Julia Jenkins liest von Emily Dickinson: My Wars Are Laid Away In Books… In Büchern lagern meine Kämpfe –
der amerikanischen Lyrikerin Emily Dickinson, neu übersetzt und ausgewählt von Gunhild Kübler. Nach dem Erfolg der Buchausgabe bringt Julika Jenkins den feingeknüpften Teppich von Wörtern zum Klingen – Poesie im eigentlichen Sinn.
kein & aber records, Covertext, 2007
Die amerikanische Dichterin Emily Dickinson (1830–1886) ist eine der erstaunlichsten Gestalten der Literaturgeschichte. Eine Einzelgängerin, die Weltliteratur schrieb und auf allen Ruhm zu Lebzeiten verzichtete. Noch nicht einmal ihre engsten Angehörigen und Freunde ahnten, dass die Nachwelt sie zu den Größten unter den englischsprachigen Lyrikern zählen würde. Bis zu ihrem Tod waren nur zehn ihrer rund 1.800 Gedichte gedruckt worden, noch dazu anonym und ohne ihre Zustimmung.
Emily Dickinson entstammt einer angesehenen, bildungsbewussten Familie und hat ihre Heimat, das neuenglische College-Städtchen Amherst, Massachusetts, kaum je verlassen. Ihr Vater, Jurist und zeitweilig Kongressabgeordneter der Konservativen, sorgte dafür, dass neben dem einzigen Sohn auch seine beiden Töchter eine gute Schul- und College-Ausbildung erhielten. Doch für eine dichtende Tochter hatte der puritanische Patriarch kein Verständnis. In seinen Augen vertrug sich weibliche Selbstachtung nicht mit öffentlichen Auftritten.
Schon als Kind war Emily Dickinson für ihren Witz, ihre Schlagfertigkeit und ihren kristallklaren, rebellischen Geist bekannt. Früh von Todesfällen in Familie und Freundeskreis erschreckt, litt sie zeitlebens unter der Angst vor dem Verlust geliebter Menschen. Auch die Religion bot ihr keinen Trost, zumal sie gegenüber kirchlichen Heilsversprechen skeptisch war. Als einzige in ihrer Umgebung stemmte sie sich jahrelang gegen die religiösen Erweckungsbewegungen, die Neuengland damals periodisch erfassten.
Bereits von Jugend auf muss sie Gedichte geschrieben haben. 1858 sichtete sie alles bisher Entstandene, verwarf vieles und vernichtete Vorstufen. Von dieser Zeit an verstand sie sich selber als Lyrikerin und begann, ihre Gedichte in eigens zusammengenähten Manuskriptheftchen zu bündeln. Insgesamt vierzig solcher Heftchen füllten sich nach und nach mit mehr als 800 Gedichten. Auch bei Dickinson – wie bei vielen großen Dichtern – beschränkte sich die stürmische Produktion von Gedichten auf relativ wenige Jahre. Nach 1864 brachte sie keine Ordnung mehr in ihre private Gedichtsammlung. Sie notierte die Texte einzeln auf Briefbögen und später bloß noch auf herumliegende Blätter, Abrisse von Briefumschlägen, Einwickelpapier, Reklamezettelchen.
Nach ihrem dreißigsten Geburtstag geriet sie in eine emotionale Krise, über deren Ursachen viel gerätselt worden ist. Sicher ist, dass ihr zu dieser Zeit ihre Verlassenheit von allen, an die sie sich am engsten angeschlossen hatte, qualvoll zum Bewusstsein kam. Hinzu kam vermutlich eine unerfüllte Liebe. Dickinsons letzter und gewissenhaftester Biograph Alfred Habegger nennt als wahrscheinlichsten Kandidaten für die Rolle des Unerreichbaren den als Kanzelredner berühmten Reverend Charles Wadsworth, sechzehn Jahre älter als Emily Dickinson und verheiratet.1 Sie muss ihn als 25-Jährige bei einem Besuch in Philadelphia gehört und seither über Deckadressen mit ihm in Briefkontakt gestanden haben. Ende 1861 zog er mit seiner Familie für einige Jahre nach Kalifornien, was den Briefwechsel schwierig machte, vielleicht sogar zeitweise zum Erliegen brachte.
„In jeder Trennung liegt ein Keim von Wahnsinn, man muss sich hüten, ihn nachdenklich auszubrüten und zu pflegen“, schreibt Goethe in seinen Maximen und Reflexionen. Einen vergleichbaren Keim hat Emily Dickinson mit größter Hingabe ausgebrütet und gepflegt. Lust und Qual gingen ein in Aberhunderte von Gedichten – Liebes-, Sehnsuchts-, Klage-, Zorn-, Erzähl- und Bilanzgedichte, in welchen sie sich das innere Drama ihres Lebens wieder und wieder vor Augen führt. Wie die alten Mystiker überblendet sie dabei erotische Bilder mit religiösen und umgekehrt. Das Geschehen wird variiert, transponiert und durch sämtliche emotionalen und sprachlichen Klimazonen verschoben.
Sie war ein Genie der Verwandlung dessen, was sie bewegte, in lyrische Ich-Erzählungen. Nicht jedes Detail ist dabei biographisch zu deuten. „Ich wohne in der Möglichkeit“ (466), das bedeutet für diese Dichterin auch, das Erfahrene mit der Wahrheit des Imaginierten zu konfrontieren. Viele Gedichte führen einen Dialog mit dem Geliebten. Einige fantasieren atemlos eine Hochzeit oder stürmische Nächte der Erfüllung (185, 269). Es gibt Liebeserklärungen von entschlossenem Pathos (279) und daneben witziges Geplauder über die Zugeknöpftheit des Unerreichbaren (299). Einige Gedichte erkennen in geografischen Gegebenheiten Sinnbilder dieser Liebe oder sie vergleichen sie mit einer riskanten Investition (129, 426). Andere reden von einer Begegnung nach Jahrzehnten oder sogar erst nach dem Tod (1405, 1226, 1731).
Sehnsucht schafft sich leuchtende Bilder und kleine, träumerisch, aber klar gesehene Szenen (368, 537, 802). Viele Gedichte umkreisen eindringlich intensive Schmerzerfahrungen oder Todeswünsche (340, 372, 552, 588, 1117). Manche listen zornig Vorwürfe auf und rechnen hochmütig mit dem Geliebten ab (827, 1311). Spätere Gedichte sind markant kürzer, die Verse werden knapper, der Ton lakonisch. Nun blickt dieses lyrische Ich auf vergangene Kämpfe zurück, gelassener als früher, ernüchtert, manchmal trotzig, sarkastisch, manchmal auch humorvoll (900, 910, 926, 958, 961, 995, 998, 1209, 1579). Hatte denn dieses Liebesobjekt je einen Wert an sich? Wer es nicht besaß, wird es nie erfahren (1228).
In jener Krisenzeit nach ihrem dreißigsten Geburtstag begann Emily Dickinson, schlichte weiße Hauskleider zu tragen – ein guter Grund, sich von niemandem mehr sehen zu lassen. Sie wurde dafür bekannt, dass sie nicht bekannt sein wollte. Den Kirchgang hatte sie schon früh eingestellt, jetzt hörte sie auch auf, Verwandte und Freunde zu besuchen. Undenkbar, dass sie zum Geplauder im Lesezirkel von Thomas Higginson, ihrem selbst erwählten Mentor, nach Boston gefahren wäre. Sie verließ ihr Vaterhaus nicht mehr. Später war sie auch dort kaum mehr zu sehen und verkehrte mit Besuchern nur noch durch den Spalt ihrer angelehnten Schlafzimmertür. So wurde sie schon zu Lebzeiten eine Legende – die menschenscheue Eremitin von Amherst.
Jedoch zeigt neben ihren Briefen auch ihre Lyrik, dass dieses Bild falsch ist. Dickinson hat zwar weltabgeschieden gelebt, aber fast 1.200 Briefe an mehr als 90 Briefpartner hinterlassen, war also an menschlichen Beziehungen alles andere als desinteressiert.2 Der Umgang, den Menschen miteinander pflegen, ist denn auch eins der zentralen Sujets ihrer Lyrik – neben der Auseinandersetzung mit Natur, Vergänglichkeit, Tod und vor allem mit dem eigenen Dichtertum (519, 772, 788, 1263, 1268, 1779). „Freilich ist Gott neidisch“, lautet eine ihrer Einsichten, „Er kann es nicht ertragen / Dass wir uns lieber miteinander / als mit Ihm selbst abgeben.“ (1752) Mit ihrer Korrespondenz verschaffte sich Dickinson ein wohlwollendes Lesepublikum für ihre Lyrik. Ein Drittel ihrer Gedichte legte sie ihren Briefen bei. Zwei Drittel aber schrieb sie für sich selbst und zeigte sie niemandem. Dickinson wusste, dass ihr lyrisches Werk zu früh kam, dass es in Ton und Denken, ja sogar in Schriftbild, Syntax und Grammatik für ihre biedere, frömmlerische Umwelt eine Provokation war. Sie ließ es in der Schublade.
