FÜR MAJAKOWSKI
Höher als Kreuz und Schlot,
Gekreuzigt in Rauch und Flimmer,
Erzengel, Lastgaul, hoch −
Gruß dir, ewig Wladimir!
Er ist Fuhrmann und Pferd,
Er ist Kopfstand und Gesetzbuch.
Er schnauft und krempelt das Hemd:
„Halt dich fest, schwerlastiger Dreckruhm!“
Angeber, dreckiger, grüß dich!
Sänger der Wunder der Straßen −
Ungeblendet von allen Brillanten
Nahmst du als Stein den Lastzug.
Pflastersteindonner, he!
Er gähnt, röhrt dich voll – und wieder
Schwenkt er die Deichsel, des
Überlasterzengels Flügel.
Übersetzt von Rainer Kisch
Die Geschichte meiner Wahrheiten ist meine Kindheit.
Die Geschichte meiner Irrtümer ist meine Jugend…
Marina Zwetajewa, 1929
Frau. Liebe. Leidenschaft. Seit Urzeiten weiß eine Frau nur Liebe und Leidenschaft zu besingen. Die einzige Leidenschaft der Frau ist die Liebe. Jede Frauenliebe ist Leidenschaft. Außerhalb der Liebe hat eine Frau nichts Schöpferisches. Nehmt der Frau die Leidenschaft… Frau… Liebe… Leidenschaft…
So stellte Valeri Brjussow, wie Marina Zwetajewa erzählt, im Sommer 1920 neun junge Dichterinnen vor. „Hoffen wir“, sagte er, „daß der in aller Welt fortschreitende und in Rußland bereits vollzogene soziale Umbruch auch auf die Frauenlyrik zurückstrahlt. Bisher allerdings hat er es nicht getan, noch immer schreiben Frauen über Liebe und Leidenschaft. Liebe und Leidenschaft…“ Trotz Brjussow las die Zwetajewa an diesem Abend im berühmten „Polytechnischen“ sieben Gedichte nicht über Liebe; trotz durchweg rotarmistischen Publikums las sie Gedichte über die Weiße Armee, in welcher ihr Mann wider die Sowjetmacht kämpfte.
Leben und Werk der russischen Dichterin Marina Zwetajewa (1892–1941) sind voller Widerspruch. In dem Versuch, sich gegen ihr Jahrhundert zu stellen, aus der Klage der Spätgeborenen und ihrer Liebe zum neunzehnten Jahrhundert, insbesondere zur napoleonischen Ära, schrieb sie Verse, die sich vierzig Jahre nach ihrem Tod wie zeitgenössische Lyrik lesen.
Die Dichterin des Intimen, der „Kammerlyrik“, wie es schien, entwickelte sehr bald raumgreifende poetische Stimmgewalt. Leidenschaftlich zu den Menschen hingezogen, lebte sie bei allem Verlangen, gebraucht zu werden, als Dichterin allein. Obwohl Marina Zwetajewa die Oktoberrevolution zunächst abgelehnt hat, vermittelt ihr Werk – stärker denn das manch eines Zeitgenossen – Musik und Rhythmus der revolutionären Epoche. An dieser extremen Widersprüchlichkeit enthüllt sich das Unfügsame einer „maßlosen“ Natur, die bereits im frühen Kindesalter in Marinas Vorliebe für das widerspenstige kleine Räubermädchen aus Andersens Märchen „Die Schneekönigin“ durchschlug, aber mehr noch, es enthüllt sich die Schwierigkeit ihrer Existenz in den Konfrontationen ihrer Zeit.
Marina Zwetajewa entstammt einer Moskauer Professorenfamilie. Ihr Vater, Iwan Zwetajew, war der Sohn eines armen Geistlichen. Als Kunsthistoriker und Begründer des Museums für Bildende Künste – heute Puschkin-Museum gehörte er zu den Rasnotschinzen, russischen Intelligenzkreisen, die ihrer Sache und der Demokratie aufs treueste ergeben waren. Die Mutter, eine begabte Pianistin, erträumte für Marina eine Musikerlaufbahn. In ihrem Tagebuch findet sich allerdings die Eintragung:
Die vierjährige Marussja geht umher und reimt in einem fort. Ob sie womöglich Dichterin wird?
1910 gab die Gymnasiastin Marina das Abend-Album, ihren ersten Lyrikband, heraus, den der Großmeister der russischen Poesie Valeri Brjussow zur Überraschung der Verfasserin mit einer Rezension begrüßte. Er würdigte Talent und Eigenständigkeit der Debütantin. Die Fertigkeit ihrer frühen Gedichte verblüffte aber nicht nur Brjussow. „Haben Sie niemals schwache Gedichte geschrieben?“ wurde sie gefragt. „Doch, hab ich. Nur sind sie alle in der Vorschulzeit entstanden“, kommentiert sie in ihren Erinnerungen.
Im ersten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts erfuhr die russische Dichtkunst, wie Ossip Mandelstam es formulierte, zweimal eine „Hochflut des Sturm und Drang“, den Symbolismus und den Futurismus. Von beiden Strömungen blieb Marina Zwetajewa unberührt. Keiner der zahlreichen scharf abgegrenzten und einander lauthals befehdenden Dichtergruppen dieser Zeit gehörte sie an. Sie stand abseits. Die Formel für ihr Leben und Werk steht in den Zeilen (aus „Rolands Horn“, 1921):
Von allen Eine, für sie, gegen sie…
Marina Zwetajewa, 1921
Diese Vereinzelung förderte die frühe Ausbildung von Selbständigkeit und poetischer Individualität, nicht aber größere Anerkennung, noch die Erweiterung ihres Realitätssinns. Marinas Jugend verlief im engen Familien- und Freundeskreis, ihre Dichtung speiste sich aus literarischen Denkmustern und Fiktionen.
In diese häuslich-intime Welt brach dennoch das reale Leben: der imperialistische Krieg, die Einberufung ihres Mannes. Mit Frauentränen um in den Krieg ziehende Soldaten, als Polemik gegen chauvinistische Tendenzen hielt das Leben Einzug auch in ihre Lyrik. Nicht bewußt internationalistisch, sondern ihrer bis ans Äußerste gehenden „Eine gegen alle“-Natur getreu, schrieb sie während des Krieges gegen Deutschland:
Weh der Vernunft im Weltgetriebe:
„Aug um Auge, Zahn um Zahn“,
O und Deutschland – meine Liebe!
O und Deutschland – du mein Wahn!
