BAUT EINER KEIN HAUS −
Spuckt die Erde vor ihm aus.
Baut einer kein Haus −
Wird nie er zu Erde:
Erst Stroh, dann Asche im Herde…
Ich baute kein Haus.
Kein russischer Dichter hat sich so sehr selber erfinden müssen wie Marina Zwetajewa. Tochter, die ein Sohn sein sollte. Dichter, in dem man die Poetessa lieber sah als den Poeten.
Als Sohn erwartet und als die unerwünschte Tochter zur Pianistin bestimmt (dem Wunschleben der Mutter), erträumt sie sich phantastische Adoptionen: durch einen Teufel im Zimmer der Stiefschwester, durch Altgläubigen-Nonnen in Tarussa, dem mittelrussischen Sommersitz der Familie, durch eine Tante in der Schweiz. Daß man eine Poetessa vor sich habe, war ein Gemeinplatz der beginnenden zwanziger Jahre. Ossip Mandelstam, konnte sich nicht fassen vor Entrüstung über die „Muttergottesstrickereien“ der Zwetajewa; ihr ganzes Moskau sei erlogen, bestenfalls unfreiwillige Parodie und überhaupt gebe es nur eine Frau, die mit dem Recht einer neuen Muse in den Kreis der Poesie getreten sei – die russische Wissenschaft von der Poesie, wie sie jetzt in der Formalen Schule von Eichenbaum, Shirmunski und Schklowski an Kraft gewonnen habe. „Zigeunerlyrismen“ sagt Majakowski. „Kleine Welt“, sagt Leo Trotzki: „Sie umfaßt die Dichterin selbst, einen Unbekannten mit Melone oder mit Sporen und – unvermeidlich – Gott, ohne besondere Kennzeichen.“ Valeri Brjussow, der Symbolist und frühe Förderer der Zwetajewa, will die Verkennung steuern, worauf kommt er? Auf einen Abend der Poetessen, von ihm präsidiert. Noch als Boris Pasternak 1926 Rilke auf Marina Zwetajewa aufmerksam macht, weiß er nur Marceline Desbordes-Valmore, die französische Romantikerin, zum Vergleich zu empfehlen.
Und das einer Frau, die ein „Wunder an Verstehen“ erwartet. Das Wunder zwischen „Ich küsse immer – als erste“ und „Zwischen uns – die Doppelklinge“. In ihrer „Erzählung von Sonetschka“, ihrer Geliebten während des Kriegskommunismus in Rußland, gibt es eine Stelle, die keiner der Sprecherinnen ausdrücklich zugewiesen ist, beide könnten sie sprechen:
Vor allem aber, ich küsse immer als erste, einfach so wie ich die Hand gebe; nur – unwiderstehlicher: Ich kann es einfach nicht erwarten! Danach, jedes Mal: Wer treibt dich bloß? Du bist selber schuld! Ich weiß genau, daß das niemandem gefällt, daß sie alle gern demütig tun und scharwenzeln, eine Gelegenheit abpassen, hinterherrennen, Jagd machen… Vor allem das – ich kann es nicht ausstehen, wenn der andere als erster küßt. Jedenfalls weiß ich, daß ich das will.
Aber dann „Die Klinge“:
Zwischen uns – die Doppelklinge,
Treueschneide – auch im Geist…
Aber der Bruder, herzbezwingend?
Und die Bezaubrung, die Schwester heißt?
……………………..
Zwei Seiten geschärft – und schneidet?
Es vereint! Zerreiß, Schwert, das Kleid,
Und, Wunde zu Wunde, Bein zu Beine,
Zueinander uns, drohender Wächter, befreit!
Marina Zwetajewa erfand das „ewige Paar der Sich-Nie-Begegnenden“. So bezeichnete sie 1929 (in deutsch) ihr Leben, das sie mit den Männern und Frauen ihrer Liebe lebte. Die Irritationen waren ungeheuer, beginnend bei ihrem Mann Sergej Efron, der nicht ahnte, wem er zugefallen war und endend bei Tanja Kwanina, ihrer letzten Liebe in Moskau, die auch nachdem sie die „Erzählung von Sonetschka“ gelesen hatte, nicht begriff, wie sie geliebt wurde. Das Wunder blieb aus und der eine, von dem Marina Zwetajewa sagt, er sei der einzige gewesen, der gewußt habe, wie sie geliebt sein wolle, Nikodim Plutzer-Sarna, ihr Geliebter im Sommer 1916, ist verschollen.
Heftig und innig, Usurpation und Verzicht, beides in einem – darauf war keiner gefaßt. Als es 1940 zu Begegnungen mit Anna Achmatowa kam, war die Achmatawa, die in den Gesprächen meist geschwiegen hatte, von der ungebrochenen Wildheit der Zwetajewa aufgerührt und soll gesagt haben, verglichen mit Marina sei sie sanft wie ein Kälbchen. Zweifellos blieb in dieser Verbindung immer ein Rest an Gewaltsamkeit, die Gewaltsamkeit einer Erfindung. Doch nur auf diese Weise ist es Marina Zwetajewa gelungen, etwas Unglaubliches zu vollbringen: In ihrer Heftigkeit reinigte sie das große Gefühl und man wird sich nicht wundern, von der Lieblingslektüre ihrer Jugend zu hören: Der Junge Adler von Edmond Rostand, Der Trompeter von Säkkingen von Viktor von Scheffel, Undine von de la Motte Fouqué. Herzzerreißende Geschichten von großen Passionen und großem Entsagen. Die viel verhöhnten Verse aus dem Büchlein der Lieder, das Scheffel in sein Versepos hineinschreibt, hört man hier etwas anders:
Behüt’ dich Gott! Es wär so schön gewesen,
Behüt’ dich Gott! Es hat nicht sollen sein.