Dort kam es erst nach ihrem Tod zum Vorschein, konnte aber aufgrund von Familienstreitigkeiten erst 1955 in philologisch befriedigender Form erscheinen, nämlich mit allen von der Autorin selbst erarbeiteten Varianten. Erst R.W. Franklin gelang es 1998, eine halbwegs verlässliche Chronologie von Dickinsons undatierten Gedichten zu erarbeiten. Das führte zur heute maßgeblichen, hier übernommenen Nummerierung der titellosen Texte. Ein Jahr später erschien Franklins Reading Edition, die um der besseren Lesbarkeit willen von allen Varianten jeweils eine einzige abdruckt, nämlich die, für die sich die Autorin zuletzt entschieden hat. Auf dieser Reading Edition fußt meine deutsche Übersetzung von mehr als 600 Gedichten, die im Herbst 2006 im Hanser Verlag erschienen ist und der die hier von Julika Jenkins vorgelesene Auswahl von nicht ganz 70 Gedichten entstammt.3 Möglichst viel von den suggestiven akustischen Finessen des Originals, vor allem aber Metrum, Rhythmus und Reimschema wollte ich dabei ins Deutsche retten. Dies in der Einsicht, dass es die Zauberspruchqualität von Emily Dickinsons Gedichten ist, die einen beim Lesen – und wie viel mehr noch beim Hören – zuallererst überwältigt und die noch das gewagteste Bild und den dunkelsten Gedankengang dieser Dichterin plausibel und zwingend macht.
Emily Dickinsons Lyrik ist ein singulärer Kosmos. Niemand, der ihn kennt und liebt, wird daraus mir nichts, dir nichts ein paar Dutzend „schönste Gedichte“ auswählen und zu einer Hitparade zusammenstellen, zumal gerade bei dieser Dichterin die „schönsten Gedichte“ in die Aberhunderte gehen. Und doch lockt die Möglichkeit, das Unmögliche zu versuchen. „Impossibility, like Wine / Exhilirates the Man / Who tastes it“ – Unmöglichkeit beschwingt, heißt es bei Dickinson (in Gedicht 939). Diese Erfahrung habe ich schon beim Übersetzen ihrer Gedichte auf Schritt und Tritt gemacht, und nun wieder – gemeinsam mit Julika Jenkins – bei der Auswahl der Texte für das Hörbuch.
Julika Jenkins liest die Gedichte in chronologischer Abfolge. So lässt sich – zumindest in Anhaltspunkten – verfolgen, wie Dickinsons wunderbar breites Spektrum von dunklen und hellen, leichten Sprechweisen sich entfaltet, wie Zug um Zug ihr Bilderhaushalt entsteht und welche dramatische Entwicklung ihr Werk dabei nimmt.
Den Auftakt machen frühe Gedichte, in denen trotz aller Konventionen sich Dickinsons Liebe zu logischen Gedichtstrukturen bemerkbar macht sowie die bereits zu Zaubersprüchen verdichtete Musikalität ihrer Sprache. Anfang der r86oer Jahre werden die Gedichte länger und rhythmisch freier. Die immer dichter von Gedankenstrichen durchsetzten Texte wirken wie unter großem innerem Druck aufs Blatt geworfen. Bild folgt auf Bild, wird fixiert und vom nächsten überboten in einer Aufgewühltheit, die erst nach dem Ende der Krisenjahre, etwa 1865, ein spannungsvolles Gleichgewicht findet.
Liebesgedichte haben in Dickinsons Lyrik einen breiten Raum. Dieser kommt ihnen auch in unserer Auswahl zu, und ebenso steht es mit ihren Gedichten über das eigene Dichtertum. Mit dabei sind auch berühmte „Dickinson-Klassiker“ (124, 207, 269, 466, 519, 764, 772, 778, 905, 1263, 1579, 1779). Und besonders gut vertreten sind die bisher unterschätzten lakonischen Gedichte aus den späteren Jahren.
Emily Dickinson ist leider bei allzu vielen bisher nur als rätselhafte Lyrikerin bekannt. Unsere Auswahl zeigt sie nun auch von ihrer eingängigen, hellen, ja humorvollen Seite – als eine für unser Zuhören offene, unserem modernen Lebensgefühl nahe, große Dichterin.
Gunhild Kübler, Vorwort
I dwell in Possibility –
A fairer House than Prose –
Von rund tausendsiebenhundertneunzig Gedichten, die sich in Emily Dickinsons Nachlaß fanden, wurden zu ihren Lebzeiten ganze zehn veröffentlicht.
Zwar hielt die Autorin ihre Arbeiten nicht direkt verborgen, doch beschränkte sie sich darauf, einen Teil der auf lose Blätter geschriebenen, sodann päckchenweise gebündelten und in einer Kommode aufbewahrten Verse zu kopieren und – manchmal in variierenden Fassungen – an Bekannte zu schicken, an etwa hundert Adressaten, von denen sie nur einen, Mr. Thomas Wentworth Higginson, literarisch ins Vertrauen zog.
Mr. Higginson, ein Literat aus einem puritanischen Neu-England-Geschlecht, der bald danach als Oberst in der Nordstaatenarmee im Bürgerkrieg kämpfte und verwundet wurde, hatte gerade im Atlantic Monthly einen Artikel veröffentlicht, der, unter dem Titel „Brief an einen jungen Mitarbeiter“, schreibenden Anfängern Ratschläge erteilte, als sich Emily Dickinson im April 1862 dazu entschloß, postalisch sein Urteil einzuholen:
Ich habe bisher keine Poeme verfaßt – nur ein oder zwei – bis zum letzten Winter – geehrter Herr –.
Diese Angabe, die die Dichterin über sich selbst machte, entsprach freilich keineswegs den Tatsachen, denn zu jener Zeit existierten bereits (wie später aus dem Nachlaß hervorgehen sollte) an die dreihundert Gedichte.
Emily Dickinson unternahm, als sie sich an Higginson wandte, den einzigen ernsthaften Versuch, mit ihrer Lyrik an die Öffentlichkeit zu gelangen. Doch entsprang das Motiv für ihr Handeln wohl weniger literarischem Ehrgeiz als einer psychischen Notwendigkeit. Das geht aus einer Bemerkung hervor, mit der die sonst so scheue Dichterin dem fremden Higginson mitteilte, wie sehr sie litt und wie unumgänglich es für sie war, schreibend den Pegel ihres Unglücks zu senken:
Ich war vom Entsetzen gepackt schon seit September – ich konnte mit niemandem darüber sprechen – und so singe ich jetzt wie ein Junge in der Nähe des Friedhofs – weil ich mich fürchte.
Dieser Satz, vorgetragen in der für die Dichterin so charakteristischen Art abrupten und durch Gedankenstriche zusammengehaltenen Schreibens, ist – sieht man von programmatischen Äußerungen innerhalb des künstlerischen Werkes ab – das poetologische Credo Emily Dickinsons, die im übrigen von Mr. Higginson zwar manchen Zuspruch erfuhr, nicht aber die (insgeheim wohl ersehnte) Förderung.
Die Lyrikerin war 1830 in Amherst, Massachusetts, geboren worden, einer Kleinstadt von ausgesprochen konservativem Gepräge. Der Vater, ein erfolgreicher Rechtsanwalt, der eine Zeitlang sogar in Washington Kongreßabgeordneter war, hätte ganz gewiß kein Verständnis für die Verse seiner Tochter aufgebracht, Texte von so bildhafter Kühnheit und weitgespannter Vorstellungskraft, daß sie erst von einer folgenden Dichtergeneration, den Imagisten, ganz begriffen wurden, etwa von Carl Sandburg, der in seinen 1916 erschienenen Chicago Poems der Dichterin nachrühmte:
Du zeigtest uns die Hummel, die eine Seele hat,
Diese ewige Pilgerin zwischen Stockrosen,
Und wie Gott in einem Hinterhofgarten spielt.¹
Sandburg, den man zuweilen als bloßes Rauhbein angesehen hat, besaß ein immenses Gespür für das Wesen der Lyrikerin, die der Natur gegenüber eine neue Wahrnehmungssensibilität aufbrachte und dabei Gott aus den starren und bigotten Interpretationszusammenhängen befreite, in die ihn calvinistische Dogmatiker gezwängt hatten.