Die Jahre des ersten Weltkriegs und der Revolution waren Jahre, in denen Marina Zwetajewas geistig-poetisches Gesicht bestimmendes Profil gewann: offene Emotionalität, bewegtes Temperament und die Gabe, mit wenigen Strichen den Merkmalen von Landschaft oder Situation ordnend entnommen – ein ganzes Bild zu zeichnen. Ihre hellhörige Empfindsamkeit für Rußland, für seine Natur und Geschichte führt ihre Dichtung in die Nähe des russischen Volkslieds. Daß die Zwetajewa die Revolution nicht akzeptierte, war ein verhängnisvoller Irrtum, der sich zur Tragödie auswuchs. Ihrer rebellischen Natur und Sinnesart konnte der Durchbruch elementarer Gewalten nicht entgehen. Dennoch fuhr sie hartnäckig fort, ihre Sympathie für die Weißen in Verse umzusetzen, Verse, in denen die Taten der Konterrevolution in romantischer Verklärung, aber auch im Zeichen der Weihe des Untergangs erscheinen. Ihrem ureigensten Wesen hätte der Versuch, der Revolution begreifend entgegenzugehen – etwa wie Alexander Block ihn unternommen hat – ungleich mehr entsprochen. Aber sie warf ihrer Zeit den Fehdehandschuh hin, spielte die „russische Vendée“. Zum Glück wurde ihre Rebellion von den Behörden nicht ernst genommen. Wie andere Dichter konnte sie Lesungen veranstalten. 1922 erschienen im Staatsverlag zwei kleinere Gedichtbände von ihr. Wie alle Einwohner Moskaus bezog sie ihre karge Lebensmittelration. Und wie alle litt sie Hunger und Kälte. Standhaft ertrug sie sowohl die täglichen Widrigkeiten und Beschwernisse als auch die Trennung von ihrem Mann, zunächst ohne Hoffnung auf ein Wiedersehen, und schließlich den schlimmen Kummer, der sie 1920 traf, als ihre jüngste Tochter erkrankte und starb.
Der Dichter Pawel Antokolski, mit dem sie damals befreundet war, schildert sie wie folgt:
Marina Zwetajewa ist eine stattliche, breitschultrige Frau mit graugrünen, weit auseinanderstehenden Augen. Ihr kurzgeschnittenes hellbraunes Haar fällt in eine hohe Stirn. Das dunkelblaue Kleid, weder modisch noch altmodisch, sondern eben vom allereinfachsten Schnitt, etwa wie der eines Priesterhemds, ist mit einem breiten gelben Riemen straffgezogen. Über ihrer Schulter hängt ein gelber Lederbehälter in der Art einer Karten- oder Jagdtasche, und in diesem unweiblichen Zubehör stecken an die zweihundert Papyrossy und ein Schulheft mit Gedichten. Wo diese Frau auch auftaucht, gleicht sie Wallfahrern oder Wanderern. Mit großen Männerschritten geht sie über den Arbat und durch die umliegenden Gassen, und ihre rechte Schulter rudert gegen Wind, Regen und Schneegestöber an. Eine Klosterschülerin oder eine eben mobilgemachte Schwester der Barmherzigkeit. Ihr ganzes Wesen brennt aus der Flamme der Poesie, die sich in der ersten Stunde der Bekanntschaft zu erkennen gibt.
Im Mai 1922 durfte Marina Zwetajewa mit der Tochter über Berlin zu ihrem Mann ausreisen, der, nachdem die Weiße Armee zerschlagen war, an der Prager Universität studierte. Drei Jahre später übersiedelte die Familie nach Paris. Es folgten schwere, freudlose Jahre. Unter den Emigranten fühlte sie sich bald fremd – den Haß auf das neue Rußland konnte sie nicht teilen.
„1922 reise ich aus“, schreibt sie später, „und mein Leser bleibt in Rußland, das meine Gedichte (1922–1933) nicht erreichen. In der Emigration haben sie mich anfangs (geradezu gierig!) gedruckt, ernüchtert haben sie mich dann aber kaltgestellt. Sie spüren das Fremde: das ,Dort‘. Der Inhalt ist scheinbar ,von uns‘, aber die Stimme kommt ,von drüben‘ (das heißt aus der Sowjetunion).“
Ich wünschte mir einen richtigen Scheiterhaufen…
Marina Zwetajewa, 1921
Durch die vor der Emigration entstandenen Gedichte geht eine grünäugige, goldhaarige Marina, deren Porträt mit Antokolskis Schilderung nicht voll zusammenfällt, denn die Zwetajewa erachtete die Darstellung der „seelischen Struktur“, nicht äußere Detailtreue, für signifikant: „Ich weiß nicht, brauchen Verse denn einen lebenstreuen Hintergrund ?“ schrieb sie, „wer – wann – mit wem – wo – und unter welchen Umständen und so fort – gelebt hat? Die Verse haben die Einzelheit des Alltags vermahlen und ausgeworfen…“ Die Einzelheit des Alltags auswerfend, hob die Zwetajewa Erfahrung und eigenes Erleben zu allgemeiner Gültigkeit. Und mit den Jahren tritt hinter der grünäugigen hochmütigen Marina (Freunde schreiben dem hochmütigen Blick Kurzsichtigkeit zu, die sie verbarg) in ihren Gedichten immer deutlicher der zeitgenössische Typ hervor. Dies lyrische Subjekt haßt Lüge und Heuchelei, ist brennend auf Wahrheit aus, läßt leichte Wege, zumal in der Poesie, nicht zu. Seine vehement leidenschaftliche Natur neigt zum extremen, oftmals vorgefaßten Urteil, verführt gleichermaßen zu stürmischer Entrüstung wie feuriger Begeisterung.
