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no. 19: worte, worte, worte
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OrtswechselInterview mit Michael Ebmeyer und Ilija Trojanow |
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von Christoph Bock |
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Dieser Text entstand über einen längeren Zeitraum hinweg als Email-Korrespondenz. Währenddessen wurde im Irak ein "Verwirrungskrieg" (Schlingensief) geführt. |
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Plüsch (Kiepenheuer & Witsch, 322 S.), der erste Roman des jungen Autors Michael Ebmeyer (Berlin), zugleich Musiker-Texter der Gruppe Fön, erschien im August 2002. Er erzählt die Geschichte zweier Freunde, die mit einem Pakt beschließen, ihre eigene Vorstellung von einem kritischen, teilnehmenden, lustvollen Leben in die Tat umzusetzen, während viele ihrer Altersgenossen sich und ihre guten Vorsätze in der New Economy aufreiben. Der Zeitraum der Handlung ist 1998 bis 2001. |
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Ilija Trojanow (Bombay/Kapstadt), Autor, Herausgeber und Weltbürger in der Praxis, schreibt nach Die Welt ist groß und Rettung lauert überall an seinem nächsten Roman. Im Herbst 2003 ist zudem der literarische Reisebericht An den Inneren Ufern Indiens (Hanser, 200 S.) erschienen. Klassische hinduistische Texte kommen darin ebenso zu Wort, wie von einem poetisch begabten Schöpfer von Straßensicherheitshinweisen, einem überschwemmten Zeltladen, gestrandeten Dampfern und politischen Realitäten erzählt wird. |
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parapluie: Lieber Ilija, das im Jahr 2000 von dir herausgegebene Buch Döner in Walhalla, das wunderbare Texte von u.a. Yoko Tawada, Emine Sevgi Özdamar oder Sinasi Dikmen versammelt, provoziert im Vorwort durch die Behauptung einer Untergliederung der deutschsprachigen Literatur in zwei Felder. Eines, das man, so dein Vorschlag, nach dem jüdisch-bulgarisch-englisch-wienerischen Züricher Elias Canetti canettisch nennen könnte -- und das andernorts als Minderheitenliteratur, Migrantenliteratur oder, jüngst, hybride Literatur firmiert. Und ein zweites Feld, das du als weniger vielfältig, monokulturell, provinziell, brav bezeichnest, und welches meist als eigentliche deutsche Literatur angesehen wird. Hat sich innerhalb des letzen Feldes während der vergangenen zwei Jahre etwas verändert, das dich im Hinblick auf dessen literarische Befindlichkeit zu einem weniger harten Urteil veranlassen könnte? |
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Ilija Trojanow: Ich fürchte, du hast mein Vorwort zu der Anthologie Döner in Walhalla ein wenig mißverstanden. Es ging mir nicht darum, die 'monokulturelle' gegen die 'multikulturelle' Literatur Deutschlands auszuspielen. Auch glaube ich nicht, daß es diese zwei Blöcke gibt -- im Gegenteil: ich mißtraue statischen Kategorien und vertrete das Modell einer fließenden, sich über alle fremdbestimmten Grenzen hinwegsetzende Identität. Ich bezweckte durch meine Polemik, diese Überzeugung auf die Wahrnehmung der hybriden Literatur in Deutschland anzuwenden. Die fortwährende Verwurzelung in nationalstaatlichem Denken ermöglicht es einem Teil der deutschen Öffentlichkeit nicht, die Eigenarten und Bereicherungen durch diese Literatur zu erkennen, weswegen ihr Beitrag weiterhin mit einem abfälligen Desinteresse negiert wird. |
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Heinz Schlaffer hat in seiner Die kurze Geschichte der deutschen Literatur neulich kurz, bündig und überzeugend dargestellt, daß es eine 'deutsche' Literatur nicht gibt, da sie, noch mehr als die englische oder französische Literatur, während ihrer gesamten Geschichte ständig fremde Einflüsse aufgenommen, sich an ausländischen Mustern orientiert und schließlich, bei dem zweiten Höhepunkt nach der klassischen Periode, der Literatur der Weimarer Zeit, fast völlig dominiert wurde von Autoren aus den Randgebieten des sprachlichen Einflußraumes bzw. von Autoren mit hybriden Identitäten, vor allem von Juden und Österreichern. Das setzt sich auch nach dem Zweiten Weltkrieg fort: zwei der drei deutschsprachigen Nobelpreisträger (Canetti und Grass) gehören dieser Kategorie an. |