Emily Dickinson wagte es, einen dissonanten Ton anzuschlagen und den Staub der Frömmelei von der Bibel wie von den Dingen und Szenerien des Alltags zu blasen:
Ist Gott ein Arzt? Man redet
Von seiner Heilungskraft –
Doch gibt es keine Medizin,
Die Tote lebendig macht –
Ist Gott Finanzminister?
Man sagt, wir schulden viel –
Jedoch bei dieser Transaktion
Halt ich mich aus dem Spiel –² (¹)
Oder:
Zu sterben – ohne daß man stirbt
Und Leben – ohne Leben
Dies wird als schweres Wunderwerk
Dem Glauben aufgegeben.²
Religiöser Zweifel mischte sich mit sensualistischer Neugier, Spott mit Innigkeit, Liebesenttäuschung mit metaphysischem Verlangen:
Wenn die Rotkehlchen wiederkommen
Und ich sollte nicht mehr leben,
Mußt du dem mit der roten Krawatte
Ein Gedächtniskrümchen geben.
Wenn ich dir nicht danken kann,
Weil ich just schlief ein,
Weißt du doch: versuchen werd ich’s
Mit dem Mund von Stein.³
Die Lyrik Emily Dickinsons ist von radikaler Modernität, völlig abgehoben von den Elaboraten der Kultur, die ihren Lebenshintergrund bildete:
Ich zog einen Wechsel aufs Leben.
Man zahlt, wie jedermann weiß,
Dafür die volle Existenz,
Das ist so der übliche Preis.
Sie legten mir Brocken für Brocken hin
Und gaben mir Schein für Schein –
Mein ganzes Guthaben reichten sie mir:
Einen einzigen Traum vom Himmel.³(¹)
Eines der Gedichte beginnt mit der Verszeile „Sag alles wahr, doch sag es schräg“. Hier haben wir ein Programm, das bereits in die Zukunft weist, eine Poetik, die viel von der Moderne vorwegnimmt, dem ironisch untertreibenden Sprechen, das ein leichteres Einbringen persönlicher Gefühle ermöglicht, einen diskreten Confessionalismus:
Ich bin ein Niemand? Wer bist du?
Bist ein Niemand – auch du?
Dann sind wir beide ein Gespann.
Pst! – Daß man uns bloß nicht hören kann.
Wie elend ist es – jemand zu sein!
Wie elend – vor jedem Ohr –
Den eignen Namen rauszuschrein,
So wie ein Frosch im Moor!¹
Emily Dickinson, die schon in ihrer Schulzeit blaß und nervös gewirkt hatte, entwickelte sich bald zu einem eigentümlichen Menschen von großer Scheu, doch gelegentlichem Humor. Und nachdem sie im Alter von dreißig Jahren damit begann, sich ausschließlich weiß zu kleiden, bekamen auch die Freunde der Familie sie fast nie mehr zu sehen; ja, nach 1882 versteckte sie sich sogar dann in einem dunklen Nebenraum, wenn die Nachbarin, Mrs. Todd, ins Haus gekommen war, um auf dem Klavier Scarlatti, Bach oder Beethoven zu spielen.
Obwohl die Dichterin sich – vermutlich wegen ihres wenig vorteilhaften Aussehens – seit der Kindheit nicht hatte abbilden lassen und sich nach 1870 überhaupt nicht mehr aus der Obhut des heimischen Grundstücks begab (ihre weitesten Wege führten bis in den Garten), war sie bemüht, die betuliche Nähe ihrer ebenfalls jüngferlichen Schwester Lavinia zu ertragen. Allerdings hielt sie zu ihrer Familie einigen Abstand, etwa, wenn sie die Kirchenbesuche unterließ oder das Verhalten ihrer Eltern kritisierte:
Vater und Mutter sitzen im Feiertagsstaat im Wohnzimmer, und sie lesen natürlich nur Zeitungen, von denen sie genau wissen, daß in ihnen nichts Fleischliches steht.
Emily besaß die Fähigkeit, die Ursachen der persönlichen Misere in der moralischen Engstirnigkeit des Milieus zu sehen. Und ihr wacher Verstand erwies sich als recht nützlich, wenn es galt, der verletzten Sensibilität in boshaften Episteln Luft zu machen. „Sie meinen“, so schrieb sie beispielsweise an Higginson, kaum daß sie Kontakt zu ihm aufgenommen hatte, „ich bewege mich ,verkrampft‘ voran… Hätten Sie denn Zeit, jener ,Freund‘ zu sein, den ich Ihrer Ansicht nach benötige? Ich bin von Gestalt ziemlich klein, und auf Ihrem Schreibtisch würde ich bloß wenig Platz in Anspruch nehmen…“
In einem anderen Brief an Higginson finden sich offene Worte, die ungewöhnlich schonungslos ihre Angehörigen charakterisieren:
Ich habe einen Bruder und eine Schwester. Meine Mutter hält nicht viel vom Denken, und mein Vater hat immerfort mit seinen Papieren zu tun, da kriegt er nicht mit, was wir machen. Zwar kauft er mir viele Bücher, doch legt er mir nahe, sie nicht zu lesen, denn er befürchtet, die Bücher könnten meinen Geist verwirren. Alle hier sind – von mir abgesehen – fromm; und sie beten jeden Morgen zu einem unsichtbaren Wesen, das sie ,ihren Vater‘ nennen.
Mit Hilfe ihres Spottes gelang es Emily, die (frühzeitig ins Kosmische transponierte) Verzweiflung allmählich in einen erträglichen Dauerschmerz zu verwandeln, so daß sie 1881 – fünf Jahre vor ihrem Tod – mit sublimer Selbstironie sagen konnte:
Mein Widersacher wurde alt
wir sind nun langsam quitt –.
Als dann die ersten postumen Auswahlbände erschienen, gab es fast augenblicklich Spekulationen über die Gründe, die dazu geführt haben mochten, daß die Dichterin unverheiratet geblieben war. Und heute, da die Legenden, die das Werk zu überwuchern drohten, als Phantastereien entlarvt worden sind, wissen wir von zwei Männern, die, zu verschiedenen Zeiten und jeder auf seine Weise, eine Rolle in Emily Dickinsons Leben gespielt haben.
Der eine, Benjamin Franklin Newton, hatte als Jurastudent in dem Dickinsonschen Anwaltsbüro gearbeitet; durch ihn wurde Emily mit den Arbeiten der Brontë-Schwestern wie auch mit der Poesie Emersons bekannt. Dennoch kam der Schock, den die Dichterin erfuhr, wohl weder dadurch zustande, daß der Freund eine Ehe einging, noch dadurch, daß er bald starb.
Vielmehr war es die Zuneigung zu einem anderen Mann, zu dem Reverend Charles Wadsworth von der presbyterianischen Kirche in Philadelphia, die Emily in ihre bräutlich-weiße Trauer trieb:
A solemn thing – it was – I said –
A Woman – white – to be –
Charles Wadsworth, ein schon älterer verheirateter Mann und Vater, war, obwohl Emily ihm wahrscheinlich nur selten und kurz begegnet ist, seit 1854 immer mehr zur zentralen Figur allen Erlebens geworden.
Als Wadsworth 1861 einem Angebot folgte und nach San Francisco an die Calvary Church ging, begann jener Lebensabschnitt, in dem das Wort Calvary (= Golgatha, Schädelstätte) zu einer Schlüsselmetapher wurde. Jetzt wurde jedes Rollenspiel, jede poetische Mimikry unhaltbar:
At last, to be identified!
Endlich zu wissen, wer man ist!
Unverhofft fand die Dichterin ihre existenzielle Bestimmung, nach der sie gesucht hatte… nun als sie sich herausgefordert sah, die eigene Identitätslosigkeit zu bezeugen.
Die gestaute Lebenskraft, die sich künftig nicht einmal mehr auf illusionäre Art nutzen ließ, konnte nur noch mit Inbrunst auf ein Absolutes transzendiert werden… ein Absolutes, das freilich nicht mehr gleichgesetzt wurde mit dem Begriff eines heilen Jenseits. Denn Sentenzen wie
This World is not Conclusion.