„Bei Block gibt es das magische Wort: geheime Glut“, schreibt Marina Zwetajewa 1937, „ein Wort, das mich beim ersten Lesen mit Erkennen brannte… Dies Wort ist der Schlüssel zu meiner Seele und zu aller Lyrik… und jetzt, ein Leben später, kann ich sagen: Alles, worin diese geheime Glut war, liebte ich, und ich liebte nichts, worin diese geheime Glut nicht gewesen wäre.“
In den Gedichten der Zwetajewa ist weder Ruhe noch Kontemplation, da ist stürmische Bewegung, Aktivität. Aktiv soll z.B. das Gefühl sein: „… das Meer zu lieben wage nur Fischer oder Seemann. Nur ein Fischer oder Seemann weiß, was das ist. Meine Liebe wäre ein Rechtsbruch (der ,Dichter‘ bedeutet hier nichts, kläglichste aller Ausreden)“, erklärt sie Pasternak. Und an Anna Achmatowa schreibt sie: „Es ist so schade, daß alles nur Worte sind, ich wünschte mir einen richtigen Scheiterhaufen, auf dem man mich verbrennen würde.“
Durch alle Werte, durch alle Gegenden, an allen
Weg‘-enden
Das ewige Paar der Sich-Nie-Begegnenden
Marina Zwetajewa, 1929
Trauer und Not verfolgten Marina. Ihr Mann, der an einer Lungentuberkulose daniederlag, blieb monatelag ohne feste Einkünfte. Sie selber wurde kaum gedruckt. Eine Zeitlang waren die Pfennige, die Tochter Alja für Handarbeiten heimbrachte, einzige Ernährungsgrundlage der Familie. Trost brachten der kleine in Prag geborene Sohn und der Briefwechsel, den sie mit wenigen nahestehenden Freunden, unter anderem mit der tschechischen Übersetzerin Anna Teskova, führte. 1926 entwickelte sich ein Briefwechsel mit Rainer Maria Rilke; kurz vor dessen Tod, so daß es zu keiner persönlichen Begegnung mehr kam. Aber die beiderseitig spontan entstehende Sympathie spiegelt sich in hochinteressanten Briefen und zwei Gedichten, die Rilke Marina widmete. Über eins davon schrieb sie an Anna Teskova: „Ich nenne das Gedicht Marina-Elegie („O die Verluste im All, Marina, die stürzenden Sterne“). Es krönt die Duineser Elegien, und eines Tages, nach meinem Tod, wird es in den Zyklus aufgenommen: schließt ihn ab.“
Rilkes Tod (das Marina gewidmete Gedicht sollte das letzte sein) war für die Zwetajewa ein harter Schlag. Es war, als hätte, was sie so heiß geliebt, mit ihm seine Existenz gelöscht: deutsche Dichtung, deutsche Sprache, Deutschland:
…Rilke war mein letztes Deutschland. Geliebte Sprache, geliebtes Land… das, was für ihn Rußland war (die Wolga-Welt).
Im Februar 1927 vollendete die Zwetajewa das Neujahrs-Poem, ein Requiem auf Rilkes Tod, und schickte es Poris Pasternak zu.
Die Trauer um den gemeinsamen Verlust brachte Marina Zwetajewa und Boris Pasternak einander näher. Persönlich hatten sie sich schon in Moskau gekannt, nicht aber als Dichter. „Im Frühjahr 1922“, erinnert sich Pasternak, „als sie bereits im Ausland war, habe ich mir ihre Wersten gekauft. Sofort überwältigte mich die poetische Kraft der Zwetajewaschen Form, die unter die Haut geht, so gar nicht schwachbrüstig, sondern stark verdichtet und gedrängt in keiner Zeile außer Atem kommt und ganze Strophen folgen ohne rhythmischen Bruch… erfaßt.
In diesen Besonderheiten steckte etwas wie Nähe, wohl eine Gemeinsamkeit in den Erfahrungen oder Gleichartigkeit der Einflüsse auf die Charakterbildung, eine analoge Rolle der Familie und der Musik, eine Verwandtschaft der Ausgangspunkte, Ziele, Neigungen. Ich schrieb der Zwetajewa einen Brief voller Begeisterung und Verwunderung darüber, daß ich sie so lange übersehen und so spät entdeckt hatte. Sie antwortete. Zwischen uns entspann sich ein Briefwechsel, der sich Mitte der zwanziger Jahre besonders intensivierte…“ Etwa siebzehn Jahre währte im Austausch von Briefen, Manuskripten, Büchern der rege schöpferische Kontakt. Sie schrieben unähnliche Gedichte, doch standen sie sich nahe in der Rezeption der Außenwelt, in ihren verkomplizierten Beziehungen zwischen Wirklichkeit und poetischem Modell, in dem Empfinden, persönlich und als Dichter allein zu sein. Beide lebten und arbeiteten in ähnlich abgeschlossenen Welten.
Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte die Zwetajewa ihre Einsamkeit in der Heimat überwunden. Pasternak schien sie unüberwindlich, denn nur zeitweilig gelang es ihm, seine Dichtung, diese „hohe Krankheit“, mit der Realität des nachrevolutionären Rußland in Einklang zu bringen. Beide Dichter lebten in der gespannten Erwartung großer Gefühlsoffenbarungen, in dem Verlangen, sich in dem anderen wiederzufinden. In unzähligen Versen der Zwetajewa an Pasternak ist die Trauer der Trennung, ist Hoffnung auf immerwährende Freundschaft, auf seelische Nähe. Die komplizierten, schwer in Alltagsverständnis umzusetzenden Beziehungen steigerten sich 1926 zu unbedachter Verliebtheit auf seiten Pasternaks, die Marina Zwetajewa ganz und gar nicht wünschte. Als sie fünf Jahre später erfuhr, daß Pasternak seine Familie verlassen hatte, schrieb sie an Anna Teskova (am 20.3.1931):
Im Sommer 1926, als er irgendwo mein Poem vom Ende gelesen hatte, trieb es Boris wahnsinnig zu mir, er wollte kommen – ich wehrte ab, ich wollte die allgemeine Katastrophe nicht. (Jahre habe ich von dem Traum gelebt, daß wir uns zu sehen kriegen.) Jetzt ist es leer. Ich habe niemanden in Rußland. Die Frau, der Sohn das achte ich. Aber eine neue Liebe – ich rücke ab. Verstehen Sie mich recht, liebe Anna Antonowna: Es ist nicht Eifersucht. Aber – wenn er doch ohne mich ausgekommen ist! Von mir zu Boris war ein Gefühl, daß: wenn ich sterbe ruf ich ihn. Weil ich ihn, trotz Familie, als völlig allein empfand: mein. Jetzt ist mein Platz besetzt: Nur eine Frau kann wohl den Bruder der Liebe vorziehn! Für den Mann ist in den Stunden, in denen er liebt, die Liebe alles. Boris liebt die andere ganz so wie 1926 – von fern – mich. Ich habe Boris geschrieben: „Wenn das vor fünf Jahren passiert wäre… aber ich habe meinen eigenen Fünfjahrplan.“ Scharfen Schmerz empfinde ich nicht. Leere…
Was nicht Diamant im Feuer ist – verschlackt.