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Dies trifft natürlich auch für die westeuropäische Literatur als Ganzes zu, die wir ja so stolz als unsere ureigene Leistung und weltweit einmalig betrachten. Dabei wurden etwa die Troubadoure direkt von der arabisch-andalusischen Dichtung beeinflußt, die ersten Prosawerke (Chaucer und Boccaccio) übernahmen die narrative Struktur ihres Novellenzyklus von dem nach England ausgewanderte andalusischen Juden Petrus Alfonsi, der wiederum eine Tradition fortführte, die bis zu der indischen Fabelsammlung Panchatrantra zurückreicht, und das Sonett wurde erfunden in dem wahrhaft multikulturellen Sizilien unter der Herrschaft von Friederich II. Die Festung Europa ist ein ideologisches Konstrukt, das weder der Geschichte noch den von uns proklamierten Werten gerecht wird. |
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Wie provinziell und brav die gegenwärtige deutsche Literatur ist, mag jeder selbst beurteilen. Ich finde, daß eine Reihe interessanter junger Stimmen in letzter Zeit aufgetreten sind. |
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¶ In deiner Danksagung für den Chamisso-Preis sprichst du, Ilija, von fahrenden Geschichtenerzählern in Rajasthan. Diese erzählten die zentrale Geschichte aus dem Epos Ramayana über Jahrhunderte hinweg in der selben Darstellungsweise; Erzähler und Zuschauer könnten so mit jeder Vorführung eine Gemeinschaft begründen, im Hinblick auf Gegenwart und Herkunft. Deine eigene Welt bestehe hingegen aus vielen verschiedenen Geschichten -- wohl nicht zuletzt aus biographischen Gründen. Es erscheine dir daher unmöglich, eine Zuhörerschaft zu finden, mit der sich eine ähnliche Gemeinschaft begründen ließe und so bliebe nichts anderes übrig, als, wie anklang, eine eigene kulturelle Identität zu formen: aus diesen verschiedenen Geschichten, die sich lauthals widersprechen, ausstechen, überlagern. |
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Der Lebenskontext in dem du, Michael, schreibst, entspricht weder der Situation von Ilija, noch der jener fahrenden Sänger. Welche Rolle spielt kulturelle Identität für dich selbst und für dein Erzählen und Schreiben? |
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Michael Ebmeyer: Monokulturalität ist eine ideologische Chimäre, die niemals etwas anderes als Gewalt und Unfreiheit hervorbringen wird. Und daß nationalstaatliches Denken selbst unsere Wahrnehmung eines grenzenlosen Phänomens wie Literatur noch heute vielfach bestimmt, ist ein beklemmender Befund. Ihren Teil an diesem Zustand haben aber, glaube ich, nicht nur Feuilletonisten, die hybriden Texten herablassend begegnen, und geschichtsblinde Marktschreier einer 'Leitkultur'. Auch die Literatur selbst läßt sich immer wieder, natürlich meist ohne Absicht, in den Dienst der Festungsmentalität stellen. Zum Beispiel da, wo sie sich in längst ranzig gewordenen modernistischen Posen verkapselt. Aber auch da, wo sie unbedarft die Lebenslügen ihrer wohlstandsbürgerlichen Herkunft weiterstrickt, weil sie deren Abgründe nicht aufsucht. Literatur bleibt in dem Maß unmündig und mißbrauchbar, in dem sie die Reflexion ihrer sozialen und kulturellen Bedingungen scheut. |
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Ganz unkritische Umarmungen plurikulturell geprägter Literatur sind aber auch keine Alternative. Da kann es einem Text, nur weil er einen 'dezentralen' Blickwinkel anbietet, passieren, daß jede Frage nach den Qualitäten seiner Sprache oder seines Plots unter den Tisch fällt. So eine Rezeptionshaltung scheint mir auf die gleiche Weise ignorant, wie wenn neue Veröffentlichungen der vermeintlich monokulturellen Literatur allein in Kategorien wie 'Pop' oder 'Fräuleinwunder' besprochen werden. |