A species stands beyond –
Diese Welt ist nicht das Ende
Ihr folgt noch etwas nach –¹
stehen Verse gegenüber, die vom Leben keine Zukunft und vom Tod keine Unsterblichkeit erwarten:
Das Herz sucht Lust – zuerst –
Und dann – Erlaß vom Leid –
Und dann – ein Stillungsmittel,
Das jeden Schmerz betäubt –
Und dann – zur Ruh zu gehn –
Und dann – in letzter Not –
So es sein Inquisitor will
Das Anrecht auf den Tod –²
Hineingewachsen in eine Tradition frustrierender Normen, brachte die Dichterin zwar die Energie auf, die zu einer asketischen Lebensweise nötig war; ihre Lyrik aber, der problematische Gewinn aus Verzicht und Abgeschiedenheit, konnte und kann lediglich mit Einschränkungen als religiös gelten. Ähnlich wie zwei Jahrhunderte zuvor die mexikanische Nonne Juana Inés de la Cruz war auch Emily Dickinson gezwungen, ihre christlichen Wertvorstellungen in Relation zu den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen zu setzen, mit dem Resultat, daß die Idee einer paternistischen Weltordnung an Bedeutung verlor und sich ein Verlangen nach Naturhaft-Bewußtseinslosem einstellte:
The Grass so little has to do
I wish I were a Hay –
So wenig hat das Gras zu tun
Ich wünscht, ich wär ein Heu –
Emily Dickinson brachte in ihren Versen Stimmungs- und Bewußtseinslagen zum Ausdruck, die andere Poeten nur in konventioneller Sprache oder in theoretischer Terminologie formulieren konnten. Ob es sich darum handelte, die Unwahrheit tradierter Sprüche zu entlarven („Man sagt, – die Zeit bringt Linderung. – / Die Zeit hat nie gelindert“); oder ob sie die Erde als ein relativierbares System kausaler und räumlicher Zuordnungen beschrieb („,Morgen‘ – heißt ,Melken‘ – für den Farmer – / Für Teneriffa – ,Dämmerung‘“): stets gelangen ihr, die alle Erlebnisse tief in sich eindringen ließ, Verbalisierungen, die Umschmelzungen und Neuschöpfungen waren:
Es klang, als kämen die Straßen gelaufen
Und dann – standen die Straßen still –
Oder:
Lustig – ein Jahrhundert zu sein –
Und zu sehn – wie die Leute passieren –
Diese Lyrikerin, die sich an der Bibel, an Shakespeare, an den englischen Metaphysikern sowie an Keats und an den Brownings geschult hatte, schrieb Gedichte, die, wenn sie auch noch metrisch gebunden sind, dadurch bereits etwas extrem Avantgardistisches haben, daß sie häufig mit einer frappanten Gnome oder einer unkonventionellen Metapher beginnen:
Drowning is not so pitiful
As the attempt to rise.
Oder:
The Face I carry with me – last –
When I go out of Time –
Oder:
Much Madness is divinest Sense –
To a discerning Eye –
Anschließend an solche Formulierungen wurde sodann der stoffliche Komplex meist nur noch abgewandelt, abgeschwächt, inhaltlich verwässert und sprachlich verwackelt. Doch erwiesen sich Ironie und Paradoxon als Mittel, die vor Rhetorik ebenso bewahrten wie vor Sentimentalität:
My life closed twice before its close;
It yet remains to see
If Immortality unveil
A third event to me,
So huge, so hopeless to conceive
As these that twice befel.
Parting is all we know of heaven,
And all we need of hell.
Schon zweimal schloß vor seinem Schluß
Mein Leben, laßt nun sehen,
Ob Ewigkeit zum dritten Mal
Mir zuteilt solch Geschehen,
So unbegreiflich hoffnungslos
Wie die zwei ersten Fälle.
Scheiden – das weiß man vom Himmel bloß –
Und das reicht für die Hölle.³
Emily Dickinson, die mit kritischer Vehemenz den Kommerzialismus Neu-Englands anprangerte, wenn sie sagte „Ihr Reichen – lehrt mich – arm zu sein“, war sich, zumindest bis zu einem gewissen Grade, der gesellschaftlichen Besonderheit ihrer Lage bewußt.
Doch wenn sie auch spürte, daß es ihre spezifischen Umstände waren, die sie zu Untätigkeit und femininer Wesenlosigkeit verurteilten, so erschöpfte sie sich keinesfalls in der Attitüde bloßen Protests. Dazu war sie zu sehr in metaphysischen Vorstellungen gefangen:
Die Abdankung des Glaubens
Engt das Verhalten ein –
Besser einem Irrlicht folgen
Als im Finstern sein –
Diese Verse, vermutlich vier Jahre vor dem Tode geschrieben, lassen erkennen, daß die Dichterin letztlich eine elegisch-ironische Wartestellung zwischen christlicher Religiosität und naturwissenschaftlichem Erkenntnisdrang eingenommen hat.
Emanzipationswille brachte für sie, die den Denkkategorien ihrer Zeit und den Bedingtheiten ihres Milieus nicht völlig Entwachsene, keine faktische Befreiung, sondern im Gegenteil ein intensiviertes Kerkererlebnis, zumal es ihr nicht möglich war, die sexuelle Komponente ihrer Situation schon so klar zu erkennen, wie das später etwa der junge Eliot oder – nach ihm – Robert Creeley vermochten, Lyriker, die sich dem Puritanismus bereits bewußt widersetzen konnten.
Für die Dichterin aus Amherst gab es noch keinerlei Gelegenheit, die eigene Problematik im Gespräch, im kreativen Dialog mit einer größeren Öffentlichkeit oder auch nur einer eingeweihten Minderheit, zu klären. Emily Dickinson war gezwungen, ihren Konflikt, mochte er noch so dynamisch nach außen drängen, zu verinnerlichen.
Weil ihr jedoch die soziologisch-psychologischen Wechselwirkungen weitgehend unbewußt blieben, kam es zu einem immensen Affektstau, der sich in abrupter Bildhaftigkeit entlud. Der Raum, in den hinein die Dichterin projizierte, war eine pantheistische Region, die jedoch konkreter war als die (mehr intellektualistisch beschaffene) Bezugswelt der Transzendentalisten.
Von Kindheit an mit den Erkenntnissen der Botanik, der Astronomie und der Chemie vertraut, ging es Emily Dickinson darum, die „einfachen Nachrichten der Natur“ zu registrieren und deren Botschaft mit einer Genauigkeit weiterzugeben, die ihrer Poesie die Qualität empirisch-sensualistischer Anschaulichkeit verlieh:
Eine Prärie zu schaffen brauchts
Nur etwas Klees und einer Biene.
Etwas Klees und einer Biene.
Und dazu des Traums.
Der Traum vollbringt es auch allein,
Sollte Mangel an Bienen sein.¹
Während sich die Poeten ihres Landes – und besonders die der Neu-England-Kultur – noch mit abgenutzten Formen und leergedroschenen Sprachbildern abplagten, schrieb Emily Dickinson eine Lyrik, in die modernes Vokabular wie selbstverständlich einfloß und die einem neuzeitlichen Lebensgefühl Ausdruck gab, das sich sonst in Amerika nur bei Walt Whitman fand, dem Rhetor vom Hudson.
Emily Dickinson, die auf geradezu mediale Weise zum Ausdruck brachte, was die Verdrängungen und Krankheiten ihrer Epoche und ihres soziokulturellen Umfeldes ausmachten, gehört zu den Autoren, die zu früh geboren werden, um den Ruhm, der ihnen zukommt, erleben zu können. So tröstete sie sich damit, daß ihr „die Anerkennung“ ihres treuen Hundes und ihr „barfüßiger Rang“ lieber und wichtiger seien als öffentliche Anerkennung.
Wie bei allen verkannten Poeten, die, wenn sie endlich vom breiten Publikum entdeckt werden, ihre besten Impulse bereits an wahrnehmungsbereite jüngere Dichter weitergegeben haben, ließ sich auch bei der Lyrikerin aus Amherst später nur intellektuell – nur ,akademisch‘ – nachvollziehen, was für ein starker Effekt von ihren Arbeiten ausgegangen ist, als diese in der Literatur ohne Beispiel waren.
Seit 1955 liegt das Gesamtwerk vor: in einer dreibändigen Ausgabe der Harvard University Press. Diese mit Akribie und Kennerschaft erarbeitete Präsentation bringt auch Varianten bei, und sie trägt den stilistischen und grammatikalischen Eigenwilligkeiten der Künstlerin Rechnung, die sich über die Konventionen ihrer Zeit und über die lingualen Barrieren ihres – in starren Vorstellungen befangenen – Kulturmilieus hinweggesetzt hatte, so daß erste Editoren gemeint hatten, nur mit „bereinigten“ Versionen an die Öffentlichkeit treten zu können.
Die Harvard-Ausgabe machte die Modifikationen von zweiter und dritter Hand rückgängig, und als 1958 auch noch eine dreibändige Briefsammlung erschien, konnten durch die publizierten Tatsachen eine Reihe von Mythen und Legenden zurückgestutzt oder doch halbwegs unter Kontrolle gebracht werden, zumal es bereits seit 1974 eine Dickinson-Biographie gab, deren Verfasser Richard B. Sewall auf mehr als achthundert Seiten eine gründliche Sichtung der Lebensumstände betrieben hatte, unter Berücksichtigung auch des Umfeldes, einschließlich der tangierenden Personen und Geschehnisse.