Nach Rußland glaube ich nicht an Lack…
Marina Zwetajewa, 1926
Marina Zwetajewas Erlebnisse im revolutionären Moskau klärten sich im Ausland ab. Dazu trug die moralische Zersetzung des Emigrantenlebens bei und die finanzielle Notlage, die sie zwang, in armen Vorstadtvierteln von Prag und später Paris zu wohnen. Ohne Beschönigung sah sie nun sowohl russische Intelligenzler, Weißemigranten, die ihr Volk verraten hatten, als auch das Dasein der Armen. Und in ihr erwachte „heiliger Zorn“ (Alexander Block). In einem Brief heißt es: „Ich schreibe in einem Arbeitervorort von Prag, bei armseliger Kaffeehausmusik, die mit dem Rauch ins Fenster schlägt. Das nackte Dasein; auch die Belustigung geht hier auf Tod und Leben.“
In Zwetajewas Gedichten tauchen Lebensbilder der Ärmsten auf („Poem der Vorstadt“, 1928), Satire auf den Spießbürger „Ode an den Fußgänger“, 1931). Mit Ironie erinnert sie sich ihrer früheren, vom Leben des Volkes weit entfernten Verse:
Ich weiß noch… der Offiziersbursche zu mir: „Ihr Bändchen habe ich gelesen, mein Fräulein. Immerzu Alleen, immerzu Liebe: Sie sollten mal über unsereins dichten. Soldaten. Bauern.“ – Ich bin doch kein Soldat und kein Bauer. Ich dichte über was ich kenne. Dichten Sie über was Sie kennen. Selber leben, selber dichten. (Damals hab ich eine Dummheit gesagt – Nekrassow war kein Bauer, aber „Der Kramladen“ wird immer noch gesungen.)
Der soziale Bezug kam ab Mitte der zwanziger Jahre in ihre Lyrik, demonstrativ, brüsk, wie alles, was sie tat, getragen von dem leidenschaftlichen Verlangen, sich mit dem Leben des Volkes zu identifizieren, von brennendem Interesse für alles, was in der Sowjetunion, in der sowjetischen Literatur vor sich ging. Das äußerte sich in ihren Gedichten („Heimat“, 1932; „Die Tscheljuskiner“, 1934), aber auch in der Beziehung zu Majakowski, als dem „ersten Dichter der Massen“, der „unserer Zeit mit seinen schnellen Beinen weit vorausgeeilt ist und dort hinter einer Wegbiegung noch lange auf uns warten wird“. Und als Majakowski (1928) vor russischen Emigranten in Paris sprach, war die Zwetajewa die einzige, die ihn begrüßte. Darüber schrieb sie selbst an Majakowski:
Wissen Sie, womit meine Begrüßungsworte an Sie in der ,Eurasia‘ ausgegangen sind? Mit meinem Ausschluß aus den Neuesten Nachrichten, der einzigen Zeitung, die mich gedruckt hat, und auch bloß zehn bis zwölf Jahre alte Gedichte! (NB Neueste Nachrichten!) „Wenn sie nur den Dichter Majakowski begrüßt hätte, aber sie begrüßt in ihm das neue Rußland…“ Da haben Sie Miljukow – da haben sie mich – da haben Sie sich. Würdigen Sie die Sprengkraft Ihres Namens und berichten Sie die beigebrachte Episode Pasternak und sonstwem, wenn Sie es für richtig halten. Sie können sie auch veröffentlichen. Auf Wiedersehn. Ich liebe Sie. Marina Zwetajewa.
Nach 1922 ist die Zwetajewa als Emigrantin in der Sowjetunion nicht verlegt worden. Den Lesern war sie also kaum bekannt. Dennoch fügte Majakowski ihren Brief den Exponaten seiner Ausstellung „20 Jahre Arbeit“ bei. Pawel Antokolski nannte die Jahre um 1930 die Zeit der geistigen Heimkehr der Zwetajewa. „Und wenn es in den folgenden Jahren geschah, daß ihre beschwörende Stimme bis nach Moskau drang, klang sie mit magischer Gewalt und löste Mitgefühl, Mitleiden, Mitfreude aus. Wenn sie auch keineswegs oft zu hören war, wenn damals auch sehr wenige Gelegenheit hatten, Marina Zwetajewas Gedichte zu lesen und zu würdigen, so ändert das am Wesen der Sache nichts! Wie dem auch sei, die Heimkehr der großartigen Dichterin begann bereits damals. Sie lag unumstößlich in ihrem eignen Heimweh beschlossen. Und wenn ihre Heimkehr heute in dieser Auflage von vierzigtausend zum Ausdruck kommt, die in ihrem eigenen Land bereits vergriffen ist, so bedeutet das, daß bereits in den dreißiger Jahren das zu Leben und Unsterblichkeit bestimmte Phänomen hervortrat.“
1932 schrieb die Zwetajewa (in „Heimat“):
Die Ferne, aller Nähe feind,
Die Ferne, die mir sagt: kehr heim.
Von allen – bis zum Himmelsstern −
Von allen Orten mich entfernt!
Pasternak bekannte sie in maßloser Trauer: „Boris, ich sehne mich nach russischer Landschaft, nach Kletten, nach Wald ohne Efeu, nach mir – dort. Wenn man noch einmal geboren werden könnte…“
In dem Zyklus „Strophen an den Sohn“ (1932) rief sie die Emigrantenkinder auf, nicht den Irrtum ihrer Väter zu begehen, sondern in die Heimat zurückzukehren, „Ins aller Länder Gegenland! – Wohin zurückgehn – vorwärtsgehn heißt…,“
Inspiration plus Knochenarbeit – das ist der Poet
Marina Zwetajewa, 1925
Ohne Hoffnung auf Resonanz und Veröffentlichung arbeitete Marina Zwetajewa unter Aufgebot aller Kräfte weiter. „Ich habe keine Freunde“, schrieb sie Pasternak. „Es gibt da Bekanntschaften mit Damen – Freundinnen, Gönnerinnen, manchmal lieben sie (häufiger mich als meine Gedichte, und wenn sie Gedichte als Draufgabe nehmen, dann, im geheimen Herzen, natürlich die von 1916). Wozu die ganze Arbeit? Dieses Vollschreiben von Spalten und Spalten – auf der Suche eines Wortes, häufig nicht einmal eines Reimes, eines Wortes mitten in der Zeile, das, warum, weiß ich nicht, bei Gott so und so klingen und das und das bedeuten muß! Du kennst das. Darum treibt es mich auch zu dir wie die Planke ans Ufer…“
Über die Arbeit des Dichters, das „heilige Handwerk“, wie sie es nannte, hat Matina Zwetajewa viel geschrieben. Dichten heißt „Adern öffnen“, aus denen wie Blut aus Wunden „Vers“ sprudelt. Solcherart expressive Metaphorik steht in der Poetik Marina Zwetajewas neben anderer. In dem Gedicht über den Tisch der Dichterin zum Beispiel handelt es sich keineswegs um Zeichen oder Symbol, noch Substitution für den Begriff des „heiligen Handwerks“, sondern um einen realen, aus dem Stoff Holz gefertigten, mit Knien und Ellbogen wahrgenommenen Freund und Helfer. Wie die geliebten Bäume, wie Eisenbahnschienen und Telegrafenmasten – alles einfache Gebrauchsgegenstände – gewinnt der Tisch Leben, weil die Dichterin seine Gestalt annimmt, indem sie in sein Innerstes vordringt. Über dieses Gestaltungsprinzip notierte Marina Zwetajewa 1924: „Werde selbst Brücke, oder die Brücke wird du, identifiziere dich oder identifiziere. Sage es immer im Bild. Benennen (eine Sache geben) heißt am wenigsten sie beschreiben. Die Espe ist visuell bereits gegeben, gib sie von innen, aus dem Stamm: mit ihrem Innersten.“ In analoger Weise „verwandelte“ sich die Zwetajewa in Gestalten historisch früherer Epochen oder in literarische Helden wie zum Beispiel Ophelia (in „Hamlets Dialog mit dem Gewissen“, 1923).