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Was nun mein eigenes Erzählen und Schreiben angeht: ich bemühe mich jedenfalls um Texte, die über den historischen Ort ihrer Entstehung informiert sind. Als hellhäutigem Mann mit BRD-Biographie wird mir meine kulturelle Identität hier und heute kaum offen zum Problem gemacht. Innerhalb der mythischen Ordnung, welche die Berliner Republik begründet, zähle ich ja zu den Siegern der Geschichte, bin ein legitimer Bewohner der Festung. Doch wie jedem politisch sensiblen Menschen sind mir gerade solche mythischen Ordnungen widerwärtig. Und ich bilde mir ein, daß sich diese Position in meinen Erzählhaltungen konsequent spiegelt, sei es im Roman Plüsch, sei es in meiner kürzeren Prosa. Beim Schreiben leitet mich -- neben der Lust am Erzählen, Phantasieren, Spinnen, ohne die gar nichts geht -- die Frage, welche literarischen Gesellschaftsbilder ich zu entwerfen vermag: aus dem Koordinatensystem einer neurotischen, westdeutsch-bürgerlichen Sozialisation heraus, das ich ziemlich genau analysieren, hoffentlich auch subvertieren, aber nie ganz verlassen kann. |
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¶ Um auf eure Literatur zu sprechen zu kommen, scheint mir ein Aspekt geeignet, den ich Ortswechsel nennen möchte -- wobei mir nicht daran liegt, hier das spezifische Moment eurer Texte auszumachen. |
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Ilijas Roman, Die Welt ist groß und Rettung lauert überall impliziert den Ortswechsel mit gewisser Wertung bereits im Titel. In der Geschichte selbst ist er u. a. gestaltet als die als Reise getarnte Flucht der Familie des Protagonisten Alexandar. Oder man begegnet ihm in Form einer Tandem-Tour zur Großmutter und um die Erde, die dem erkrankten Alexandar als Mittel zur Genesung verordnet wird. Ilijas jüngster Text An den inneren Ufern Indiens ließe sich beschreiben als ein literarischer Bericht über einen nie anhaltenden Ortswechsel: Die Reise dieses Flusses, mit der sich dessen Bedeutungen eröffnen; und zugleich eine Reise auf diesem Fluß zu unterschiedlichsten Menschen und Stätten. |
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Auch in Michaels Roman Plüsch hat der Ortswechsel Bedeutung, wenn auch in geringerem Ausmaß. So besteht das wenige, das der Leser über den einen Protagonisten Maul erfährt, nachdem dieser sein Ziel, ein "Leben in Würde", verfehlt hat, aus Informationen über offenbar beständiges Unterwegssein: Spanien, Marokko, Ghana. Zwei Nebenfiguren knüpfen an ihre Auswanderung in ein fremdes Land die Hoffnung, ihrem Leben mehr Sinn zu geben. (Animum muta non caelum liest man indes bei Seneca. Es gelte, die Einstellung zu ändern und nicht die Gefilde.) |
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Ortswechsel steht in allen Fällen nicht einfach für dramaturgisch notwendige Abwechslung. Es geht um feinere poetische Funktionen. Funktionen, die sich u. a. an Bezeichnungen wie Heimat, Fremde, Sinngeben, Bewegung, etc. knüpfen, wie sie das semantische Feld Ortswechsel umfaßt. Über diese Funktionen würde ich gerne mehr erfahren. |
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Michael Ebmeyer: Ich habe mir beim Schreiben darüber nicht viele Gedanken gemacht, aber vermutlich läßt sich an Plüsch zumindest ein kleines, mitteleuropäisches Panorama von Ortswechsel-Mentalitäten ablesen. |
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Protagonist Tim Schadeck träumt sich, von seiner deutschen Umgebung frustriert, Sehnsuchtsorte zurecht, ist jedoch nicht mutig genug, dabei den gewohnten abendländischen Rahmen zu verlassen. So genügt ihm vorerst Barcelona als Chiffre für einen 'Süden', in dem er ein besseres Leben für möglich hält. |
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Tims Freund Karel Maul geht bei seinen Ausbruchsversuchen zwar radikaler vor, doch selbst wenn er sich am Ende, von den Dämonen seiner Biographie getrieben, in ein Afrika-Abenteuer stürzt, begleitet ihn unweigerlich ein postmodernes Bewußtsein: seine Reise kann nicht ins völlig Neue, ganz Andere führen, denn sie ist Zitat, sie folgt den Spuren der Zivilisationsflüchtlinge in den Texten seines literarischen Idols Paul Bowles. |
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Solche intellektuellen Spitzfindigkeiten stehen Tims Schwester Andrea nicht im Weg. Achtzehnjährig entkommt sie der Enge ihres Elternhauses, indem sie sich in Australien ein alternatives Leben aufbaut. Allerdings setzt ein Schicksalsschlag ihrem Traum ein Ende und wirft sie zurück nach Deutschland. |