Übersetzer: 1 = Hans-Jürgen Heise, 2 = Lola Gruenthal, 3 = Julius Bab. – Von den verschiedenen deutschsprachigen Annäherungen an Emily Dickinson seien, außer den relativ frühen von Julius Bab, hier vor allem die von Lola Gruenthal genannt, die 1987 im Henssel Verlag, Berlin, erschienen sind: Guten Morgen, Mitternacht. Gedichte und Briefe.
E. D., ein Nachtrag
Emily Dickinson bildet, in gleichberechtigter Zuordnung zu Walt Whitman, den Beginn einer eigenständigen, von allen englischen Einflüssen befreiten amerikanischen Poesie.
Whitman, der Psalmodist der Moderne, hatte in seinen kraftvoll heranbrandenden Langzeilen die Schranken zwischen Vers und Prosa absichtsvoll niedergerissen. Dickinson, nur scheinbar weniger radikal als er, bediente sich zwar noch des Reims und der Strophe – sie entwickelte aber ein weitaus diffizileres Menschenbild als der ins Allgemeine und oft Triviale strebende Herold eines neuen Zeitalters, der in seinem vereinnahmenden Ungestüm schon viel vom späteren US-Imperialismus vorwegnahm und für die Zukunft sogar den Besitz Canadas und Cubas beanspruchte… verbunden mit der elitären These, daß die Welt stets von der „Individualität einer einzelnen Nation“ geleitet werden müsse und daß es keinen Zweifel daran gäbe, „wer dieser Führer sein würde“.
Das öffentliche Leben berührte Emily kaum. Und von Whitmans Grashalmen, als deren erste Ausgabe erschienen war, sagte sie, daß sie sie nicht lesen wolle, weil sie, dem Hörensagen nach, schändlich seien. Nicht der Weg hin zum „Massenmenschen“ interessierte sie, sondern, im Gegenteil, der der Introversion.
Spätestens seit dem Ende der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts bildet die Dichterin eine Art agnostischer Ein-Personen-Gemeinde, für die Leben und Sterben „nunmal keine Schulaufgabe“ sei. Sie zieht sich jetzt ganz in ihr Geburtsstädtchen zurück, wo sie sich in der klösterlichen Abgeschiedenheit des Elternhauses in die Obhut ihrer – ebenfalls unverheiratet gebliebenen – Schwester Lavinia begibt.
Die äußere, die politische Großwetterlage bleibt unbeachtet. Der Raub immer weiterer Indianergebiete. Die Haltung von Negersklaven im Baumwollsüden. Und, noch in ihrer Jugend, der Krieg gegen Mexico und die Annexion von Texas, Californien und anderen Regionen.
Sogar der Bürgerkrieg von 1861 bis 1865 hinterläßt lediglich Spuren, soweit er in das Leben von Verwandten und Bekannten eingreift. Ihr Kriegsschauplatz, gerade in diesen Jahren, ist, Hans Galinsky zufolge, das menschliche Herz, ein Ort der Schrecknisse, an dem eine psychische Revolution ausgetragen wird – nicht anders als bei Kierkegaard, Dostojewski, Nietzsche, Rilke, Benn, Pessoa.
Emily Dickinson scheint durch eine harte Schule in das Exil ihrer freiwilligen Abgeschiedenheit gegangen zu sein. Ihren Angehörigen und Zeitgenossen wesensmäßig fern, kennt sie nur zwei Mittel, sich auszudrücken: das Gedicht und den Brief.
Bei diesen Gattungen ist die Zählung bis heute nicht abgeschlossen. Der Stand der Verse war letzthin 1.789, der der Episteln und Kurzbillete 1.049. Beide Genres verfließen ineinander: in den Briefen befinden sich Gedichte, und manche der Mitteilungspassagen haben rhythmischen Charakter oder hochmetaphorischen Gehalt:
Sie waren nicht hier im letzten Sommer. Sommer? Die Erinnerung flattert – hatt ich – gabs einen Sommer?
Die Autorin scheint eine Existenz im Konjunktiv geführt zu haben. Außerdem liebte sie es, auf versteckspielerische Weise zu argumentieren:
Das Rätsel, das man löst
Schätzt man sogleich gering –
Hier könnte der Schlüssel zur Camouflage ihres Wesens liegen. Die Poetin hatte vermutlich ein Kindheitstrauma, über das sie nicht sprach, höchstens andeutungsweise:
Eine Mutter hatte ich nie. Eine Mutter, nehme ich an, ist eine, zu der man läuft, wenn man Kummer hat.
Eine Erwachsene, die sich so ihrem literarischen Mentor mitteilt, leidet noch immer unter einem Mangel an früher Fürsorglichkeit. Doch längst ist die zu Stolz gestählte Verletzlichkeit keinem fremden Willen, keiner erzwungenen Gesellschaft und, in emotional-intellektueller Hinsicht, keiner noch so gut gemeinten Lektüre-Empfehlung mehr zugänglich:
Verzückung läßt sich nicht erzwingen.
Emily Dickinsons spirituelles Sehnsuchtsgefühl war weit entfernt vom metaphysisch entkernten Frömmeln Neu-Englands. Wo andere Gebete herleierten, schrieb sie Gedichte. Die allerdings entfalteten sich in der Spannung zwischen dem Gedanken, Darwin habe mit seinem Werk über die Entstehung der Arten ,den Erlöser‘ quasi ausgemustert, und einem transzendentalen Absolutheitsverlangen, das immer wieder zum Ausdruck drängte, in Versen wie in Briefen.
Das Ewige, meinte die Dichterin, ist in keinem Ersten und keinem Letzten – sein Zentrum ist stets gegenwärtig; es genügt, zu glauben und den Glauben anzunehmen. Vom Werk Emily Dickinsons geht ein Zauber sonderbarer Entrückung aus, der weniger durch Empathie als durch Intensität entsteht – durch eine Verschworenheit mit den Dingen, die als Chiffren des Universellen gesetzt sind:
Die Welt kennt uns nicht, weil wir sie nicht kennen.
Die Verse, die schon dem amerikanischen Leser als schroff gereimte Gedanken- und Bild-Torsi entgegentreten, sind ungemein schwer ins Deutsche zu transponieren. Das zeigt sich auch in der bilingualen Sammlung des Carl Hanser Verlages, die, von Gunhild Kübler besorgt, zwar das bisher umfangreichste Kompendium an Gedichten Emily Dickinsons ist, das uns bisher zugänglich gemacht wurde, das aber schon in seinen Auftaktzeilen fast nie die granitene Schärfe erreicht, mit der Amerikas bis heute bedeutendste Poetin frappiert und überzeugt: „My wars are laid away in books“ – das besitzt mehr sprachliche Stoßkraft als „In Büchern lagern meine Kämpfe“. Oder, noch ein beliebiges Beispiel:
We outgrow love, like other thing
And put it in the Drawar –
deutsch:
Der Lieb entwachsen wir, wie allem
Und schieben sie in Laden –
Leichter hat es da natürlich Uda Strätling, die Übersetzerin ausgewählter Briefe, die auch editorisch die bessere Arbeit leistet, ein sehr präzises Vorwort schreibt und einen aufschlußreichen Apparat erstellt, der Kunde vom Leben einer Frau gibt, die sich durch unwegsames geistliches und geistiges Gelände einen eigenen Pfad schuf – unbekümmert um ihren Nachlaß, für den sie, hierdurch einen langen unerbittlichen Erbstreit schaffend, keinerlei Vorkehrungen traf.
Hans-Jürgen Heise, Erstpublikation in: Hans-Jürgen Heise: Wenn das Blech als Trompete aufwacht. Essays, Kowalke & Co Verlag, 2000 (Eine Vorstufe in: Hans-Jürgen Heise: Das Profil unter der Maske. Essays, Claassen Verlag 1974) – „E. D. – ein Nachtrag“ in: Neues Deutschland, 27.10.2006
– Übersetzen als Daueraufgabe (Emily Dickinson in deutscher Neufassung). –
Das Neu- oder Nachübersetzen literarischer Texte hat schon seit geraumer Zeit Hochkonjunktur. Nicht nur zahlreiche Werke aus dem kanonischen Fundus der Weltliteratur (darunter Shakespeares Sonette, Melvilles Moby Dick, Manzonis Brautleute, die Versdichtungen Puschkins und die späten Romane Dostojewskijs), sondern auch manche Klassiker der europäischen Moderne wie Yeats, Eliot, Lorca, Belyj, Pasternak, Svevo, Ungaretti u.a.m. sind in den vergangenen Jahren in neuer deutschsprachiger Fassung erschienen. Allein von Henry Fieldings Monumentalroman Tom Jones sind aus den vergangenen Jahren drei vollständige Neuübersetzungen greifbar.