Die Gedichte der Zwetajewa sind für gewöhnlich kurz und ohne äußere Handlung. Auf Kontrast und Widerspruch gebaut, auf den Kampf der Leidenschaften gegründet, äußerlich wie ein Monolog, enthalten sie jedesmal einen Disput mit einem unsichtbaren Widersacher. Die verborgene Feder, die den Bogen des Gedichtes spannt, ist die starke, komprimierte Emotion. Charakteristisch sind Tonlagen der lebendigen Umgangssprache. Wie im erregten Gespräch werden einzelne Wörter verschluckt und von der Geste ersetzt. Dann entsteht eine Pause, durch Gedankenstrich gekennzeichnet. Oftmals ist der Rhythmus kein fließender, gesanglicher. Die Dichterstimme überstürzt sich quasi und stolpert.
Wie ihre Zeitgenossen Majakowski und Pasternak hat die Zwetajewa viel Neues in die russische Dichtkunst eingebracht, und wie jeder Neuerer stützte sie sich dabei auf Traditionen, von denen sie sich zugleich löste. Ossip Mandelstam sagte: „… ist kein Dichter ohne Stammbaum, ohne Ahnentafel: jeder kommt von weit her und geht weit hinaus.“ Indem sie sich von den derzeitig zur Mode gewordenen Symbolisten scharf absetzte, kam die Zwetajewa von sehr „weit her“: Am nächsten standen ihr die Romantiker des neunzehnten Jahrhunderts, russische wie deutsche. Hölderlin und Heine erwähnt sie mehrfach als Lieblingsdichter der Vergangenheit, von den Zeitgenossen Rilke, in der russischen Poesie Michail Lermontow. Mit ihrem Gesamtwerk setzt die Zwetajewa die russische Lyriktradition des neunzehnten Jahrhunderts fort, die in Tjutschew gipfelte. „Wenn ich an den russischen Charakter ihrer Poesie denke“, schrieb Ilja Ehrenburg 1957 im Vorwort zu dem Zwetajewa-Lyrikband, der nach langer Pause zum Druck vorbereitet wurde, „wende ich mich am wenigsten ihren Märchen oder dem zu, was sie dem Volkslied entnommen hat. Die äußeren Zeichen sagen scheinbar etwas anderes aus: das Wissen von und die Liebe zu den verschiedensten Richtungen – zu den alten Griechen, zu Deutschland, zu Frankreich. In ihrer Jugend begeisterte sich die Zwetajewa an ,L’Aiglon‘ und der ganzen Pseudoromantik von Rostand. Dann gingen ihre Neigungen tiefer: Goethe. ,Hamlet‘, ,Phèdre‘. Sie dichtete auf französisch und deutsch. Doch fühlte sie sich überall, außer in Rußland, als Ausländerin. Ihr Herz hing an der Heimatlandschaft – von der ,flammenden Vogelbeere‘ der Jugend bis zum letzten blutenden Holunder. Grundthema ihrer Dichtung sind Liebe, Tod, Kunst, und diese Themen löste sie auf russische Weise, nicht nur in der Nachfolge ihrer großen Vorgänger, sondern auch in der Geisteshaltung ihres Volkes. Die Liebe war für sie jenes ,schicksalhafte Duell‘, von dem Tjutschew sprach. Liebe ist entweder Trennung oder quälender Bruch… Über den Tod dachte sie viel nach, hartnäckig, ohne Furcht, aber auch ohne Versöhnung. In ihr war heidnische Weisheit, unhellenische, eigene, russische… Vielleicht könnte man die Gedichte der Zwetajewa über Kunst die schönsten nennen. Handwerkelnde Reimschmiede haßte sie, wußte aber genau, daß kein Ingenium ohne Kunstfertigkeit ist, und setzte das Handwerk hoch an.“
Für meine Verse, wie für alte Weine,
kommt noch die Zeit herauf.
Marina Zwetajewa, 1913
In den dreißiger Jahren eröffnen sich der Zwetajewa neue Horizonte. Nahe sind ihr nun die Leiden einst ferner Völker. „Jetzt, da uns Spanien näher, Spanien heran- und Pseudospanien abgerückt ist, da wir Tag für Tag tote und lebende Frauen- und Kindergesichter vor Augen haben…“, konstatiert sie 1937.
Voll Trauer und Zorn sind ihre Gedichte an das von den Faschisten okkupierte Böhmen (1938). Im Nachhinein bedauert sie, vieles, als sie in Prag lebte, nicht begriffen und liebgewonnen zu haben. „Ich glaube“, schrieb sie am 24. November an Anna Teskova, „die Tschechoslowakei ist mein erster Schmerz dieser Art. Rußland war zu groß und ich zu jung. Es bekümmert mich auch, daß ich für die Tschechoslowakei damals ebenfalls zu jung war…“
Dem tschechischen Zyklus war ein trauriges Schicksal beschieden. Es sollten ihre letzten Gedichte sein. Durch den Zorn der Zeilen klang zum erstenmal hoffnungslose Verzweiflung – die starke Lebenskraft verließ Marina. Zwar will sie noch glauben, daß „das Volk nicht stirbt“, aber angesichts des faschistischen Ungeistes, der sich über Europa verbreitet, verfällt sie dem Entsetzen:
Klage des Zorns und der Liebe!
Salz, das auf Augen ruht!
Oh, und Böhmen in Tränen!
Oh, und Spanien im Blut!
O schwarzer Berg, der du das
Licht verdunkelt hast!
Zeit ists, Zeit, dem Schöpfer
Hinzuwerfen den Paß.
Wladimir Orlow, Marina Zwetajewas Biograph, hört aus diesen Zeilen eine Reprise des Rebellentums gegen die göttliche Weltordnung von Dostojewskis Iwan Karamasow heraus.