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Um eine typische, robuste Rucksacktouristin handelt es sich bei der Figur Pia, die auf der Suche nach einer Rechtfertigung ihrer Existenz schließlich für ein Hilfe-zur-Selbsthilfe-Projekt zu arbeiten beginnt. |
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Und dann gibt es noch Nike, von indisch-griechischer Herkunft und durch ständige Umzüge von Land zu Land schon als Kind zur Kosmopolitin geformt. |
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Unterwegssein als Suche, als Sucht, als Flucht -- ein Thema, das sich durch den ganzen Roman zieht. Dabei überwiegt, glaube ich, eine pessimistische Perspektive: Ortswechsel können zwar glücklich machen, Horizonte öffnen, aber sie werden dich nicht von dir selbst, von deiner Geschichte befreien, so nötig du es auch hättest. |
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Ilija Trojanow: Ortswechsel wird als Thema für die Literatur wichtiger, obwohl wir manchmal den Fehler begehen, die Mobilität -- gerade der Suchenden, der Fragenden und Forschenden -- in früheren Epochen zu unterschätzen. Noch nie zuvor sind so viele Menschen freiwillig gereist wie heute. Kaum ein Fleck der Erde ist vor unserer postmodernen Mobilität sicher. Unsere Reisen beginnen allerdings auf Landkarten und Prospekten. Die Welt geschrumpft zu einem kleinen Maßstab. Übersichtlich. Auf jedem Quadratzentimeter verdichtete Information. Bevor wir aufbrechen, wissen wir schon, wie die Fremde heißt, wo sie sich erhebt und welche Ausfahrt zu ihr führt. Unsere Reise hat feste Konturen, ist schraffiert mit den Farben des Sonderangebots, des Geheimtips, der Drei-Sterne-Sehenswürdigkeit. Da kann die Literatur nur gegenhalten, indem sie ein anderes Tempo vorgibt, Sperrigkeiten aufzeigt, das wahre Reisen hochhält. |
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Wir fahren durch die Welt, aber wie viel erfahren wir von ihr? Fast jeder ist unterwegs, aber wer ist wirklich auf Reisen? Reisen ist keine Produktlinie des ADAC, Reisen geht über die Veränderung der Lokalität hinaus -- Reisen ist ein metaphysischer Akt des Erkennens und Erfahrens. Nur der Reisende, sagt ein arabisches Sprichwort, kennt den wahren Wert des Menschen. |
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Ein wunderbares Beispiel ist Julio Cortazars Werk, das stets vom Ortswechsel als Thema geprägt war. Kurz vor seinem Tod tuckerte er noch auf der Autobahn von Paris nach Marseille und ließ sich dafür einen Monat Zeit -- er hatte sich selbst die Maßgabe gesetzt, an jedem Rastplatz zu halten, auf jedem zweiten Rastplatz die Nacht zu verbringen. Sein Logbuch, erschienen unter dem Titel Die Autonauten auf der Kosmobahn, berichtet von den Wundern einer Expedition durch die toten Winkel unserer zugepflasterten und technologisierten Welt. |
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Reisen ist für mich Instrument, Inspiration und Thema des Schreibens, weil es die richtige Lebensführung betrifft, weil es wie Literatur der Katharsis dient. In dem hinduistischen Lehrbuch Aitareya Brahmana steht: "Es gibt kein Glück für den Menschen, der nicht reist. In menschlicher Gesellschaft wird auch der Beste zum Sünder. Gott ist der Freund der Reisenden. Also brich auf." Ähnlich den christlichen Wandermönchen von einst ziehen noch heute die indischen Asketen, Sadhus genannt, durch das Land. Die Orthodoxeren unter ihnen verbringen keine zwei Nächte am selben Lagerplatz. Die Immobilität -- körperlich oder geistig! -- trägt potentiell alle Sünden in sich, sei es Gier, Egoismus, Materialismus oder Gewalt. |
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Am wichtigsten erscheint mir, nicht von der Heimat in die Fremde und wieder zurück zu reisen, sondern die Fremde in Heimat zu verwandeln, sinnlich, sprachlich. Unternimm eine Reise, mein Freund, sagt der großartige Sufi-Dichter Rumi, vom Ich zum Selbst -- so eine Reise verwandelt die Welt in eine Goldmine. |