Es gab für Marina Zwetajewa nur eine Gestalt, die die Spannung von Heftigkeit und Innigkeit, von Gefühlswucht und Entsagung auszuhalten vermochte, eine Gestalt, die sie ihr Leben lang gesucht und erfunden hat, die sie aus den Büchern ihrer Jugend herauslas, an der sie ihre geschichtlichen Sympathien maß und der sie sogar noch den Namen ihres Sohnes entlieh – die Gestalt des Ritters. Alexander Blok ist für sie der Ritter inmitten eines leeren Literaturbetriebs. Ritter St. Georg, der alte Schutzheilige Nordrußlands, steht ihr für die Weiße Bewegung, und ihrem Mann, dem Offizier der Weißen Armee, huldigt sie in einem „Georg“-Zyklus. Im Gesicht der Statue des Ritters Bruncvik unterhalb der Prager Karlsbrücke glaubte sie, ihre Züge zu erkennen. Ritter Bruncvik, der Legende nach Přemysl II erwarb auf seinen Fahrten vor seiner vierzigjährigen Herrschaft über Böhmen einen Löwen und ein Zauberschwert. Wenn sie einen Schutzengel habe, so Zwetajewa, dann einen mit seinem Gesicht, seinem Löwen und seinem Schwert. 1925 nannte sie ihren Sohn Georg.
Marina Zwetajewa – der weibliche Ritter, die Amazone. Was hat sie erzählt? Mit sechzehn besuchte sie mit dem Vater eine Charlottenburger Gipsabgießerei und durfte sich von den Kopien zwei wählen. „Und was war es, meine Liebe auf den ersten Blick – eine Amazone! Achills geliebte Feindin, von ihm erschlagen und beweint, und jene, die andere, gesittete, meine ,erste beste‘ – niemand anderes als Aspasia!“ Aspasia, die kluge Hetäre, Geliebte des Perikles, Genossin der Philosophen.
Sieht man die Erfindungen in der Ritter-Amazone-Aspasia ineinandergehen? Sohn in der Tochter, Dichter in der Poetessa. Mann in der Frau.
Hochfahrend und wild wird sie einem begegnen, wo immer man sie aufschlägt. Aber diese Abschiede, Abweisungen, Verzichte, Sarkasmen, Beschimpfungen – vogelbeerbitter, sagt sie – haben einen unwiderstehlichen Zauber, den Zauber des Aufruhrs gegen die Vergänglichkeit. Es ist dieser Aufruhr, der sie zum Dichter macht.
„Für wen schreibe ich“, fragt sie 1927 in ihrem-Essay „Dichter über Kritiker“: „Nicht für die Millionen, nicht für einen einzelnen, nicht für mich. Ich schreibe für die Sache selber. Die Sache schreibt sich durch mich.“ – „Der furchtbarste, der erbittertste (und der würdigste!) Feind des Dichters ist das Sichtbare. Ein Feind, den er nur auf dem Wege der Erkenntnis überwältigt. Das Sichtbare in den Dienst des Unsichtbaren zu zwingen – das macht das Leben des Dichters aus.“
Man hat sie mit diesem Anspruch mythoman genannt, und tatsächlich haben alle, die mit ihr zu tun bekamen, diesen Kampf gegen das Sichtbare am eigenen Leib erfahren müssen und fürchten gelernt. Selbst die Tapfersten, die Helden ihrer großen Brief-Romanzen – Boris Pasternak und Rainer Maria Rilke – sind am Ende vor Marina Zwetajewas Mythisierungen zurückgeschreckt, wie erst die Zaghaften. Sie fanden da ihr Leben wieder als das sichtbare Material, aus dem die Zwetajewa das unsichtbare Entzücken ihrer Liebe, ihrer Verlassenheit, ihrer Vermessenheiten und Niederlagen arbeitete. Dem Dichter Maximilian Woloschin, ihrem Förderer und väterlichen Freund von der Krim, hat sie die Beschreibung dieser Operationen in den Mund gelegt: „Wenn Sie einen Menschen lieben“, sagt er zu ihr, „möchten Sie immer, daß er ginge, damit Sie von ihm träumen können. Möglichst weit weg ginge, damit es sich um so länger träumen ließe.“
Daß sie mit diesem Konzept nie die Saison bediente, gar die wechselnden Ismen, die „Quadrille der Literatur“, ist nur die äußere Form ihrer Entledigung von den gefährlichen Sichtbarkeiten. Immer sind die Besiegten ihre Helden, die ins Unsichtbare Sinkenden. In der Revolution zeigt sie das Heldentum der Gegenrevolutionäre. In der Emigration sagt sie von der Sowjetunion: „Die Kraft ist dort.“ Der Massendissens der Frauen in Frauenkursen, im Suffragetteneifer, Feminismus, Heilsarmeetreiben ist ihr tief zuwider: in der Kunst gebe es keine Frauenfrage. Die Russin kultiviert ihre deutschen Verwurzelungen, mythisiert natürlich auch hier. 1919 im Tagebuch:
Frankreich ist mir zu leicht, Rußland zu schwer, Deutschland angemessen – der alte Stamm, die Eiche, heilige Eiche (Goethe! Zeus!). Deutschland ist die passende Hülle für meinen Geist, Deutschland – mein Leib: seine Ströme – meine Hände, seine Haine – mein Haar, es ist ganz mein, und ich ganz – sein!… Deutschland – Schraubstock für den Leib und Eleusinische Felder für die Seele. Ich bei meiner Maßlosigkeit brauche einen Schraubstock.
Und die Russin verbindet sich mit einem russischen Juden, dem sie durch alle Unlösbarbeiten folgt, folgt „wie ein Hund“, wie sie es in der Stunde seiner tödlichen Bedrohung mit einem furchtbaren Eid geschworen hat, denn: „Alle Dichter sind Juden.“ Sie bleibt sich selber treu, als sie wider allen guten Rat in der sicheren Erkenntnis ihres Untergangs 1939, ihrem Mann folgend, in die Sowjetunion zurückkehrt.