Kurz vor dem Überfall des faschistischen Deutschland auf die Sowjetunion kehrte Marina Zwetajewa in die Heimat zurück. Ihre Tochter und ihr Mann, der Spanienkämpfer gewesen war, hatten es vor ihr getan. Die langersehnte Rückkehr brachte leider keine Erlösung. Neuer Kummer suchte sie heim. Mann und Tochter fielen Verleumdung und Repressalien zum Opfer. Marina fand noch die Kraft, einige wenige literarische Verbindungen wiederherzustellen, übernahm Übersetzungsaufträge und bereitete einen Band eigener Gedichte zum Druck vor; da ereilte sie ein neues Unglück: der Krieg. Mit ihrem sechzehnjährigen Sohn wurde sie nach Jelabuga evakuiert, wo sie, von den Entbehrungen der ersten Kriegsmonate zerrüttet, ihrem Leben ein Ende setzte. Es geschah am 31. August 1941. Einen Zeugen ihrer letzten Stunde gibt es nicht. Ihr Sohn wurde später eingezogen und fiel.
In ihrer Jugend hat Marina Zwetajewa ihren Dichterruhm in ferner Zukunft vorausgesagt. Damals hat sie, die in der Welt der Phantasie und Bücher lebte, das Verhältnis ihrer Zeitgenossen zu ihrer Kunst wenig bewegt. Als reife Dichterin hat sie dann immer häufiger ihre Beziehungen zu ihrer Zeit durchdacht. In dem Artikel „Der Dichter und die Zeit“ versuchte sie 1936 eine Rechtfertigung ihrer schwierigen Position: „Die Zeitgenossenschaft des Dichters ist in der Menge der Herzschläge pro Sekunde, die den genauen Pulsschlag des Jahrhunderts bis in seine Krankheiten hinein angibt.“ Aber diese Rechtfertigung genügte bald nicht mehr. Ihre extreme Ehrlichkeit machte der Zwetajewa immer bitterer die Grenzen bewußt, die ihr Talent gefesselt hielten. Ilja Ehrenburg bezeugte: „Marina Zwetajewa liebte das Leben, bejahte es, aber so zu leben, wie sie wollte, vermochte sie nicht. In Moskau besang sie die Lorelei, Paris, die Insel Helena. Und in Paris gingen ihr die Birken von Kaluga und das traurige Feuer des Holunders nicht aus dem Sinn. Sie begeisterte sich für Stepan Rasins Freischaren, aber als sie mit den Nachkommen ihres geliebten Helden zusammentraf, erkannte sie sie nicht. Ihr ganzes Leben lang kämpfte sie mit sich selbst.“
Doch in aller tragischen Zerissenheit hat die Zwetajewa ihre Dichterstimme bewahrt und den Weg zur nationalen Poesie gefunden. Zweifellos war ihr Talent größer als ihr Werk. Es war so stark, daß, was sie schuf, wesentlicher Bestandteil russischer Dichtung des zwanzigsten Jahrhunderts wurde und Weltgeltung erlangte.
Alexander Twardowski, einer der größten russischen Dichter unserer Zeit, schrieb: „M. Zwetajewa kommt in der Entwicklung der russischen Lyrik zweifellos eine so bedeutende Rolle zu, daß jedermann, der sich für Gedichtetes interessiert, ihr Werk in dieser oder jener Form kennenlernen sollte.
In dem Buch ist viel Herzeleid, schmerzliches Bedenken, qualvolle Mühe, eine Welt zu gestalten, die sich der Dichterin oftmals dunkel und barbarisch darstellte (hier spiegeln sich die Besonderheiten eines schweren Schicksals), aber es ist darin auch so viel ungebrochene und innige Liebe zum Leben, zur Poesie, zu Rußland, auch zu Sowjetrußland, und so viel Haß gegen die bourgeoise Welt der ,Reichen‘ wie Pathos antifaschistischer Ausrichtung.
Was im eigentlichen den Vers betrifft, das Wort, den Klang, die Intonation, so handelt es sich hier um ein überhaupt seltenes und bewunderungswürdiges Phänomen der russischen Poesie.“
Edel Mirowa-Florin, Nachwort, 1979
Vor gut einem halben Jahrhundert sagte Marina Zwetajewa (1892–1941), Hexenmeisterin des russischen Wortes, blutjung und namenlos, die Zeit für ihre Verse voraus. Die Sonne ist mein. Ich geb sie niemandem her – verkündete ein maßloser Anspruch an sich und die Welt. Von allen Eine, für sie, gegen sie – lautete die kämpferische Formel für das eigene Leben und Werk.
Ein viertel Menschenleben später hatte sich die Gewißheit von der selbstgewählten Mission in Absage verkehrt: In der Gegenwart und in der Zukunft ist für mich kein Platz. Dazwischen liegen Emigration und Desillusionierung, Heimweh, materielle Not und Einsamkeit auf der Suche nach einem richtigen Leben richtiger Menschen in der Welt der Reichen – Stationen auf dem „Leidensweg“ einer großen Dichterin, deren Rebellennatur im Dienst der Kunst zwischen die politischen Fronten ihrer Zeit geriet und die spät und mit Schmerz erkannte: Alle Kraft ist dort. – Im Lande Majakowskis.
Dennoch schuf die „Frau mit der unternehmenden Seele eines Mannes“ aus Inspiration plus Knochenarbeit stimmgewaltige Poesie, urrussische Verse über Liebe, Tod und Leben, über die Kunst und die Welt, die durch alle tragischen Widersprüche hindurch den genauen Pulsschlag des Jahrhunderts bis in seine Krankheiten hinein vermitteln.
Unter uns Heutigen ist dieser Stimme, die auf Wahrheit brennt, der Platz bereitet.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, 1980
– Zwetajewas eigenwillige Interpunktion. –
Asketische Disziplin gehört zur Grundausstattung von Zwetajewas Charakter. Aber dieser kennt auch den Exzeß: in der Liebe (die sich auf beide Geschlechter erstreckt), in der Kunst, deren Maximalismus keine Grenzen duldet:
Das, was für euch ,Spiel‘ ist, ist für uns der einzige Ernst. Ernsthafter werden wir auch beim Sterben nicht sein.