Diese zum Trend gewordene Tendenz kann zweierlei Gründe haben. Entweder geht es darum, bereits vorliegende Übersetzungen philologisch auf Fehler oder Auslassungen im Text zu überprüfen, sie also zu revidieren, oder es besteht das Bedürfnis nach weitergehender stilistischer Bereinigung beziehungsweise nach der Anpassung eingedeutschter Vorlagen an zeitgenössische Lektüreerwartungen. Beide Zugänge sind berechtigt, die jeweils angewandten Verfahren unterscheiden sich allerdings fundamental. Während der philologische, vorab auf Korrektheit angelegte Zugang den Weg zurück zum fremdsprachigen Originaltext neu eröffnet und dessen inhaltliches Verständnis optimiert, führt der stilkritische Zugang in aller Regel über die Originalvorlage hinaus, nicht selten mit dem Anspruch, die Übersetzung als eigenständige Nachdichtung in der Zielsprache zu etablieren und dadurch, im Unterschied zum philologischen Übersetzer, auch einen literarischen Mehrwert zu schaffen. Im einen wie im andern Fall kommt den bereits vorhandenen Übersetzungen, unabhängig von ihrer Qualität, fast ebenso grosse Bedeutung zu wie den fremdsprachigen Originaltexten.
Jede Neuübersetzung ist eine Nachübersetzung, deren Berechtigung der Übersetzer durch seine Arbeit beweisen muss. Wer neu übersetzt, provoziert naturgemäss den Vergleich mit jenen früheren Übersetzungen, die er für korrekturbedürftig hält. Von neu übersetzten Texten erwartet man gemeinhin, dass sie ältere Fassungen ersetzen, weil sie „besser“ sind als diese – „genauer“, „leichter lesbar“, „poetischer“, „moderner“, „eleganter“ u.ä.m. Für den Nachübersetzer wiederum können derartige Erwartungen zur Belastung werden, in vielen Fällen hindern sie ihn daran, exzellente Lösungen seiner Vorgänger zu übernehmen, denn wer neu übersetzt, lässt sich ungern als Nachübersetzer bezeichnen und wird alles dafür tun, seine Kompetenz und Überlegenheit unter Beweis zu stellen.
Namentlich anhand von Paul Celans einflussreichen dichterischen Übertragungen oder, generell, von Shakespeares eingedeutschten Sonetten liesse sich zeigen, wie spätere Übersetzer gleichsam darum herum gedichtet haben – bloss um Übereinstimmungen zu vermeiden und selbst um den Preis, hinter ihren Wegbereitern zurückzubleiben. Die jüngsten Neuübersetzungen von Mallarmé, Mandelstam, Beckett oder Wenjamin Jerofejew bieten dafür reichlich Anschauungsmaterial, und man könnte, man sollte sich vielleicht doch einmal die Frage stellen, ob das umgekehrte Verfahren nicht um vieles produktiver wäre, nämlich die systematische Abfrage bereits vorliegender Übersetzungen nach brauchbaren, wenn nicht sogar optimalen Lösungen und deren Wiederverwertung für immer wieder neue, das heisst erneuerte Nachübersetzungen.
Die Daueraufgabe des literarischen Übersetzens wäre demnach als permanentes Recycling zu praktizieren. Jeder Neu- oder Nachübersetzer müsste sich für seine Arbeit dadurch rechtfertigen, dass er aus früheren Übersetzungen jeweils die besten Stücke unverändert beibehält und nur dort eingreift oder Eigenes beiträgt, wo Verbesserungen tatsächlich möglich, mithin auch nötig sind. – Der Neu- und Nachübersetzer ist in jedem Fall Mitübersetzer, doch statt sich positiv auf seine Vorgänger und Vorlagen zu beziehen, setzt er sich zumeist polemisch davon ab, um die eigene Arbeit aufzuwerten. Dennoch ist festzustellen, dass manch eine ambitionierte Neuübersetzung hinter den Texten, die sie zu ersetzen vorgibt, zurückbleibt.
Unwillkürlich kommt mir an dieser Stelle der „Fall Hatto“ in den Sinn, der vor einiger Zeit als Skandalon unter Musikern und Musikkritikern viel zu reden gab. Der britische Toningenieur William Barrington-Coupe hatte ab 1989 in seinem Label Concert Artist Records weit über einhundert CD-Aufnahmen mit Klavierkonzerten und -rezitalen unter dem Namen seiner Frau Joyce Hatto publiziert, einer kaum bekannten Pianistin, die in der Folge weithin – auch in der Fachpresse – als grosse, wenn nicht als „die grösste“ Virtuosin ihres Fachs belobigt wurde. Mehr als fünfzehn Jahre hat es gedauert, bis man herausfand, dass die Aufnahmen durchweg gefälscht waren: Barrington-Coupe hatte zahlreiche Produktionen anderer Pianisten übernommen und tontechnisch bearbeitet, wobei er Tempi und Klangfarbe minimal modifizierte, um für die Hatto einen eigenen interpretatorischen Personalstil zu entwickeln. Bevor er, durchaus zu Recht auf die Inkompetenz der Kritik vertrauend, ganze Stücke aus fremden Aufnahmen abkupferte, pflegte er private Einspielungen seiner Frau passagenweise mit anderen Interpretationen zusammenzuschneiden, so dass ein ingeniös ausgewogenes Patchwork aus eigenen und fremden Elementen entstand, welches der Pianistin den Ruf einbrachte, die „kompletteste“ aller lebenden Interpreten zu sein – von Bach bis Prokofjew schien sie die gesamte Klavierliteratur auf höchstem spielerischen Niveau zu beherrschen. Man darf dem findigen Tonmeister, bei aller Perfidie seiner langjährigen Betrügereien, zumindest guten Geschmack attestieren und ihn dazu beglückwünschen, die meinungsbildende Musikkritik tatsächlich „überspielt“ zu haben.
Doch ich rücke diesen Hinweis aus ganz andern Gründen an dieser Stelle ein, deshalb nämlich, weil ich den „Fall Hatto“ in Bezug auf literarisches Übersetzen für vorbildhaft halte. Vorbildhaft insofern, als hier frühere Interpretationen – vergleichbar mit Übersetzungen – nicht ausgeblendet, sondern systematisch genutzt werden, um zu immer besseren, schliesslich optimalen Einspielungen zu kommen. So stelle ich mir, beispielsweise, deutschsprachige Neuübersetzungen von Swifts Gulliver oder Baudelaires Fleurs du mal, von Puschkins Erzählungen oder Stendhals Romanen vor, die kompiliert wären aus allen bisher vorliegenden Fassungen beziehungsweise aus den jeweils besten Passagen, aber auch ergänzt durch neue Versuche, den Texten optimal gerecht zu werden.
Denn auch Übersetzer haben – nicht anders als interpretierende Musiker – ihre feststellbaren, manchmal „typischen“ Stärken und Schwächen. Die Schwächen sollten beseitigt werden, die Stärken erhalten bleiben. Eine ideale, eine definitive literarische Übersetzung wird auch so nicht gelingen, wohl aber – man denke an den Wettlauf Achills mit der Schildkröte – die stetige Annäherung an eine letzte, nicht mehr überbietbare Textfassung in der Zielsprache.
Doch zurück zu den Realien, zur Praxis, also, des Nachübersetzens. Anhand eines aktuellen Beispiels will ich meine Überlegungen präzisieren. Von Gunhild Kübler, bekannt als Rezensentin, Kolumnistin und vielfaches Jurymitglied, liegt seit kurzem eine umfassende, an Vollständigkeit grenzende Auswahl aus dem lyrischen Werk Emily Dickinsons in zweisprachiger, chronologisch konzipierter Edition vor (Emily Dickinson, „Gedichte“. Englisch und deutsch. Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort von Gunhild Kübler. Carl Hanser Verlag, München 2006). – Der Verlag bewirbt den Band mit dem Hinweis, die amerikanische Dichterin habe „in Deutschland bisher als Geheimtip“ gegolten, was durch die Tatsache widerlegt ist, dass es von Emily Dickinson rund ein Dutzend Buchpublikationen in diversen deutschen Übersetzungen gibt, die zu einem guten Teil noch immer greifbar sind. – Auch in diesem Fall soll also schlicht ausgeblendet werden, was andere, frühere Übersetzer zur Vermittlung und Erschliessung der Dickinsonschen Dichtung beigetragen haben.