Außerhalb der literarischen Schulen und politischen Übereinkünfte stehend, fehlt der Zwetajewa der Gruppen-Bonus. Und es mag durchaus auch darauf zurückgehen, daß sie von den großen russischen Dichtern des Jahrhundertbeginns Westeuropa als letzte erreicht. Sie ist ganz allein. Valeri Brjussow, einer der Organisatoren des russischen Symbolismus und nach der Revolution ein Arrangeur der literarischen „Quadrillen“, nannte die Zwetajewa wegen dieser fehlenden Gruppenzugehörigkeit sogar einen „Niemand“ was sie freilich selber nur als einen weiteren „titre de noblesse“ verbuchen konnte.
Wahr ist, daß sie von keinem der Flügel der russischen Avantgarde, mitgetragen wurde. Weder vom poetischen Aktivismus, der sich vor der Revolution geistig und nach der Revolution auch organisatorisch mit der sozialistischen Umwandlung Rußlands verband (Futurismus, vor allem Majakowski und seine „Linke Kunstfron“), noch vom poetischen Universalismus, der sein Ziel in der Anstrengung des Menschheitsgedächtnisses und der Gewinnung einer welterfahrenen Häuslichkeit für Rußland sah (Akmeismus, vor allem Nikolai Gumiljow, Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa).
Beide Wege waren für Marina Zwetajewa ungangbar, weil sie ihre Grundlagen zerstört hätten. Der aktivistische, weil er einer ruhmredigen Ausstellung des persönlichen Lebens, eines Terrors des Sichtbaren, einer Glorifizierung der Vergänglichkeit bedurfte. Der universalistische, weil er einer Vereinigung von Alltag und Poesie, der Sublimierung des Sichtbaren, eines Einverständnisses mit der Vergänglichkeit bedurfte. An Majakowskis Beispiel hat sie ihr kritisches Verständnis des Aktivismus erörtert:
Ruhm beim Dichter konzediere ich als Reklame – zu finanziellen Zwecken. So applaudiere ich, selber der Reklame abhold, dem – auch hier unvergleichlichen – Maßstab Majakowskis. Wenn Majakowski Geld braucht, veranstaltet er die fällige Sensation („Reinigung der Dichter“, „Schlachtfest der Poetessen“, „Amerikas“ usw.). Skandal, die Leute strömen und lassen ihr Geld. Majakowski, den Dichter, schert weder Lob noch Schmähung: Er weiß, was er wert ist. Aber Geld braucht er. Und seine Selbstreklame ist gerade in ihrer Grobheit reiner als die Papageien, Affen und der Harem von Lord Byron, der bekanntlich kein Geld brauchte.
Unerläßliche Anmerkung: weder Byron noch Majakowski setzten für Ruhm ihre Leier in Gang, beide – das persönliche Leben, den Abfall. Byron braucht Ruhm? Da legt er sich einen Zoo zu, wohnt im Hause Rafaels, fährt – vielleicht – nach Griechenland… Majakowski braucht Ruhm? Da zieht er sich die gelbe Jacke an und wählt zum Auftrittsort einen Bretterzaun. Das Skandalöse des persönlichen Lebens bei gut der Hälfte aller Dichter ist lediglich die Reinigung jenes Lebens, damit es dort rein sei.
Diese Forderung von Vergänglichkeit war für Marina Zwetajewa, ebenso unannehmbar wie die eines stillen Einverständnisses mit ihr. Daher der Aufruhr, als sie bei der Rückkehr in die Sowjetunion die Achmatowa in ihrer großen Dichtung der Gedächtnisse Poem ohne Held scheinbar nur mit irgendwelchen Banalitäten aus dem Balleben der russischen Vorkriegszeit beschäftigt fand.
Auch was den Vers angeht, hielt sich Martina Zwetajewa außerhalb der Saison. Sie macht die exzessive Anstrengung der russischen Wortwurzeln bei Welemir Chlebnikow und den Futuristen ebensowenig mit wie die (impressionistischen) Lautnuancentechniken Mandelstams. Weder die Meetingssyntax Majakowskis noch die Flüstersyntax der Achmatowa. Was sie sich gewinnt, ist eine Virtuosität im Rhythmischen: russische Lied und Sagenfolklore, russischer Kirchengesang, die Auslassungen und Kürzel der Zurufe auf der Straße, das Stammeln und Stottern der Erregung, das Stocken des Erkennens. Gedankenstrich und Ausrufezeichen sind daher die Favoriten ihrer poetischen Interpunktion – die Zeichen des Wechsels und des Affekts. Der Wechsel als Übergang, noch mehr als Ankündigung des Unerwarteten, aber dann auch kombiniert mit Einschaltungen von Fragen und Ausrufen. Und das Zeichen des Affekts nach Befehl, Aufforderung, Warnung, Wunsch, Ausruf, Anrede. Man sehe als extremen Fall das Gedicht „Der Vorhang“ von 1923: Bei 24 Versen 18 Gedankenstriche, 12 Ausrufezeichen; in der deutschen Fassung von Elke Erb sogar 29 bzw. 14.