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Michael Ebmeyer: Reisender sein, nicht Tourist; Fremdes erfahren voller Hingabe und mit genauem, freiem Blick -- das wünscht sich der gebildete Abendländer, sobald ihn das Fernweh packt. Ich finde solche Sehnsüchte und die damit verbundenen Lobpreisungen des Reisens als Erkenntnis- und Existenzweise grundsätzlich sympathisch, erst recht, wenn sie von einem so aufmerksamen Reisenden wie Ilija Trojanow kommen. Aber einen Rest Skepsis gegen die Ortswechsel-Metaphysik kann ich mir nicht verkneifen. Denn die Art des Reisens, um die es hier geht, ist ein Privileg. Und zwar nicht nur ein Privileg in materieller und politischer Hinsicht, sondern auch ein Privileg der individuellen Sozialisation. Den Kopf frei haben zum Aufbruch und über das nötige Selbstvertrauen verfügen, das ist ja genauso wenig wie Geld und persönliche Ungebundenheit biologisch veranlagt. Selbst wenn man das Loblied der Reise-Freiheit soweit differenziert, daß man sagt, es kommt nicht auf die zurückgelegte Entfernung an, sondern darauf, sich auf eine Erfahrung einzulassen, wird, fürchte ich, der Mensch liberal-bildungsbürgerlicher Herkunft oft der 'bessere Reisende' sein -- zumindest im westlichen kulturellen Kontext. |
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Ilija Trojanow: Ein Privileg vermag ich nicht im Reisen nicht zu erkennen -- gerade deswegen habe ich das Beispiel der materiell wie auch politisch völlig mittellosen Sadhus angeführt. Eine gewisse innere Einstellung ist gewiß nötig, ein gewisser Mut, aber das gilt für alle menschlichen Tätigkeiten, auch für das Singen, das eine ähnliche befreiende Wirkung hat und trotzdem nur von einer Minderheit praktiziert wird. |
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¶ Günter Grass hat zu einem sechsmonatigem Aufenthalt in Kalkutta ein Reisetagebuch mit dem Titel Zunge zeigen geschrieben. In einem Artikel, der sich neben Grass auch mit Pier Paolo Pasolinis Buch Der Atem Indiens befaßt, zeigst du, Ilija, wie beide linksintellektuellen Künstler sich in kolonialen Denkweisen verstricken, obgleich sie diese explizit reflektiert und hinter sich gelassen zu haben glauben. Exemplarisch gelte dies auch für viel andere westliche zeitgenössische Reiseliteratur zur 'Dritten Welt'. Eine von vielen fast ausschließlich einseitigen Wahrnehmungen sei bei Grass diejenige, die es dabei beläßt festzustellen, daß in Indien Fäkalien häufig zum Erscheinungsbild der Straßen zählen. Wo der westlich-kulturell befangene Blick Dreck sieht und abwertend urteilt, hätte, so sagst du, zugleich auch jene personale Würde bemerkt werden können, die die Menschen mit feinsäuberlich gebügelten Hemden und Hosen auf die Straße treten läßt, obgleich sie in einem Slum leben. |
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Entstand An den inneren Ufern Indiens vor diesem Hintergrund problematischer Beschreibungen? Steht hinter den Schreibstrategien, die du anwendest, das Anliegen, jenen multiperspektivischen Diskurs zu eröffnen, auf den die Texte von Grass, Pasolini, et al. sich nicht einlassen? Beispielsweise erfährt der Leser wenig über die Identität des erlebenden und erzählenden Ichs und über dessen Beweggründe zur Reise. Ebenso wird die Photographin, die den Erzähler begleitet, als Figur kaum ausgearbeitet. Im Mittelpunkt von An den inneren Ufern Indiens stehen weniger die Reisenden, sondern die unterschiedlichen ansässigen Menschen. Diese kommen selbst zu Wort, ebenso wie die Stimmen von Gottheiten aus klassischen hinduistischen Texten erklingen. |
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Ilija Trojanow: Ja -- das Buch ist der Versuch einer adäquaten Reiseliteratur, die post-imperiale Positionen hinter sich läßt. Anstatt zu werten, habe ich mich bemüht, Sprache und Szenen zu finden, die jene Komplexität abbilden, die mich faszinieren. Die Form läßt nordindische Kultur- und Geisteswelten einfließen, ohne an den Hindernissen der Befremdlichkeit zu scheitern. Daher löst sich die Figur des Ich-Erzählers manchmal fast auf, eine angemesse Reduzierung angesichts der hinduistisch-buddhistischen Überzeugungn von der Sünde der Ich-Bezogenheit. Leider ist vieles von den Lesern außerhalb Indiens mangels Kenntnissen nicht wahrgenommen worden. So dachten etwa die meisten deutschsprachigen Rezensenten, ich hätte nur Götterlegenden nachgeschrieben, dabei sind meine Versionen kreative Paraphrasierungen, die zum Ausdruck bringen sollen, daß "die Geschichte von Rama allen heilig ist, weil sie im Sinne eines jeden erzählt werden kann". |