Der Selbstanspruch ist kolossal: von jenem Moment an, da Marina – die dem Wunsch der Mutter gemäß ein Junge hätte sein sollen und später Pianist – dezidiert das Schreiben wählt. Mit diesem Entschluß beginnt eine poetische Recherche, wie sie – nicht nur in der russischen Dichtung des 20. Jahrhunderts – an Radikalität ihresgleichen sucht. Zwetajewa gibt 1910 – als Gymnasiastin und im Selbstverlag – ihren ersten Gedichtband Abendalbum heraus; ihm folgen weitere Versbände, Poeme und Theaterstücke, Essays und Tagebuchaufzeichnungen, autobiographische Erinnerungen und lyrische Nekrologe. Ob Poesie oder Prosa: Zwetajewa entwickelt einen eigenwilligen, bis zur Sinnverdunklung komprimierten Stil von höchster Expressivität. Die Radikalisierung der künstlerischen Mittel steht dabei in direktem Verhältnis zur Schwierigkeit der Lebensumstände, als hätte Zwetajewa die Kunst dem Leben abtrotzen müssen. Während sie sich mit ihrer Tochter Ariadna darbend durch die Moskauer Revolutions- und Bürgerkriegszeit kämpft – der Mann gilt als verschollen, die jüngere Tochter verhungert im Kinderheim –, besingt sie aufmüpfig die Weiße Armee. In der Emigration – zunächst in Prag (1922–1925), dann in Paris (1925–1939) –, wo zur materiellen Misere eine wachsende Vereinsamung hinzukommt, sympathisiert sie unverhohlen mit den Roten und brüskiert die Auslandsrussen durch ihre kühnen Verse. 1928 erscheint ihr letzter Gedichtband zu Lebzeiten, Nach Rußland – keiner poetischen Schule, keiner politischen Richtung verpflichtet. Das Lebensdrama spitzt sich 1939 zu, als Zwetajewa mit ihrem (1925 geborenen) Sohn in die Sowjetunion zurückkehrt. Nicht freiwillig: ihr Mann – vom Weißgardisten zum reuigen Kommunisten, ja, zu einem Mitarbeiter des sowjetischen Geheimdienstes konvertiert und als solcher am Mord eines ehemaligen GPU-Agenten bei Lausanne beteiligt – muß Frankreich schon 1937 fluchtartig verlassen; die heimwehkranke Tochter war aus eigenen Stücken gefahren. Doch kaum ist die Familie in Moskau vereinigt, werden Mann und Tochter verhaftet. Zwetajewa ist mittellos, isoliert. Der Kriegsausbruch erfüllt sie mit Panik. Zusammen mit ihrem Sohn wird sie in die tatarische Kleinstadt Jelabuga evakuiert, wo sie sich am 21. August 1941 das Leben nimmt.
Die Gründe für den Selbstmord sind in den verheerenden äußeren Umständen zu suchen, haben aber zweifellos auch mit inneren Ambivalenzen zu tun. Denn das Selbstbild Zwetajewas oszilliert zwischen den gegensätzlichen Polen von Mutter und Dichterin, von Heldin und Opfer, von Lilith und Eva, von Amazone und Phädra. (Wie die antika Phädra wählt sie den Tod durch den Strick.) Androgynität bzw. Bisexualität deuten auf eine weitere Zweiheit hin, explizit thematisiert in der französisch verfaßten Schrift „Mon frère feminin. Lettre à l’Amazone. Auffallend bei alledem ist, daß Zwetajewa die „Koexistenz des Konträren“ anstrebt, mithin die Zerrissenheit in den Status der Norm erhebt. Not oder Tugend? Wohl beides zugleich, wobei der Hang zu Widerspruch, Transgression und Maßlosigkeit unverkennbare Züge einer Rebellion gegen den „ersten Vater“ trägt.
Zwetajewas poetische Recherche manifestiert sich stilistisch in einer Tendenz zu äußerster Verknappung und Verdichtung, zu Prägnanz und Intensität. Dazu dient eine elliptische Syntax (Verbenarmut kontra Substantivfülle) sowie eine verblüffend reiche Interpunktion, die einer eigentlichen Text-Inszenierung gleichkommt. Zwetajewas bevorzugtes Satzzeichen ist das Tiret (der Gedanken- und Trennungsstrich), gefolgt von Doppelpunkt und Ausrufezeichen. Was es mit dem Tiret auf sich hat, ist in der autobiographischen Kindheitserzählung „Mutter und die Musik“ nachzulesen:
Als mich später meine Versrhythmik veranlaßte, die Wörter durch ungewöhnliche Tirets in Silben zu zerlegen, zu zerreißen, und mich deswegen alle jahrelang tadelten und nur wenige lobten (letztere wegen meiner ,Zeitgemäßheit‘) und ich nichts anderes zu erwidern wußte als ,so muß es sein‘, sah ich eines Tages plötzlich die Romanzentexte meiner Kindheit vor mir, mit all ihren gesetzmäßigen Tirets, und fühlte mich gewaschen: durch die Musik von aller ,Zeitgemäßheit‘ rein-gewaschen, gewaschen, gehalten, bestätigt und legitimiert…
Die Interpunktion als quasi-musikalische Notation, im Dienste der Versrhythmik? Gewiß, sofern lautliche Instrumentierung angestrebt wird (und Zwetajewa schrieb mit dem Ohr, verlangte von der Sprache musikalische Qualitäten, die im mündlichen Vortrag hörbar sein sollten). Doch zielt das „Zerlegen“ und „Zerreißen“ tiefer, ins Semantische: Indem die Rede ins Stocken, zu einem nervösen Staccato gerät, wird sie zum emotional aufgeladenen Drama. Während das Ausrufezeichen die Evidenz des Vorhandenen betont, verdeutlicht, verstärkt, pathetisiert, wird durch den Doppelpunkt nicht bloß eine lautliche Zäsur markiert, sondern auf eine weitere, geheime, „letzte“ Wortbedeutung verwiesen, auf ein Dahinter und Darunter…
Die Leidenschaftlichkeit, mit der Zwetajewa interpunktierend inszeniert, hat deutlich dramatische Züge. Das Drama war ihr weder als Genre noch im Leben fremd. Zwischen 1918 und 1927 schrieb sie acht Theaterstücke bzw. Versdramen (unter anderem „Phoenix“, „Ariadne“ und „Phädra“), und im selben Zeitraum „dramatisieren“ sich ihre Gedichte und Poeme: durch Dialoge und eine opulente Satzzeichengebung. Als Beispiel sei das Gedicht „Der Vorhang“ von 1923 angeführt:
Gleich des Vorhangs Wasserfällen, der wie Schäumen–
Tannenrauschen – Flammenlodern – spricht.
Vor der Bühne hat der Vorhang kein Geheimnis:
(Die Bühne – du, der Vorhang – ich.)
Dem Schilfdickicht, geträumten, gleich ein Rückhalt
(Die Flut des hohen Saals – Betroffenheit)
Verberge ich den Helden im Kampf mit dem Schicksal,
Den Ort der Handlung – und – die Zeit.
Gleich den Regenbögen seines Wassers, der Lawine
Lorbeer (hat vertraut ja! – schon gewußt!)
Raube – hegend – deinen Raum ich – ihnen
(Zaubere des Saales – Lust!)
Das Geheimnis des Vorhangs! Traumgesichtigen Waldes
Schlaf-Mittel, -kraut, -korn…
(Hinter schon erschauernden Falten
Stürmt die Tragödie – wie – Zorn!)
Tränen – Lügen! Rang – Alarm, Glockenschlegel!
Zeit, erfülle dich! Sei, Held, wer du bist!
(Der Vorhang geht – wie – ein Segel,
Der Vorhang wogt – wie – die Brust.)