Hier gibt es nicht den Versuch, einer Syntax des Alltags zu folgen, weder der des vertrauten Gesprächs oder des Selbstgesprächs wie bei Anna Achmatowa noch der des argumentierenden Tribunen wie bei Majakowski. Es ist eine Syntax, die dem Sichtbaren seine wesentliche, innere, unsichtbare, unvergängliche Bewegung ablauscht. „Ablauscht“ – so hat sie es selber genannt, „Silbe für Silbe ablauscht“; aber gleich hat sie eine schöne Ermunterung angefügt, die unsere Lektüre bestimmen könnte. Sie schrieb nämlich:
Wie kann ich, ein Dichter, d.h. ein Mensch des Wesens der Dinge, von Form verführt werden? Ich werde vom Wesen verführt, die Form kommt von allein… Die allmähliche Offenbarung der Züge – so wächst der Mensch, so wächst das Kunstwerk. Wie abgeschmackt, ,formal‘ vorzugehen, d.h. mir (und häufig noch ziemlich falsch) meine Entwürfe nachzuerzählen. Wenn es die Reinschrift gibt, ist der Entwurf (die Form) schon überwunden. Ehe du mir erzählst, was ich in dem vorliegenden Fall bieten wollte, zeig mir lieber, was du dir hast nehmen können.
Fritz Mierau, Vorwort
der schönsten Gedichte der großen russischen Lyrikerin Marina Zwetajewa (1892-1941), in der Nachdichtung durch sieben zeitgenössische deutsche Lyriker. Mit einer Einleitung von Fritz Mierau und Lebensdaten, die mit Lesestücken und Bildern zu Leben und Werk ergänzt wurden.
Verlag Klaus Wagenbach, Klappentext, 1986
1927 notierte Marina Zwetajewa in ihrem im Pariser Exil entstandenen Essay „Der Dichter über den Kritiker“:
Ich schreibe nicht für die Millionen, nicht für einen einzelnen, nicht für mich. Ich schreibe für die Sache selber. Die Sache schreibt sich durch mich.
Der Satz enthält eine explizite Absage an den sozialen Auftrag, wie er etwa das Schaffen des „Volkstribuns“ Majakowskij bestimmte, und ein romantisch gefärbtes Plädoyer für die Autonomie der Kunst. An ihr hielt Zwetajewa zeitlebens fest, wenn sie sich der Einordnung in Gruppen und Kunstrichtungen strikte verweigerte und gegen jede Opportunität, bewußt unideologisch, 1914 für Deutschland, 1919 für die Weiße Armee, in der Emigration für Rußland lyrisch Partei ergriff.
Die Querlage als Seinsweise, die Widerspenstigkeit als schöpferisches Prinzip. Sie hat das Leben der Zwetajewa erschwert, die Rezeption ihres Werks behindert. Dieses wurde in der Sowjetunion erst spät, nicht zuletzt dank den Bemühungen von Ilja Ehrenburg. Konstantin Paustowskij und Zwetajewas Tochter Ariadna Efron, entdeckt und trifft seit einiger Zeit auch in nichtrussischen Kreisen auf lebhaftes Interesse. Es ist zwar längst unbestritten, daß Marina Zwetajewa zusammen mit Anna Achmatowa, Boris Pasternak und Ossip Mandelstam (mit denen sie befreundet war) zu den bedeutendsten russischen Dichtern des 20. Jahrhunderts gehört, doch gibt ihre Poesie dem Übersetzer fast unlösbare Probleme auf. Als Hauptschwierigkeiten wären zu nennen: die extrem elliptische Syntax, die Vorliebe für ausgefallene einsilbige Reimwörter, eine Lexik, geprägt von volkssprachlichen und kolloquialen Wendungen, von Archaismen und kühnen Wortschöpfungen. Eines ist Zwetajewas Lyrik nie: harmlos. Ihre harten, skandierten Rhythmen sind der klangliche Ausdruck einer unerbittlich präzisen Imagination, die mit äußerster Ökonomie und Gewissenhaftigkeit in Sprache umgesetzt wird.
1968 hat Christa Reinig für den Wagenbach-Verlag eine kleine Auswahl von Zwetajewas Gedichten übersetzt; 1980 erschien in Ostberlin (Volk und Welt) ein zweisprachiger Band unter dem programmatischen Titel Maßlos in einer Welt nach Maß, 1986 bei Philipp Reclam (Leipzig) eine weitere Auswahl. Aus diesen drei Editionen hat Fritz Mierau für Wagenbachs Taschenbücherei unter dem Titel Vogelbeerbaum ein neues Bändchen zusammengestellt, das 43 Gedichte aus den Jahren 1913 bis 1939, zwei Einführungstexte sowie eine ausführliche biographische und Bilddokumentation enthält.
Wer eine erste Begegnung mit der russischen Dichterin sucht, wird dankbar zu diesem Buch greifen, das zwar keine repräsentative, wohl aber eine vertretbare Auswahl aus Marina Zwetajewas lyrischem Œuvre in der Nachdichtung von Elke Erb, Sarah und Rainer Kirsch, Richard Pietraß, Christa Reinig und anderen bringt. Ein Wort zur Übersetzung: auch wenn die Methode, die schwierigen Texte der Zwetajewa anhand von Interlinearübersetzungen nachdichten zu lassen, durchaus einleuchtet – die Resultate vermögen nicht immer zu befriedigen. In Anbetracht der Risiken des Unterfangens nimmt man gewisse Mängel allerdings verständnisvoll in Kauf, um so mehr, als der Ton des Originals in der Regel getroffen ist.
Die Themen von Zwetajewas Lyrik sind Abschied, Liebe, Eifersucht, die Einsamkeit des Dichters in einer „Welt nach Maß“, das eigene „Hundeschicksal“, entlarvte Illusionen, der Holunderstrauch der Kindheit, der Einmarsch der Hitlertruppen in die Tschechoslowakei. Etwas Gnadenloses, Schneidendes ist in diesen Gedichten, ein rebellisches Pathos, eine gezähmte Verzweiflung. Wenn man Marina Zwetajewas Poesie verschiedentlich männlich genannt hat, so wegen dieser Besonderheiten, die mit einer seltenen formalen Stringenz gepaart sind.
