DIE WAHRHEIT VON DER WAHRHEIT
Die Wahrheit sagen
das kann heißen: getötet werden
Aber nie wird – so heißt es –
die ganze Wahrheit getötet
Nur Menschen, nackt
das Gesicht nicht mehr erkennbar
oder noch in ihren Kleidern
wie schlafend, gar nicht viel Blut
oder nur Asche
verpackt in braunen Karton
oder halb Verweste
in später entdeckten Gräbern
Aber fast unversehrt
wächst die Wahrheit aus jedem Rest
der übriggeblieben ist
und lebt – sagt man – von neuem
Nur trägt sie nicht mehr die Schuhe
ihres Sprechers, die man ihm auszog
und nicht sein Hemd
mit den rotbraunumrandeten Löchern
und auch keine stinkenden
gestreiften Sträflingshosen
Die Wahrheit steht herum
nackt und ein wenig frierend
Wo immer sie steht
sie steht nie wieder wirklich ganz da
Etwas von ihr bleibt tot
bei ihren Toten
erschienen wenige Monate nach der späten Anerkennung durch den Georg-Büchner-Preis und kurz vor seinem Tod.
Wir verwinden vieles, sagt man. Was aber, so fragen diese Gedichte, bleibt unverwunden? Die Auf- und Abrechnungen? Unsere zu bunten Träume? Die alten Bilder, die quer durch die neuen, sogenannten unvergeßlichen gehen?
Und wie vermischt sich das von uns Unverwundene mit unseren jetzigen Absichten, mit dem Kampf gegen die Zumutungen der Zeit oder mit der Trauer über diejenigen, die immer den Kopf oben behalten?
Klaus Wagenbach Verlag, Klappentext, 1988
Alexander von Bormann: Zugemutete Zeit
Neue Zürcher Zeitung, 23. 11. 1988
Lesung von Erich Fried am 25.9.1986 im Literarischen Colloquium Berlin
Klaus Wagenbach: Nachruf auf Erich Fried
Klaus Wagenbach und Erich Schwarz Lesung zum 72. Geburtstag von Erich Fried am 6.5.1993 in der Werkstatt der Staatlichen Schauspielbühne Berlin.
Detlef Berentzen: Ein gebrauchter Dichter. Eine Textcollage zum 15. Todestag von Erich Fried
Erich Fried Liebesgedichte vorgetragen von Frank Hoffmann mit dem Jazztrio mg3.
Schreibe einen Kommentar