die Normativität des Regelfolgens bereits implizit gegeben ist, ohne daß sie dem jeweiligen Regelbefolger auch bewußt sein muß. Das Bewußtsein des Regelfolgens bildet sich erst in einem wechselseitigen Austausch. Will man nun nicht in die alte mythische Form von Gemeinschaft zurückfallen, so kann man sich nicht mit dem bloßen Faktum der Praxis zufriedengeben. Es bedarf eines Modells, das die Normativität des faktischen Handelns erklärt und zugleich die sich schon Kripke aufdrängende Frage beantwortet: Wie ist es zu denken, daß sich wohlmöglich die ganze Gemeinschaft über etwas irrt? Wie kann also die genuine Objektivität unseres Erkennens gesichert werden, ohne in das repräsentationalistische Modell zurückzufallen? In welchem Zusammenhang sind Subjektivität und Objektivität zu sehen, wenn beide von der impliziten, sprachlichen Praxis abhängig sind? |
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Brandom beantwortet diese Fragen durch ein Modell, das zugleich an Samuel Pufendorf und am Baseball orientiert ist. Von Pufendorf übernimmt er den Gedanken, das derjenige der von Normativität spricht, ehrlicherweise auch von Sanktionen reden sollte (s. u.); und vom Baseball stammt sein Modell des Punktezählens (scorekeeping). Beides hängt folgendermaßen zusammen: Der Begriff des "Sprachspiels" wird hier wörtlich genommen, und der Grundzug in diesem Spiel ist der Sprechakt des Behauptens, von dem alle anderen "Spielzüge" abhängig sind.[Anm. 8] Die soziale Praxis des Assertionsspiels erlaubt nun vier Züge: (1) Man kann eine Behauptung aufstellen. Damit übernimmt der Sprecher die Verpflichtung (commitment), die Behauptung auch rechtfertigen zu können. (2) Es kann eine Rechtfertigung für die aufgestellte Behauptung verlangt werden, d.h. die Berechtigung des Sprechers (sein entitlement) zu der Behauptung wird in Frage gestellt. (3) Der dritte Zug besteht in der Rechtfertigung der einen Behauptung durch eine andere, auf die ebenfalls die vier Züge angewandt werden können. (4) Schließlich kann anerkannt werden, daß die Behauptung gerechtfertigt ist. Daß der Hörer die Behauptung für "gerechtfertigt" hält, bedeutet jedoch nicht, daß er sie auch für "wahr" halten muß. In diesem Fall müßte er zusätzlich bereit sein, die Verpflichtung und ihre Folgen selbst zu übernehmen, oder wie Brandom formuliert: "In taking someone to be a knower, one attributes a commitment, attributes entitlement to that commitment, and acknowledges commitment to the same content oneself." (Brandom: 1994, p. 202) |
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Die Punkte, die in diesem Spiel zählen, sind also die eingegangen Verpflichtungen (commitments) und die erworbenen Berechtigungen (entitlements), sie entsprechen den strikes and balls des Baseball. Indem der Spieler sich selbst und anderen Verpflichtungen und Berechtigungen zuschreibt, hält er den Punktestand fest (scorekeeping). Nun müssen die Punkte, die ein Spieler sich selbst zuschreibt (self-attribution), nicht mit denen übereinstimmen, die andere ihm zuschreiben. Es drängt sich jedoch die Frage auf, ob diese Tatsache nicht die Möglichkeit von Kommunikation unterminiert. Begrifflicher Gehalt und die Bedeutung der Wörter, durch die er ausgedrückt werden kann, sollten doch gerade anhand der von der Gemeinschaft als korrekt anerkannten Schlußfolgerungen bestimmt werden, die entweder verpflichtungs- oder berechtigungsbewahrend sind. Treten aber Differenzen zwischen den Mitgliedern der Gemeinschaft auf, so kann nicht mehr vom selben Begriffsrepertoire gesprochen werden. Brandom beantwortet diesen Einwand mit dem Hinweis auf den normativen Charakter der Spielpraxis selbst. Auch die Punktezuschreibung kann korrekt oder inkorrekt erfolgen, je nachdem, ob die Zuschreibung von Berechtigungen und Verpflichtungen den Standards der Gemeinschaft entspricht oder nicht. Weicht die Selbstzuschreibung zu stark von den Normen der Gemeinschaft ab, so wird der Betroffene von der gesamten Praxis oder von bestimmten Bereichen ausgeschlossen. Nehmen wir das Beispiel eines Jungen, der ständig "Wolf!" ruft, obschon gar kein Wolf in der Nähe ist. Die anderen werden ihn zunächst als jemanden betrachten, der zu Recht die Verpflichtung eingeht, daß da ein Wolf sei, weil sie wissen, daß er in der Regel ein zuverlässiger Sprecher ist. Nun stellt sich aber mit der Zeit heraus, daß die dem Jungen zugeschriebene Autorität unbegründet war. In Wirklichkeit ist gar kein Wolf in Sicht, und die Schlußfolgerungen, die sich aus dem Ruf "Wolf!" ergaben, führen eventuell zu Widersprüchen. Also entziehen wir ihm die Lizenz, Wolf zu rufen und bewerten ihn auf unserer Punkteskala demnächst etwas niedriger. Doch dergleichen machen nicht nur wir mit ihm, sondern auch untereinander und er mit uns. So schreibt er uns beispielsweise demnächst nicht mehr zu, daß wir auf seinen Ruf in bestimmter Weise reagieren. Er hält uns für schlauer als zuvor oder bemüht sich, in unserer (impliziten) Punkteskala wieder zu steigen. |