Schonungslos nennt Marina Zwetajewa die Dinge beim Namen, etwa die Misere ihres Pariser Exils:
Wir gehen auf keine Reisen – duundich.
In zu stopfende Risse verkriechen – die Meere sich.
Alle Taschen zeigen bis auf den Pfennig kein Geld her.
Wir haben zu bleiben und kommen nicht auf ein Weltmeer…
(übers. v. Elke Erb)
Das Motto dieser Lyrik heißt Widerstand. In den frühen Gedichten ist ein Hang zur trotzigen Attitüde nicht zu verkennen (als Mädchen betrieb Marina Zwetajewa einen schwärmerischen Napoleonkult, glorifizierte das „Gegen-den-Strom-Schwimmen“ als selbstgewähltes Prinzip); die Attitüde wandelt sich jedoch bald schon zur Ahnung, ja Gewißheit, daß das Unglück nicht forciert werden muß:
In dieser christlichsten aller Welten sind die Dichter – Juden.
Die Tragik von Marina Zwetajewas Leben besteht nicht zuletzt darin, daß ihr romantisch gefärbter Auserwähltheitsglaube durch die Wirklichkeit, vor allem durch die Erfahrungen des Exils, eine negative Bestätigung gefunden hat. 1923, zu Beginn der Auslandszeit, schreibt sie über das Schicksal der Dichter:
Sie sind, die übrig sind, erläßlich
(und der Gesichtskreis schließt sie aus),
nicht aufzählbar für euer Welt-Adreßbuch;
das Abfalloch ist ihnen – Haus.
Sie sind die nackt Gebliebenen, Verjagten,
stumm euch wie Mist, und wortlos – Vieh,
sind eurem seidenen Saum – ein Nagel!
Den Räderwurfdreck ekeln sie.
Sie treten in den Schein, nicht in Erscheinung.
(Ihr Signum: Lepraschuppen, Grind!)
Die Welt hat Hiobs, die des armen einen
Jobs arme Neider sind:
Poeten – wir, auf Parias das Reimwort…
(übers. v. Elke Erb)
1939 weicht der Stolz einer luziden Resignation:
Für mich sein. Ein Kamtschatkabär
Ohne das Eis. Kann nicht dabeisein.
Kann nicht (wills auch nicht mehr!).
Wo man sich beugen muß, mir gleich…
(übers. v. Chrisia Reinig)
Die Einsamkeit ist längst kein Programm mehr, sondern bitterböse Realität, während das Alleinsein für Marina Zwetajewa, die von häuslichen Sorgen geplagt wird, die größte Sehnsucht verkörpert:
Der ist mein Gott, der mir das eine gibt: Stille der vier Wände.
Indes ist Marina Zwetajewas Dichtung – in allen Lebensphasen – ungemein kraftvoll, ungebrochen; Schmerz artikuliert sich nie wehleidig-elegisch, sondern scharf, nicht selten polemisch. Vergleicht man Marina Zwetajewas (an Mare Slonim adressiertes) Gedicht „Versuch einer Eifersucht“ mit Anna Achmatowas verhaltenem Eifersuchtsgedicht „Das ist einfach, das ist klar“, tritt der Unterschied der Temperamente und Stile kraß zutage: neben der „Muse der Klage“ Achmatowa nimmt sich Zwetajewa geradezu kämpferisch aus; ihre herausfordernd apostrophierenden Strophen verraten sprühende Vitalität und beißende Ironie. Um ein Charakteristikum dieser Poesie zu erwähnen: Der Eindruck der Lebendigkeit und Angriffigkeit resultiert aus Marina Zwetajewas Hang zu Befehl, Aufforderung, Warnung, Ausruf, Anrede – Zeichen des Affekts, die sie durch eine exzessive Interpunktion optisch unterstreicht. Fritz Mierau zitiert in seiner Einführung als extremes Beispiel das Gedicht „Der Vorhang“ von 1923. Die 32 Verse enthalten 25 Gedankenstriche und 14 Ausrufezeichen, die deutsche Fassung von Elke Erb sogar 39 beziehungsweise 14.
Erzählend sind diese Gedichte nie. Eruptiv, emotionsgeladen ließen sie sich als lyrisches „Gestammel“, als dramatische Fragmente, als Seelenprotokolle bezeichnen. Das Gedicht „Mein Schreibtisch“ ist eine moderne Ode, erschütternd nicht nur dadurch, daß ein banaler Küchentisch zum „mein-zu-Lebzeiten-Totenbrett“ gerät, „allen Niedrigkeiten – ein Nicht“. In beinahe barocker Manier baut Marina Zwetajewa hier auf dem Kontrast, auf der Diskrepanz und Dissonanz auf, um ihre grundsätzliche Unbehaustheit auszudrücken. Der Schnitt des Tischrands in die Brust steht für das Heil. „Andre – gebettet in nestwarme Wohnung, / Ich – nein.“ „Nein“, „nicht“ sind zentrale Schlüssel- und Reimwörter, und mehr als das. Marina Zwetajewa hat den Widerstand in kreatives Potential umgemünzt, bis sie am 31. August 1941, zwei Jahre nach ihrer Rückkehr in die Sowjetunion, daran zerbrach, ihrem Leben, mit knapp fünfzig, ein Ende setzte.
Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 26.2.1987
Neben Anna Achmatowa gilt sie als die bedeutendste russische Dichterin des 20. Jahrhunderts: Marina Zwetajewa, 1892 als Tochter eines Kunsthistorikers und einer Pianistin in Moskau geboren, 1941 – nach langjährigem Exil – in Jelabuga gestorben.