Oh, du Innerstes! – noch aus letztem Herzen
Umhege ich dich. – Explosion! –
Über Phädras – Natternbiß –! Schmerzen
Stieg – wie – ein Greif – er schon.
Da! Reißt – schaut! Es fließt, nicht wahr, euer Opfer?
Bei der Hand mit dem Schaff für das Blut!
Die erhabene Wunde fort geb ich bis auf den Tropfen.
(Des Zuschauers – Weiß. Des Vorhangs – Rot.)
Und dann – der Decke Mitleid mit dem Leiden,
Senkt – ein Bannerrauschen – sich.
Vor dem Saal hat der Vorhang kein Geheimnis.
(Des Saales Leben, der Vorhang – ich.)
(Übersetzung: Elke Erb)
Das Theater ist hier Thema – gespielt wird die Tragödie „Phädra“ –, und mit dem Vorhang, der das Publikum von der Bühne, das reale vom inszenierten Leben trennt, benennt Zwetajewa ihr eigenes zwitterhaftes Wesen, das zwischen „Wahrheit“ und „Dichtung“, zwischen Faktum und Fiktion vermittelt. Im Dichter-Ich kippt die Tatsachenwelt ins Illusionäre; diese wundersame Membran separiert Schmerz von Schmerz, ohne jemandem ein Geheimnis schuldig zu bleiben.
Als Trenninstanzen (oder Mini-Vorhänge) fungieren im Gedicht die Tirets. Selbst die Vergleichspartikel „wie“ wird beidseitig durch Tirets abgetrennt, wodurch die Parallele zwischen Vorhang und Ich besonders ins Auge sticht. Gleichzeitig bilden die Tirets und übrigen Satzzeichen das ordnende Gerüst des Gedichts, dessen elliptischer Nominalstil – bei 200 Wörtern – mit nur 20 finiten Verben auskommt und bisweilen an die Grenzen der Verständlichkeit stößt. Solche Komprimierung, im Verein mit den splittenden Satzzeichen, erzeugt etwas stoßweise Stammelndes, ja, Explosives – und viel Emphase. Womit wir wieder bei Zwetajewas dramatischem Talent wären.
Gekonnt bedient sich dieses der Interpunktionsrhetorik in dem – Boris Pasternak gewidmeten – Gedicht „Zwei“ (1923), das die distanzbedingte Krise einer Freundschaft beschwört:
… Geschieden! – sogar auf der Lagerstreu
Geschieden! – und schlagend sich bekriegend
Geschieden! – im Zwiesinn des Sprachgehäuses
Spät und geschieden – unsere Ehe!
Aber noch ältere Kränkungen gibt es:
Die Amazone, gefällt wie ein Löwe –
So trennten sich der Sohn der Thetis
Und Ares’ Tochter: Achilles und
Penthesilea.
aaaaaaaaaaGedenk ihres Blicks –
Von unten! Eines abgeworfenen Reiters
Blick! nicht vom Olymp – aus dem Mist!
Schlammblick – doch von der Höhe der Leiter!
Sag, was erbringt’s, daß seit dieser Stunde
Eifer ihn sucht: die Frau aus dem Sumpf!
Nicht ist’s bestimmt, daß der Gleiche dem Gleichen…
……………………………………………………………………………
So verfehlten wir – uns.
(Übersetzung: Richard Pietraß)
Besonders emphatisch wirken die Tirets nach dem viermaligen „Geschieden“ mit Ausrufezeichen sowie im Schlußvers „So verfehlten wir – uns“. Wieder fungiert der Gedankenstrich als Trennungsstrich, markiert Distanz. In bezug auf das tragische Paar Achilles und Penthesilea greift Zwetajewa zusätzlich zum Strophenenjambement, um die Diskrepanz der Entfremdung/Entfernung zu verdeutlichen. Der Rückgriff auf antike Mythengestalten gehört im übrigen ebenso zu Zwetajewas Inszenierungsgebaren wie die exzessive Verwendung von Satzzeichen. Inhalt und Form sind nicht zu trennen.
Mit Blick auf die vielfältigen Doppelgänger des lyrischen Ichs – Ophelia und Phädra, Sibylle und Eurydike, Zarenmaid und Bojarin Marina – zeigt sich, wie sehr die theatralische Dramatik immer auch Maskierung beinhaltet. Allein, Maskierung und Inszenierung folgen bei Zwetajewa nicht den Gesetzen spielerischer Nonchalance, sondern gehorchen einer inneren Notwendigkeit. Im Sinne solcher authentisch-radikalen Recherche bilden sie Teil ihrer Poetik.
Unter dem Gesichtspunkt einer feministischen Ästhetik, wie sie heute etwa Marlene Streeruwitz vertritt, darf hinter Zwetajewas „zersplitterter“ Sprache und ihrem Interpunktionsfuror eine Abgrenzung gegenüber der Geschichte der Väter gesehen werden bzw. der Versuch, eine eigene Setzung („Satzung“) zu erproben. Streeruwitz, die ihrerseits eine völlig unorthodoxe Satzzeichengebung (mit rekurrenter Verwendung des Punktes) praktiziert, begründet ihr Vorgehen mit den Worten:
Es war der Geschichte des ersten Vaters und des in ihr transportierten, aber nie preisgegebenen Geheimnisses mit der Suche nach einem eigenen Geheimnis zu entkommen. Es war der Bogen der Geschichte zu zerschlagen und aus den Bruchstücken eine eigene zu formen. Eine andere. Es war die Sprache zu zersplittern und daraus ein neuer, ein anderer Glanz zu retten. Und. Es ging darum, Mittel der Beschreibung dieser Vorgänge und der Abgrenzung zu finden… Gesucht war nicht aggressive Existenz in Stärke. Die Nicht-Invasion. – Ich denke, daß der Punkt in der zerrissenen Sprache diesen Raum, diese Möglichkeiten schafft. Ich denke, daß im Punkt auf der formalen Ebene mein Geheimnis verborgen ist und von da auf die Gesamtstruktur zurückstrahlt.
Auch Zwetajewas Geheimnis läßt sich formal in der Interpunktion orten. Gegen gängige Regeln verstoßend und gekennzeichnet durch eine spezifische (Über-)Inszenierung, steht sie für Dekonstruktion und Konstruktion in einem, spiegelt sie als ästhetisches Mittel den Versuch der Autorin, aus alten Rollen auszubrechen und in der Ambivalenz changierend-widersprüchlicher Selbstbilder zu neuen Setzungen zu gelangen. Der Vorgang entbehrt nicht der Dramatik. Zwetajewas Kunst ist er im höchsten Maße zugute gekommen, während das Leben den kürzeren zog.
Ilma Rakusa, Leicht gekürzte Fassung des Aufsatzes in: Gazzetta Pro Litteris, Heft 2, 2000
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011
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