Die Übersetzerin selbst charakterisiert ihr Eindeutschungsverfahren hochgemut als „eine zutiefst persönliche Lektüre“ und setzt sich damit implizit von „bisherigen deutschen Dickinson-Übersetzern“ ab. Wenn sie als ihre hauptsächliche Übersetzungshilfe die amerikanische Sekundärliteratur nennt, ist daraus wohl abzuleiten, dass es ihr vorab um das Verständnis und die Vermittlung der dichterischen Aussage geht, und nicht um die adäquate Nachbildung der dichterischen Form. Vordergründig erweist sich dies schon an der Textoberfläche, darin nämlich, dass die eigenwillige Grossschreibung, mit der Emily Dickinson die im Englischen übliche Kleinschreibung konterkariert, in der Übersetzung ohne Not aufgegeben wird. Da das Deutsche Gross- und Kleinschreibung nach bestimmten Regeln unterscheidet, stellt sich diesbezüglich für die Übersetzung naturgemäss ein Problem. Dem wäre aber leicht abzuhelfen gewesen, sei’s durch exakte Nachbildung der originalen Typographie (was im Deutschen dann eben die Kleinschreibung mancher Substantive erfordert hätte), sei’s durch Hervorhebung entsprechender Wortformen – beispielsweise „Two“, „Of“, „Than“ – in Versalien, also TWO, OF, THAN u.ä.m. Die zweite, gewiss aufwendigere Lösung würde (ebenso wie die ungewöhnliche Interpunktion) den verdeutschten Gedichten auch äusserlich eine gewisse Sperrigkeit und Extravaganz verleihen, was zu deren konzeptueller wie metaphorischer Kühnheit durchaus passen würde.
Leider lässt aber Gunhild Küblers „zutiefst subjektive Lektüre“ so bedeutsame formale Qualitäten wie weibliche beziehungsweise männliche Versschlüsse oder poetische Besonderheiten wie den gewollt ungenauen Endreim, die Privilegierung von konsonantischen vor vokalischen Lautfolgen und die bevorzugte Verwendung kurzer, oft einsilbiger Wörter weitgehend ausser Acht. Dies war, muss man ergänzen, auch gar nicht ihre Ambition. Mehr und explizit geht es ihr, recht allgemein, darum, „möglichst vielen Lesern den Weg zu diesen singulären Originalen zu ebnen“. Dabei tendiert sie allerdings dazu, gerade die Singularität – die provozierende Unbedarftheit, die poetische Dreistigkeit, den genialischen Eigensinn – Emily Dickinsons in der Übersetzung einzuebnen und über Gebühr bekömmlich zu machen, indem sie dunkle Laut- und Sinnballungen in plausibel wirkende Aussagen aufdröselt. Ein Exempel für Hunderte (Gedicht 581):
Of Course – I prayed –
And did God Care?
He cared as much as on the Air
A Bird – had stamped her foot –
And cried ‘Give Me’ –
My Reason – Life –
I had not had – but for Yourself –
’Twere better Charity
To leave me in the Atom’s Tomb –
Merry, and nought, and gay, an numb –
Than this smart Misery.
Zu deutsch:
Gebetet hab ich –
Natürlich – und Gott?
Der hörte darauf als hätt auf Luft
Ein Vogel gestampft –
Und Geschrien – ‚Gib‘
Mein Grund – ein Leben –
Das ich nicht hatte – ausser für Dich –
Barmherziger wäre es gewesen –
Mich im Grab zerfallen zu lassen –
Heiter und leer, froh und matt –
Als diese raffinierte Not.
Mit Bezug auf das Gemeinte ist das Gedicht sicherlich korrekt übersetzt. Doch die Originalverse sind syntaktisch und lautlich völlig anders strukturiert als in der eingedeutschten Fassung. Die Ausdrucksweise ist fast durchweg, vor allem gegen des Ende hin, elliptisch – teilweise werden Substantive anstelle von Verben verwendet; Reime gibt es nur zwischen dem zweiten und dritten Vers (Care::Air) sowie im Schlussquartett, wo ein umfassender dreisilbiger Reim mit vager Assonanz (Charity::Misery) durch einen männlichen Paarreim (Tomb::numb) getrennt ist; der Rhythmus ist kurzatmig und einförmig, sein Staccato wird durch die auffallende Reihung einsilbig zu sprechender Wörter geprägt, bevor er – wie in einem langgezogenen Seufzer – mit dem mehrsilbigen „Misery“ ausklingt.
Im deutschen Text gibt es weder klanglich noch metrisch übereinstimmende Reimentsprechungen. Gunhild Kübler übersetzt hier, wie anderswo auch, formal gänzlich unbekümmert, sie verfährt explikativ, will heissen, sie kommt dem Leser entgegen (gleichzeitigt entmündigt sie ihn), indem sie erklärt, was Emily Dickinson mit subtiler Sprachgewalt nur einfach konstatiert.
„Gebetet hab ich – / Natürlich – “ steht deutsch für „Of Course – I prayed – “, wobei mit „Natürlich“ eine unerwünschte Ambivalenz riskiert wird im Sinn von: „ich hab gebetet, ist doch ganz natürlich“ gegenüber dem klaren Statement „Gewiss – Ich betete – “. Und weiter unten: „Barmherziger wäre es gewesen – / Mich im Grab zerfallen zu lassen – “ – das ist eine schwerfällige, rhythmisch ungelenke Umsetzung, die dem deutschen Leser voreilig vermittelt, was die Autorin hat sagen wollen, statt wiederzugeben, was sie, Wort für Wort, sagt.
Emily Dickinson imaginiert (bereits um 1863!) das lyrische Ich als Kern eines Atoms, von dem es sich wie von einer Grabkammer umschlossen fühlt. Von Zerfall keine Rede. Bei Werner von Koppenfels, der noch 2005 eine umfangreiche, thematisch gegliederte Dickinson-Auswahl vorgelegt hat, lautet dieselbe Stelle wie folgt: „Barmherziger wärs gewesen / Man liess mich in der Atome Gruft – / Heiter, und Nichts, und froh, und stumpf – / Als dieses stolze Elend.“ Der erste Vers dieses Fragments kehrt in der Neuübersetzung fast unverändert wieder, auch sonst gibt es manche Übereinstimmungen, doch hat Koppenfels zumindest, wiewohl im unpassenden Plural, das Atom (aus „Atom’s Tomb“) erhalten, während die Küblersche Übersetzung lediglich das Bezugswort „Grab“ beibehält. – Der letzte Vers ist hier unnötig belastet durch das (vermutlich einem zeitgenössischen Wörterbuch entnommene) Adjektiv „raffinierte“, das mit seinen vier Silben im Vergleich zum englischen „smart“ einerseits zu gewichtig, anderseits zu unverbindlich auftritt. – Demgegenüber fehlt es demselben Vers bei Werner von Koppenfels an rhythmischer Stringenz, wiewohl er, in Übereinstimmung mit dem Original, weiblich auslautet. Vor allem jedoch bildet seine Übersetzung die spezifischen Reimqualitäten überzeugend nach (gewesen::Elend; Gruft::stumpf), ohne dafür merkliche semantische Verluste in Kauf zu nehmen.
Um nicht bloss, wie in der Übersetzungskritik üblich, auf Mängel hinzuweisen, sondern auch eine Lösung anzubieten, schlage ich an dieser Stelle zusätzlich eine eigene Lesart für die vier Schlussverse vor:
’Swär besseres Erbarmen
Mich zu lassen in des Atoms Gruft –
Festlich, und nichts, und froh, und null –
Denn dieser schicke Jammer.
Allerdings erhebe ich keinerlei Anspruch, dem deutschen Leser auf solche Weise den Weg zu Emily Dickinson zu ebnen. Mir ginge es eher darum, die Fremdheit und Befremdlichkeit ihrer Gedichte nach Möglichkeit zu wahren.
Als weiteres Beispiel führe ich eines der letzten, auch der bekanntesten, schon oftmals ins Deutsche gebrachten und in zahlreichen Anthologien abgedruckten Dichtwerke von Emily Dickinson an:
To make a prairie it takes a clover and one bee,
One clover, and a bee,
And revery.
The revery alone will do,
If bees are few.
Dieses Mikrogedicht ist – ich behaupte das jetzt einfach so – von einer Vollkommenheit, die ihresgleichen sucht und die einen Vergleich vielleicht tatsächlich nur in „Ein Gleiches“ von Johann Wolfgang von Goethe findet. In der neuen Übersetzung bekommt man es wie folgt zu lesen:
Für eine Wiese braucht es Klee und Bienen,
Je eins von ihnen,
Und Träumerei.