Man könne sie nur über Kontraste erfassen, das heißt über die „Allgegenwärtigkeit von allem“, schrieb Marina Zwetajewa 1937 an Jurij Ivask. Gegensätze, Widersprüche, Extreme sind ihr Wesens- und Lebensmerkmal. Sie liebt Napoleon und haßt die „Diktatur des Meeres“; sie besingt – in der Sowjetunion – die Weiße Armee und verteidigt – in der Emigration – den „roten“ Majakowskij; sie wählt die alte, vorrevolutionäre Orthographie, um ihrer Zeit prophetisch vorauszueilen; sie fürchtet die Errungenschaften moderner Technik und stößt ästhetisch an äußerste Grenzen vor; sie schafft es, „gleichzeitig zehn Beziehungen zu unterhalten“, und erträgt nicht die geringste Abwendung des Blicks; sie sehnt sich nach Liebe und scheut reale Begegnungen („Man stößt mit den Köpfen aneinander. Zwei Wände. Kein Hindurchkommen“); sie ist Dichterin mit Haut und Haar und zugleich „Pelikanmutter“, Vollhausfrau und Ernährerin; sie bevorzugt den Traum und „schmort im Alltag“ – „maßlos in einer Welt nach Maß“.
Es bedurfte einer gewaltigen Anstrengung, diese Gegensätze aus- und aufrechtzuerhalten, auch wenn just sie poetischen Zündstoff lieferten. Man ertappt Zwetajewa immer wieder bei dem Versuch, schmerzlich empfundene Dualismen gewaltsam auszumerzen. Mit fragwürdigem Erfolg, wie ein deutsch geschriebener Brief an Rainer Maria Rilke (2.8.1926) zeigt:
Den Mund hab ich immer als Welt gefühlt: Himmelsgewölbe, Höhle, Schlucht, Untiefe. Ich habe den Körper immer in die Seele übersetzt (entkörpert!), die – physische- Liebe – um sie lieben zu können – so verherrlicht, daß plötzlich nichts von ihr blieb. Mich in sie vertiefend, sie ausgehöhlt, in sie eindringend, sie verdrängt. Nichts blieb von ihr, als ich selbst: Seele.
Zwetajewas Prioritäten sind unverkennbar: In romantisch-idealistischem Geist erzogen, favorisiert sie die Seele vor dem Körper, die Abwesenheit vor der Präsenz, die Ruhelosigkeit des Begehrens vor dem Erfülltsein, das Ideal vor der schlechten Alltäglichkeit, die Dichtung vor dem Leben. Doch indem sie sich zur Auseinandersetzung zwingt, das „Kontra“ großschreibt und sich jeder Ideologie verweigert, indem sie das Risiko des Widerspruchs (der Isolation usw.) eingeht, schafft sie ihr Werk: ein „Gesamtkunstwerk“ eigenster Prägung, darin jede Metapher rückübersetzbar ist in harte Lebenswährung.
Ein Blick zurück in die Kindheit verrät dies:
Wichtigste Einflüsse: Die Mutter (Musik, Natur, Gedichte, Deutschland. Passion fürs Judentum. Einer gegen alle. Eroica). Weniger bewußt, aber nicht weniger stark: Einfluß des Vaters (leidenschaftliche Arbeitsliebe, kein Karriere-Ehrgeiz, Schlichtheit, Weltfremdheit). Vaters und Mutters Einfluß zusammengenommen: Spartanertum. Zwei Leitmotive in einem Haus: Musik und Museum. Atmosphäre: weder bourgeois noch intelligenzlerisch, sondern ,ritterlich‘, Leben auf hohem Niveau.
Jedes Stichwort – es handelt sich um die Beantwortung eines Fragebogens – ließe sich bekräftigen durch das Porträt von Zwetajewas Tochter Ariadna Efron: stilvolles, sicheres Auftreten, gerade Haltung, schlagfertige Rede („Sie sprach kurz, ihre Antworten waren Formeln“), spartanische Bescheidenheit in bezug auf Kleidung („Mode lehnte sie ab“), Essen und Schlaf, Liebe zu klar konturierten Landschaften (Berge, Felsen, Wald), die man als Fußgänger bewältigen kann. „Sich einfach zu ergötzen vermochte sie nicht.“
Mit Zigaretten, schwarzem Kaffee und einem Zimmer für sich allein wäre Zwetajewa glücklich gewesen. Aber solchen Luxus kannte sie nur als angehende Dichterin in Maximilian Woloschins Künstlerkolonie auf der Krim. Ebendort lernte sie Sergej Efron kennen. Bald darauf – sie war 19, er 18 – heirateten sie, 1912 kam die Tochter Ariadna zur Welt, und von da an gönnte ihr das Leben keine Ruhe: Revolution, Geburt von Irina, die während des Bürgerkriegs verhungert, Efron verschollen, erst 1921 die Nachricht, er lebe in Prag. 1922 Emigration, ärmliches Leben in Prager Vororten, 1925 Geburt des Sohns Georgij (Mur), Übersiedlung nach Paris. Enge, finanzielle Schwierigkeiten, Isolation.
In den dreißiger Jahren zunehmende Entfremdung von Mann und Tochter. Efron, Leiter des dem NKWD unterstehenden Verbands der Heimkehrer in die UdSSR, wird in den Mordfall Ignaz Reiss bei Lausanne verwickelt und muß sich 1937 über das republikanische Spanien in die Sowjetunion absetzen. Zwetajewa folgt 1939 nach, aus Treue, aber ohne Illusionen. Im Spätsommer wird Ariadna verhaftet, kurz darauf Sergej. Wohnungssorgen, Arbeitsprobleme, Angst. Nach Kriegsbeginn läßt sich Zwetajewa mit ihrem Sohn aus Moskau ins tatarische Jelabuga evakuieren. Dort nimmt sie sich am 31. August 1941 das Leben, 49 Jahre alt.