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¶ Wie ging es dir bei der Lektüre von An den inneren Ufern Indiens, Michael? |
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Michael Ebmeyer: Ich bewundere vor allem die Eleganz, die Fraglosigkeit, mit der sich in Ilijas Buch rauschhafte Schilderung und präzise Beobachtung verbinden. Eine Gleichzeitigkeit des Überbordenden und des Konzentrierten scheint hier ganz natürlich, und diesen Eindruck zu erzielen, halte ich für große Kunst. Für mich sind die inneren Ufer ein romantischer Text im besten, schlegelschen Sinn. Ein Text, der im gleichen Maß Lust aufs Reisen durch äußere wie durch innere Welten macht. Aber auch ein Text, der es sich nicht erspart, immer wieder durchblicken zu lassen, daß das Glück und, ich wiederhole mich, das Privileg des Reisenden darin liegt, daß er dem Fluß immer weiter folgen kann; daß er nicht verweilen, sich an den Stationen seiner Erlebnisse in keine Abgründe von Alltäglichkeit hineinziehen lassen muß, so genau er von diesen Abgründen auch zu berichten weiß. Die so spielerische wie respektvolle Neugier, mit der nun dieser Reisende auf indische Mythologie und Bildtraditionen zugreift und sie seinen Text bereichern läßt, ist in diesem Sinn ebenfalls ein Luxus -- und das meine ich nicht als Kritik, sondern als Hinweis auf etwas Unvermeidliches. |
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¶ Die Umwelt derjenigen Literatur, innerhalb derer Michaels Roman Plüsch entstand und vornehmlich gelesen wird, ermöglicht großen Teilen der Bevölkerung zunehmend Selbstverwirklichung und Erlebnisorientierung in immer mehr Bereichen des Alltagslebens. In Abhängigkeit von Freizeit und Lohn, breiteren Bildungsmöglichkeiten, technischem Fortschritt und dem Aufbrechen biographischer Muster entstehen Lebensstandards, die früher privilegierten Schichten vorbehalten waren. Dem entspricht ein Feld der Professionalisierung von DJs, Animateuren, Inneneinrichtern, Moderatoren, Typberatern, etc. |
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Diese Entwicklungen führen häufig dazu, daß in der Literatur angesichts gesteigerter Wahlmöglichkeiten weniger instrumentelle denn philosophische Perspektiven literarisch problematisiert werden. Also die Frage Was will ich statt der Frage Wie erreiche ich (ein vorgegebenes Ziel)? Anders in Plüsch. Hier ist den Protagonisten ihr Ziel zumindest formal klar: Maul und Tim wollen ein "Leben in Würde" -- wenn sie auch nicht so genau wissen, was darunter zu verstehen ist. Wovon der Roman stattdessen erzählt, ist der Versuch des Erreichens oder: des Nicht-erreichen-Könnens dieses Ziels. Warum ist diese Wie-Fragestellung für Dich die zentralere? |
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Michael Ebmeyer: Da, wo den Hauptfiguren eines Romans eher ein Wie will ich als ein Was will ich zum Problem wird, lassen sich Unwohlsein mit dem Bestehenden, Sehnsucht nach Anderem, besser darstellen. Maul und Tim sind in dieser Hinsicht große Analytiker, wissen genau, was ihnen nicht paßt. Insofern verbinden sich bei ihnen, wenn man so große Worte wirklich verwenden will, instrumentelle und philosophische Perspektive. Andererseits ist ihnen ihr Ziel, finde ich, viel weniger klar, als es in deiner Formulierung anklingt. Und so scheitern sie letztlich an der selbst gestellten Aufgabe, eine alternative Lebensform zu verwirklichen. Ihnen bleibt nur die Flucht oder die Nische, und dieser Befund ist es, der sie schließlich auseinandertreibt. Das bessere Leben 'in der Praxis' aber bleibt am melancholischen Ende von Plüsch so dringend nötig wie unerreicht. |
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¶ Du sprachst von dem Wunsch, das eigene Koordinatensystem einer neurotischen, westdeutsch-bürgerlichen Sozialisation nicht nur zu analysieren, sondern möglichst auch zu subvertieren. Nun leben wir beide in einer Gesellschaft, in der die Semantik der Subversion und der Dissidenz zunehmend wertgeschätzt und inflationär gebraucht wird und daher nicht mehr ohne weiteres als Differenzmodell funktioniert. Ich spreche etwa von selbstbezüglich-absurder Werbung, Politikern mit Humor und Fähigkeit zur Persiflage der eigenen Person und Arbeitnehmern mit der Fähigkeit zur Selbstironie -- etwa als Verarbeitungsmechanismus von Unsicherheit. Wie steht es um 'Plüsch und Subversivität' in einer Gesellschaft, die sich nicht mehr ernst nehmen muß, und sich so gegen Kritik wappnet? |