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Nach diesem Modell der sog. (sprach-)internen Sanktionen denkt Brandom nun auch Objektivität, Wahrheit und Referenz sozial vermittelt. Alle drei Aspekte sollen durch die inferentielle Bewertung der Wahrheit der Aussagen anderer analysiert werden. Eine Aussage für wahr halten, bedeutet also, die aus ihr resultierenden Verpflichtungen und Berechtigungen selbst zu übernehmen, das heißt, andere dazu zu berechtigen, einen selbst gegebenenfalls zu sanktionieren, wenn der Verpflichtung nicht nachgekommen werden kann. Der Referent einer Aussage kann bestimmt werden, indem eine andere Beschreibung als die vom Sprecher verwandte eingesetzt wird. Wenn der Sprecher sagt "Der Abendstern ist am Himmel" kann der Hörer den Referenten durch die Ersetzung von "der Abendstern" durch "der Planet Venus" bestimmen, geht damit aber eine Verpflichtung ein, die der Sprecher nicht teilen muß. Von Objektivität kann dann die Rede sein, wenn wir in eine Perspektiven-Kollision geraten und wir uns auf eine Differenz von wirklich Sein und nur uns Scheinen verpflichten müssen.[Anm. 9] Behaupten zwei Sprecher unvereinbare Propositionen, so können nicht beide richtig sein. In dieser Situation legt sich die Unterscheidung zwischen einer bloß subjektiven Perspektive und der objektiven Realität nahe. Die Idee objektiver Wahrheit oder Referenz unabhängig von den jeweiligen Meinungen der Sprecher wird daher im Lichte der Pluralität sozialer Perspektiven plausibel, obwohl die Welt an sich für die Bestimmung des begrifflichen Gehaltes keine Rolle spielt. Wir scheinen es daher mit einer Form sozialen Perspektiven-Vergleichs zu tun zu haben, die den Gedanken der Objektivität antirelativistisch zu begründen versucht. Das ist der Weg, den der soziale Perspektivismus gehen muß. Ob er gelingt, soll hier nicht entschieden werden. |
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Die bei McDowell noch vage gebliebene "zweite Natur" des Menschen besteht nach Brandom im impliziten Umgang mit Verpflichtungen, Berechtigungen und ihren Sanktionen: "Being rational is understood here generically as being able to play the game of giving and asking for reasons, which is to engange in a specifically linguistic social practice." (Brandom: 1994, p. 230) In diesem Spiel nimmt jeder eine Perspektive ein, für die die normative Bewertung der anderen Perspektiven unverzichtbar ist. Im Unterschied zur älteren, relativistischen Wittgenstein-Deutung bis einschließlich Kripke versucht Brandoms Modell daher dem Individuum seinen gesellschaftlichen Freiraum zurückzugeben und einen Begriff von "Bildung" (self-cultivation) zu umschreiben, der den pluralistischen Vergleich von Perspektiven zu denken erlaubt. Erst die Gesellschaft jedoch gewährt dem Individuum die Möglichkeiten seiner Selbstverwirklichung durch den kreativen Umgang mit den vorgefundenen Regeln: "The self-cultivation of an individual consists in the exercise and expansion of expressiv freedom by subjecting oneself to the novel discipline of a set of social practices one could not previsously engange in, in order to acquire the capacity to perform novel ways, express beliefs, desires, and intentions one could not previously have, whether in arts or sports." (Brandom: 1979, p. 195) |
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Im Unterschied zu Richard Rortys Überzeugung muß ein pragmatistisches Kulturverständnis Normativität und Objektivität nicht ausschließen. Ob jedoch das Verständnis der Kultur als einem Raum der Gründe unsere Vorstellungen von Normativität und Objektivität wirklich angemessen zu explizieren vermag, bleibt zu prüfen. Der Verdacht drängt sich auf, daß Normativität über die Faktizität einer sozialen Praxis hinausgeht, daß Objektivität mehr ist als eine begriffliche Unterscheidung zwischen Sein und Schein. |
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