Ständiger Begleiter in dieser Wirrsal war das Heft. Das Heft auf dem Küchentisch, im Freien, auf den Knien. Hier entwarf Zwetajewa Gedichte, Poeme, Versepen, lyrische Essays, Prosaerinnerungen, Dramen, hier notierte sie Briefe und Tagebuchskizzen. In der Morgendämmerung oder in kurzen Pausen des Alltags. „Ich habe keine Zeit nachzudenken, die Feder denkt.“ Doch Schaffensdrang und Disziplin waren immens, das Schreiben ein Muß, das Zwetajewa als „Leibeigene der Lyra“ der Leibeigenschaft des Hausfrauendaseins abtrotzte. Warf man ihr Härte vor, reagierte sie unwirsch:
Meine scheinbare Härte war nur – Form, Wesenskontur, notwendiger Selbstschutz – vor eurer Weichheit, Rilke, Marcel Proust und Boris Pasternak… Ihr kauft euch – durch sie – frei, verstopft mit dieser hygroskopischen Watte die Wundlöcher, die ihr geschlagen habt, den brüllenden Schlund der Wunden… Robert Schumann vergaß, daß er Kinder hatte, vergaß ihre Anzahl, vergaß ihre Namen, vergaß überhaupt die Tatsache, fragte nur, ob die älteren noch immer so wundervolle Stimmen hätten. Aber – das ist nun eure Rechtfertigung – nur Solche schaffen Solches. (An Boris Pasternak, Oktober 1935)
Schaffen nur Solche Solches? Zwetajewa behauptet, wie sich längst gezeigt hat, den gleichen Rang wie die von ihr bewunderten Rilke und Alexander Blok, wie Ossip Mandelstam, Boris Pasternak und Anna Achmatowa. Und müßig die Frage, ob sie unter besseren Lebensbedingungen noch Besseres, noch mehr geleistet hätte. Die Zwänge, die Widerstände und Spannungen lieferten wesentliche Schreibimpulse, Zorn, Frustration und Sehnsucht („mein stärkstes Gefühl“) entluden sich im Gedicht.
Zwetajewa ist ein genuin dramatisches Talent, unter ihrer Hand gewinnt jeder Stoff geradezu explosive Expressivität. Ob Tisch oder Holunder, ob Vorhang oder ein Augenpaar – die Leidenschaft versetzt alles in Vibration. Und wo der Zorn diktiert, hagelt es (wie im Gedicht „Zeitungsleser“, 1935) sarkastische Staccatoverse:
… Zeitung lies: Geläster.
Zeitung lies: Der Feind.
Keine Spalte ohne Ekel,
Keine Zeile nicht verschweint…
(Übersetzung: Christa Reinig)
Selbst Abschied, Trennung, Tod inspirieren Zwetajewa nicht zu elegischen Zeilen, sondern – umgekehrt – zu einem vitalen, herausfordernd emphatischen Dialog. Der Bruch mit Konstantin Rodsewitsch – nach einer kurzen stürmischen Liebe in Prag – erscheint im „Poem vom Ende“ als Kulmination, als der geballteste Ausdruck der Beziehung. Und Rilkes Tod setzt in Zwetajewa jene schöpferischen Energien frei, die im Briefwechsel – mit seinem Maximalismus, seiner angespannten Hoffnung auf eine Begegnung (zu der es nie kommen sollte) – implodierten: die lyrische Nekrolog-Epistel „Neujahrsbrief“ liest sich als heiter-ernstes Gespräch außerhalb von Raum und Zeit, in der Freiheit uneingeschränkter Kommunikation und Phantasie.
Mit den Prosatexten „Dein Tod“ (1927) und „Einige Briefe von Rainer Maria Rilke“ (1929) führt Zwetajewa den Dialog fort. So wie sie in den dreißiger Jahren den Tod ihrer Freunde Andrej Belyj und Sonja Holliday mit dem Essay „Ein gefangener Geist“ und der wunderbar lebendigen „Erzählung von Sonetschka“ beantwortet. Aufrührerisch den Tod negierend, inszeniert sie Unmittelbarkeit; die Beschwörung des Dahingegangenen verdichtet sich zum Mythos, zur Gegenwelt.
Das gilt im besonderen für die autobiographische Prosa – „Mutter und die Musik“, „Das Haus beim alten Pimen“ u.a. –, wo die Gestalten der Kindheit, auch der jungen Marina, erweckt werden – subjektiv („wie ich es sehe“), mit heftigem lyrischem Zugriff, unter gezielter Verwendung direkter Rede und Thematisierung des Erinnerungsprozesses selbst. Nicht Familienchronik, sondern glühende Ich-Prosa, nicht wehmütiges Memorieren, sondern dialogischer Monolog einer Mythomanin.