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Michael Ebmeyer: Sicher, man kann den Eindruck haben, die Semantik der Subversion sei, im Paket mit dem ziemlich vollständigen Ironie-Inventar der Postmoderne, in den Besitz von Werbern, Comedy-Redakteuren oder FDP-Kadern geraten. Aber daß solche Leute im großen Stil komische oder absurde Ausdrucksmittel vereinnahmen, sollte uns nicht daran hindern, diese Mittel ebenfalls weiter zu beanspruchen. Ein Guido Westerwelle, auch ein Stefan Raab, läßt sich, davon bin ich überzeugt, im Handumdrehen an die Grenze seiner Ironiefähigkeit bringen. Und hinter dieser Grenze empfängt einen garantiert ein berechnender, kläffender, serviler, verkniffener Untertan. Denn dieses schon seit der angeblichen Doofheits-Offensive Anfang/Mitte der 90er unermüdlich durchfeuilletonisierte Nicht-mehr-ernst-Nehmen spielt sich innerhalb fester Grenzen ab und dient letztlich nicht der Subversion, sondern dem Schutz von Autoritäten oder Werten. Man vermittelt den Eindruck, man könnte sich über alles lustig machen, und klammert zugleich bestimmte Bereiche konsequent aus. Das Ausklammern wiederum vertuscht man, indem man diese Bereiche, meist indirekt, als für uns nicht mehr von Belang markiert. So überläßt man, und dies ist nur das einfachste von vielen Beispielen, das Thema Politik im traditionellen Sinn Kabarettisten, die vor pensionierten Lehrern auftreten, macht sich sicherheitshalber über diese Kabarettisten und ihr Publikum noch ein bisschen lustig und hat erfolgreich davon abgelenkt, daß man selbst gerade einen Monolithen umschifft hat und ihn nie antasten wird. |
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Aber ich will nicht zu weit abschweifen. Kurz gesagt hoffe ich, die Leserinnen und Leser von Plüsch sehen einen Unterschied zwischen der Subversivität, nach der Tim und Maul streben, und der Pseudo-Ernstlosigkeit von Stefan bis Guido, mit einem Abstecher über Harald Schmidt. |
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Ilija Trojanow: Ich bin völlig einverstanden mit Michael. Auf den globalisierten Provinzbühnen wird simulierte Subversion durchgespielt. Aber es ist ein Leichtes, an die Grenze zu stoßen. |
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¶ Du, Ilija, hast eingangs von einer Reihe interessanter junger Stimmen in der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur gesprochen. Könntest du Beispiele geben, was genau das Interessante an diesem oder jenem Text ist, den du im Hinterkopf hattest? Wie stehst du zu Michaels Roman? |
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Ilija Trojanow: An Michaels Roman hat mich am meisten die wache Zeitgenossenschaft beeindruckt. Ich habe Plüsch als Nick Hornby für Anspruchsvollere gelesen und mich sehr erfreut an den vielen Szenen und Details aus verschiedenen mir kaum geläufigen gesellschaftlichen Gruppen und Subkulturen. Der offene und aufmerksame soziale Blick ist auch eine der Stärken der gegenwärtigen deutschsprachigen Literatur, im Gegensatz zu früherer Innerlichkeit und Bauchnabelschau. Besonders gerne würde ich Michael lesen hören -- es ist ein Buch, das geradezu danach schreit, gut vorgelesen zu werden. |
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¶ Wer in diesen Tagen der US-Offensive gegen den Irak ins Theater geht, findet vielerorts Stellungnahmen von Kulturschaffenden vor. Regisseur und Intendant Dieter Dorn etwa schreibt im Münchner Residenztheater: "Angesichts der Kriegslust, die sich aufschaukelt, müssen wir aus der Bühne und der Kunst heraustreten und als Menschen bekunden. Diesen Krieg läßt unser Gewissen nicht zu. Denn wir dürfen uns nichts vormachen. Der kommende Krieg ist unser Krieg. Raushalten ist zu wenig, nur dagegen sein billig." Kommt Kunst als Form der Auseinandersetzung mit derartigen Situationen an Grenzen? Anzufügen ist, daß mir bei dieser Frage mehrere Gedanken durch den Kopf gehen: Deine Äußerung, Ilija, du könntest dich momentan nur auf den Krieg und kaum auf ein Gespräch über Literatur konzentrieren. Dann Dein Beitrag zur (englischsprachigen Version) der Anthologie 100 Poets Against the War. Und schließlich die frühere Interviewaussage Michaels, er ärgere sich fast, daß sein Erzählband Henry Silber geht zu Ende nicht politischer ausgefallen sei. Die politische Lage, die für diesen Komparativ den Rahmen abgab, hat seitdem an Brisanz zugenommen ... |
