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Saturn und das Internet

von Guido Naschert

Hans Baldung, gen. Grien: Saturn (1516)

Eine Äußerung besitzt an sich keine Bedeutung. Diese wird ihr erst im Kontext der Interpretation zugewiesen. Beides ist mittlerweile eine Selbstverständlichkeit geworden, deren Gültigkeit sich auch für die Bedeutungszuschreibung nichtsprachlicher Künste begründen läßt. Ausstellungsmacher wissen dies sehr genau: die Hängungen, Gruppierungen, die Kataloge und dergleichen Paratexte, das alles sind Verführungen und Lizenzen zu bestimmten Sichtweisen. Hans Baldungs Saturn, inzwischen über vierhundertachtzig Jahre alt, nun ins Internet zu speisen und für einen Internet-Benutzer erneut zu 'betrachten', das rückt daher das neue Medium selbst ins Zentrum der Botschaft auch dieser Zeichnung.

Zunächst ist das nicht ungefährlich. Nichts scheint die 'Aura' dieser Meisterzeichnung schneller zu zersetzen als das Medium Internet. Und dies sowohl durch die beliebige Reproduktion, die den Ausdruckswert und -- sagen wir ruhig -- die Würde einer Handzeichnung hinter dem Maus-Klick zum Verschwinden bringt, als auch durch die Bilderflut selbst, in der das Einzelbild als eines von Millionen nivelliert wird. Wie viele Sekunden wird das Auge des visuellen Surfers noch verweilen (können)? Dieser Anspruch auf Ruhe und Konzentration, den das Bild für seine Lektüre stellen muß, um seine Wirkung zu entfalten, dieser notwendig individuelle Anspruch scheint im gleichzeitigen Erheben desselben durch alle anderen Bilder unmöglich geworden zu sein.

Doch ist diese Gefahr wirklich so groß? Ich glaube nicht. Der Baldung wird sich jetzt und hier helfen, ob auf des Künstlers Staffelei, im Museum oder Internet, und er schafft das durch die Ausdruckskraft und die ästhetische Energie dieses Gesichtes selbst, und die scheint nicht an ein einmaliges Blatt und seine auratische Kraft gebunden, und sie scheint auch -- so die Hoffnung -- gegen die abgeschliffene Konzentration eines Surfers in bunten Banalitäten Widerstand leisten zu können. Doch worin gründet diese Energie? Ist es zu wenig, nur ein Gesicht zu sehen? Vielleicht muß man weiter gehen und mit Emmanuel Lévinas formulieren: wir sehen kein Gesicht, wir sehen ein Antlitz, wir sehen "das Erstrahlen der Exteritorität oder der Transzendenz im Antlitz des Anderen." Natürlich möchte ich mich damit nicht auf Lévinas verpflichten. Seine Ethik des Antlitzes ist komplizierter, aporetischer und hat etwas ganz Anderes im Auge. Aber der Gedanke, daß ein individuelles Gesicht die Idee eines mehr als Alltäglichen, mehr als Endlichen transportieren kann, das sein Gehalt nicht in einem cluster von Eigenschaften und ihren eindeutigen Prädikationen aufgeht, scheint bedenkenswert.

Denn der Ausdruck des Saturn hat eine eigentümliche Pointe: es ist der alte Saturn, den wir hier sehen, und er hat immer noch den unversöhnlichen, mißtrauischen und kriegerischen Ausdruck seiner Jugend und Manneszeit behalten. Die gerade diesem Gott eigentümliche Ambivalenz, Vatermörder, Kinderfresser und Alles-Zerstörer und zugleich, im Alter, der Herrscher über die Inseln der Seligen und das goldene Zeitalter zu sein, diese mythische Doppelgesichtigkeit wird bei Baldung in ihrer ausweglosen Einheit erkennbar. In den utopisch gestimmten Zeiten um 1800 hat man dies gerne übersehen. So empfand Karl Philipp Moritz in seiner Götterlehre von 1791 die Saturn-Dichtung noch "vorzüglich schön wegen des Überganges vom Kriegerischen und Zerstörenden zum Friedlichen und Sanften." Gerade dieses Zur-Ruhe-Kommen wird aber in Baldungs Zeichnung dementiert. Der Herrscher über die Inseln der Seligen, er schaut mit dem Argwohn des Kindermörders, und diese Antinomie legt die Idee eines Unfaßbaren im Antlitz frei, ein der eindeutigen Bestimmung Entzogenes.

Hans Baldungs Saturn zur ReVision im Internet. Mag die eine oder der andere in den elektronisch aufbereiteten und digitalisierten Augen seiner mythischen Ambiguität erneut habhaft werden. Mehr möchte ich nicht empfehlen, als im Experiment mit dem Kontext die Widerständigkeit dieser Kreidezeichnung selbst zu erproben. Saturnz Return.

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