Die Träumerei tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.
Der gedrängte, in sich aber uneinheitliche Textkörper wird vorab zusammengehalten durch die Wiederholung und wechselnde Anordnung einzelner Wörter sowie durch ein strenges Reimschema (a::a::a::b::b), zu dem auch ein identischer Paarreim gehört (bee::bee). In der neuen Übersetzung wird dieses Schema zwar durchbrochen (a::a::b::b::a), aber doch überzeugend variiert. Anderseits geht der Binnenreim (make::takes) ebenso verloren wie der gekreuzte Parallelismus (sic!) in den ersten beiden Versen, wo „clover“ und „bee“ linear wiederholt, aber mit umgekehrtem Zahlwort versehen werden („a“ und „one“ > „one“ und „a“).
Gunhild Kübler beschränkt sich demgegenüber auf „Klee und Bienen“ im ersten Vers, lässt also die Zählung weg und setzt sogar dort, wo klar von einer Biene die Rede ist, eine Mehrzahlform ein. Auf die Wiederholung im zweiten Vers verzichtet sie ganz, statt dessen steht bei ihr umschreibend „Je eins von ihnen“, wodurch der exakte Reim zu „Bienen“ gegeben ist. Der vorletzte Vers kommt, abgesehen vom hinzugefügten „auch“, in wörtlicher Übersetzung, während der schwierige Schluss (wörtlich: „wenn Bienen wenige sind“) im Deutschen so schlicht wie elegant umformuliert wird zu: „Bei wenig Bienen.“ Verlust und Gewinn halten sich in dieser Nachdichtung ungefähr die Waage. – Hier, zum Vergleich, die ältere Übersetzung von Lola Gruenthal:
Zu einer Prärie gehört ein Klee und eine Biene,
Ein Klee und eine Biene
Und Phantasie.
Die Phantasie tut’s auch allein,
Sollten Bienen selten sein.
Vielleicht sollte man in diesem Fall das „Hatto“-Verfahren anwenden und aus den beiden – gleichermassen geglückten – Fassungen ein noch besseres Kompilat herstellen; etwa so (von mir als „Plagiat“ in Anführungsstriche gesetzt):
„Für eine Wiese braucht es Klee und eine Biene,
Einmal Klee und eine Biene,
Und Phantasie.
Die Phantasie tut’s auch allein,
Bei wenig Bienen.“
Werner von Koppenfels wiederum schlägt die folgende, im Schlussteil allzu umständliche Lösung vor:
Für eine Prairie braucht man eine Biene, einen Klee,
Eine Biene, einen Klee,
Und Träumerei.
Wenn Bienen knapp sind, tut es auch
Träumerei allein.
Eine interessante, ebenfalls neuere deutsche Lesart dieses Gedichts bietet Wolfgang Schlenker:
Für eine Lichtung braucht’s Klee und eine Biene,
Ein Kleeblatt und Bienengesumm,
Und Träumerei.
Die Träumerei allein tut’s auch,
Falls Bienen rar.
Und, um zu schliessen, noch ein Bienengedicht in Gunhild Küblers Neuübersetzung:
Ruhm ist wie Bienen
Kann singen –
Kann stechen –
Ah ja, auch fliegen.
Dazu das Original:
Fame is a bee.
It has a song –
It has a sting –
Ah, too, it has a wing.
Auch in diesem Fall besteht die Schwierigkeit der Übersetzung in der komplexen Einfachheit des Urtexts. Formbildend sind die starken Reimbindungen im Verein mit einem exakt symmetrisch placierten Parallelismus („It has … / It has … “), der auf metaphorischer Ebene – Ruhm / Biene – seine Entsprechung hat.
Gunhild Kübler tut sich sichtlich schwer, dieses strenge Konzept ins Deutsche zu transferieren. Zwar liefert sie auch hier eine auf den ersten Blick korrekte Entsprechung, doch wieder verspielt sie die eigentliche poetische Substanz der Vorlage. Schon mit dem ersten Vers wird die kompositorische Symmetrizität aufgebrochen dadurch, dass sie den Ruhm (Einzahl) einer Mehrzahl von Bienen gegenüberstellt, wobei sie durch das eingeschobene „wie“ die starke Metaphernbildung zu einem blossen Vergleich abschwächt. Bedingt durch die fragwürdige Pluralbildung ergeben sich in der Folge drei zweisilbige Verbformen (singen / stechen / fliegen) und damit drei weibliche Vers-Enden, die zu den im Original akzentuierten einsilbigen Reimwörtern (song / sting / wing) keine adäquate Entsprechung bilden.
Wieder gerät die Nachübersetzung zu einer Art Nacherzählung, die Emily Dickinsons lapidare Fügungen aufweicht und gefällig macht. Die Umformung des Hauptworts „song“ zum Tätigkeitswort „singen“ impliziert eine falsche Vorstellung, denn zu „singen“ pflegen weder Ruhm noch Bienen. – Doch auch bei Werner von Koppenfels, dessen Übersetzung Gunhild Kübler fast wörtlich aufnimmt, wird gesungen wie gestochen:
Ruhm ist eine Biene.
Kann singen –
Kann stechen –
Ach ja, kann auch fliegen.
Das englische Wort „song“ bezeichnet hier jedoch keineswegs ein Lied, also etwas (in Worten!) zu Singendes oder Gesungenes, sondern – mit speziellem Bezug auf Vögel und Insekten – eine nicht näher bestimmte melodiöse Kundgabe, ein melodisches Geräusch („some musical call“). Dafür müsste auch im Deutschen ein Begriff gefunden werden, der sich mit „Ruhm“ und „Biene“ gleichermassen verbinden liesse. Eine diskutable Kompromisslösung findet sich bei Gertrud Liepe:
Ruhm ist eine Biene.
Er hat das Singen –
Er hat den Stachel –
Ah, dazu, hat er Schwingen.
Insgesamt bringt die neue Nachübersetzung der Gedichte Emily Dickinsons durch Gunhild Kübler keinen merklichen poetischen Mehrwert. Das Bestreben, dem deutschsprachigen Leser hilfreich zu sein, ihm den Weg zum Verständnis der Texte zu ebnen und zu verkürzen, führt im übersetzten Text notwendigerweise zu formalen Entschärfungen, Glättungen, Begradigungen, die die Lektüre zwar erleichtern, gerade dadurch aber die eigensinnige, ja rücksichtslose Sprechweise der Dichterin verunklären und verharmlosen. Erfreulich ist allemal, dass wir nun eine weitere (die bislang umfangreichste) Dickinson-Ausgabe in deutscher Sprache greifbar haben. Darob sollten aber nicht jene ungemeinen Autoren vergessen werden, die bei uns noch immer bloss durch ihre Abwesenheit präsent sind. Wer kennt hierzulande – ein Beispiel sei immerhin genannt – den polnischen Dichter Cyprian Kamil Norwid, einen Zeitgenossen Emily Dickinsons, dessen Werk wie ein gewaltiger Steinbruch sämtliche Elemente bereithält, die erst viel später, in der Literaturrevolution des frühen 20. Jahrhunderts, zum Tragen kommen. Bei allem Respekt vor der Daueraufgabe des Neu- und Nachübersetzens – ein erster Norwid in angemessenem Deutsch wäre, finde ich, ein dringlicheres Desiderat als die x-te Fielding- oder Tschechow- oder Dickinson-Übersetzung.
Beim vorliegenden Essay handelt es sich um die überarbeitete und stark erweiterte Fassung eines Diskussionsbeitrags zum Problem der Nachübersetzung, der neben andern einschlägigen Voten in der NZZ (Literatur und Kunst) erschienen ist.
Felix Philipp Ingold, Neue Zürcher Zeitung, 29.9.2007EMILY DICKINSONS RUSSISCH
Kürzlich habe ich Richard Brautigan getroffen.
Er lehnte zusammengesunken an der Wand
der Cradle Bar in Roppongi.
Er murmelte:
„Weißt du, ich hab Emily Dickinson
zwischen die Rippen meiner Heizung in San Francisco geklemmt,
und im Winter pfeift sie immer: ,Hochitse-ryba!‘.
Was kann denn das heißen?“
Maxim Gorki
wurde in seinem Hotel in Saratov am Morgen
immer von der Dampfheizung aufgeweckt, die rief
Hochitse-ryba!
„Möchten Sie Fisch?“
„Danke für die Auskunft!“
rief Brautigan und schnippte mit den Fingern.
„Ich hab nicht gewußt, daß Emily Dickinson Russisch konnte!“
Hasegawa Shirō
Kerstin Fritzsche: Die große Liebe lebte nebenan
Emily Dickinson: The Poet In Her Bedroom.
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