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Ilija Trojanow: Was momentan geschieht auf der Welt ist viel gewaltiger und erschreckender als 'nur' ein weiterer ungerechter Krieg. Fast überall werden die gebrechlichen Fundamente von Zivilisation zertrümmert. Was als Verteidigung unserer Werte propagandiert wird, ist in Wirklichkeit deren Abschaffung. Wie man sich als Autor darauf einläßt -- abgesehen natürlich von tagespolitischen publizistischen Einwürfen, kann ich momentan schwer sagen. Ich arbeite an einem Roman, der das Aufeinandertreffen von kulturellen und zivilisatorischen Unterschieden thematisiert, und zudem als Grundmotiv das Verhältnis von Mächtigen und Untergeordneten durchleuchtet, so daß ich Gelegenheit habe, die momentane Problematik auf die historische Ebene des 19. Jahrhunderts reflektieren zu lassen. |
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Wollte man grundsätzlicher diskutieren, würde ich behaupten, daß großartige Literatur immer politisch ist, indem sie Grundwahrheiten in Frage stellt, indem sie rebelliert, sei es durch ihre Weltanschauung oder durch ihre formalen Mittel. Affirmatives Schreiben sollte den Rahmen des Poesiealbums nicht verlassen. |
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Michael Ebmeyer: Ja, das sehe ich genauso. Wobei ich gerne festhalten möchte an der Trennung zwischen der Absicht oder Haltung des Autors und der Unruhe, die ein Text im Leser auslöst. Auch ein aufrechter und glaubwürdiger Kriegsgegner schreibt möglicherweise Bücher, bei deren Deutung man sich sehr verrenken muß, um sie nicht als affirmativ zu empfinden. |
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Was nun die Zivilisationszertrümmerung betrifft, die in den Bush-Kriegen, dem Abbau demokratischer Grundrechte im Namen des Heimatschutzes und dem komplementären Zuwachs finsterster Strömungen im Islam Gestalt annimmt, so kann man mit Büchern wie üblich nicht viel ausrichten. Literatur sollte, denke ich, auf ihrer Funktion, Gegengeschichte zu formulieren, beharren. Aber als Ort des wirksamen Protests eignet sich der Schreibtisch fast nie so wie die Straße. |
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¶ Würdet ihr -- über das, was bereits anklang hinaus -- etwas über eure zukünftigen literarischen Projekte verraten? |
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Michael Ebmeyer: Ich arbeite gerade an zwei Manuskripten parallel. Im November 2004 wird bei Piper K. L. McCoy, Mein Leben als Fön erscheinen -- ein hoffentlich im oben skizzierten Sinn subversives Buch, das ich zusammen mit den drei anderen von Fön, also Tilman Rammstedt, Florian Werner und Bruno Franceschini schreibe. Zeitgleich damit wird auch die erste Fön-CD kommen. Im Frühjahr 2005 folgt dann mein zweiter Solo-Roman, wieder bei Kiepenheuer & Witsch. Zu dessen Thema und Inhalt verbiete ich mir aber zurzeit noch den Mund. |
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Ilija Trojanow: Ich arbeite wohl noch bis zum Jahresende an dem umfangreichen Roman, den ich schon erwähnt habe. Zudem erscheint im Sommer (auch im Piper Verlag) ein weiterer Reisebericht: Zu den heiligen Quellen des Islam. Als Pilger nach Mekka und Medina. |
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autoreninfo
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Christoph Bock studierte Germanistik, Komparatistik und Philosophie in Tübingen, Seattle und München. Arbeitet als freier Lektor und Redakteur. Interessiert sich für Retro- und Cyberkulturen, Medientheorien und Brass Band Jazz.
E-Mail: christoph.bock@parapluie.de |
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