Zeitgenossen, Brieffreunde bestätigen es: Zwetajewa war eine Mythenbildnerin, die sich von ihrem Gegenüber ein Bild schuf – leidenschaftlich, ungestüm, idealisierend –, darin der andere unterging, unfähig, ihren possessiven Eros zu erwidern. Tragik all ihrer Briefromane: die Überforderung des Partners durch maximalistische Ansprüche (der Loyalität, Zuwendung, Anteilnahme), seine „Vergewaltigung“. Zog der andere sich zurück – maßlose Erbitterung. Nur wenige, wie Pasternak, sind nicht erschrocken. Rilke, schon schwer krank, war solcher Intensität kaum noch gewachsen:
Rainer Maria Rilke! Darf ich Sie so anrufen? Sie, die verkörperte Dichtung, müssen doch wissen, daß Ihr Name allein ein Gedicht ist…
Superlative, Emphase, Begeisterung. Es ist dieselbe – hymnische – Begeisterung, mit der Zwetajewa zehn Jahre zuvor ihre „Gedichte an Blok“ („Dein großer Name, Buchstaben, vier, / Aus dem Flug gefangene Bällchen und / Die Silberschelle innen im Mund“) und an die „Muse der Klage“, Achmatowa, dichtete oder mit der sie 1919 das Land ihrer Seele, Deutschland, beschwor. Keine blinde, sondern eine luzide Begeisterung, die jedoch zur Mythisierung strebt. (Nicht umsonst kannte sich Zwetajewa in der Mythenwelt der Griechen glänzend aus und verarbeitete antike Sagenstoffe in Dramen und Gedichten.) Die Zielrichtung: oben, „darüber hinaus“, zum Absoluten. Akzidenzien geraten in den Sog der Vision. „Das ganze Werk der Zwetajewa“, schrieb Susan Sontag, „ist eine Aufforderung zur Verzückung und zur genialen Besonderheit, das heißt zur Hierarchie: eine Poetik des Prometheischen.“
Dieser Ansatz erscheint – paradox, wie so vieles bei Zwetajewa – gepaart mit Nüchternheit und daraus resultierendem Sarkasmus. So wie sie ihre Lebenssituation immer klar, illusionslos und ohne Selbstmitleid beurteilt, so wie sie bereits 1934 das heraufkommende Kriegsunheil ahnt und das Zeitalter der „organisierten Massen“ ablehnt, so kennt sie auch im Schreiben Momente des terre à terre, kennt sie die Register handfester Polemik. Voll Empörung reagiert sie auf die Annexion der Tschechoslowakei durch die Hitler-Truppen („Gedichte an das Tschechenland“), und ihre Briefquerelen mit kürzungswütigen Zeitschriftenredakteuren lassen an argumentativer Stringenz nichts zu wünschen übrig. Auseinandersetzung ist die Losung, im Guten wie im Schlechten.
Was heißt das – menschliches Schaffen? Erwiderung eines Schlages, weiter nichts. Eine Sache dringt auf mich ein, versetzt mir Schläge, ich erwidere die Schläge. Entweder die Sache stellt mir eine Frage, und ich antworte. Oder ich stelle vor die Antwort der Sache eine Frage. Stets Dialog, Zweikampf, Ringen, Kämpfen, Wechselwirkung. („Natalja Gontscharowa“, 1929)
Das tote Holz des Schreibtischs („mein Zu-Lebzeiten-Totenbrett“) – Zwetajewa reißt es aus seiner Statik, verlebendigt es zum Gegenüber, in einem Akt schöpferischer Vehemenz:
… Dank, daß du hütetest mich
Und beugtest. Vergänglichem ab
Schlugst du mich wie der Magier die Schläferin.
Der die Male der Schlacht
Tisch, in Kolonnen gebracht,
Die brannten: Der Adern Rot!
Chronik meiner Taten und Not!
Standbildstand, Munds Verschluß
Du warst mir Thron, Raum und Fluß
Warst das, was dem Judenvolk
Die Säule, die brennend rollt!
So sei gesegnet denn –
Mit Stirn, Ellenbogen, verknoteten
Knien – wie eine Säge gewußt –
Tischrand – Schnitt in die Brust!
(Übersetzung: Rainer Kirsch)
Auffallend die Metaphern des Verletzens: Das Vertrauteste, Unabdingbarste fügt Schmerz zu. Selbst das Brot – in einem späten Gedicht von 1940 – „tut weh“. Der Schmerz als Stimulans, als kreativer „Schlag“.
Schon 1916 findet Zwetajewa zu jenen Rhythmen, deren „musikalische Magie“ Pasternak so bewundert hat. Im Laufe der zwanziger Jahre strafft und verschärft sich die Form. Es dominiert der dreihebige Vers mit einsilbigen (Reim-)Wörtern: ein hektisches Staccato, bei einer maximal elliptischen Syntax (die jeden Übersetzer zur Verzweiflung treibt). Äußerste Verdichtung auch in der Prosa: substantivischer Stil voller Wortspiele, Assonanzen, Neologismen, dessen emotionale Geballtheit sich in einer exzessiv-expressiven Zeichensetzung manifestiert. Zwetajewa schreibt mit dem Ohr; ihre Texte sind Partituren, notiert für den mündlichen Vortrag, für die emphatische Deklamation.
Selbst in ihren deutsch geschriebenen Briefen an Rilke (und in ihren französischen Übertragungen eigener Arbeiten) bricht sich ihr Personalstil Bahn: dieselben Kunstgriffe, derselbe prägnante Rhythmus. Rilke schwärmte:
Welche Stärke Du hast, Dichterin, auch in dieser Sprache Deine Absicht zu erreichen, genau zu sein und Du. Dein Gang, der an die Stufen anklingt, Dein Ton, Du.
Zwetajewa hat nie einer poetischen (noch politischen) Richtung angehört, die Attribute symbolistisch, akmeistisch, futuristisch treffen nicht. Herber als (der frühe) Pasternak, verbindet sie rhythmisch manches mit Majakowskij. Die Darstellung entspricht jedoch immer einer zutiefst persönlichen, leidenschaftlichen Sicht der Dinge. Und keine Sache, die nicht Anlaß zur Leidenschaft gegeben hätte. So auch das Meer (in einem Brief an Pasternak vom 23. Mai 1926):
Ich liebe das Meer nicht. Kann nicht. So viel Platz, aber gehen kann man nirgends… Und nachts! Kalt, zurückweichend, unsichtbar, nicht liebend, von sich selbst erfüllt – wie Rilke! (Von sich selbst erfüllt oder von der Göttlichkeit – das ist einerlei.) Die Erde tut mir leid, ihr ist kalt. Dem Meer ist nicht kalt, es ist die Kälte selbst, alles, was an ihm erschreckt – ist es selbst. Sein Wesen. Ein riesiger Kühlschrank. (Nacht.) Oder ein riesiger Kochkessel. (Tag.) Und vollkommen rund. Eine ungeheure Untertasse. Flach, Boris! Eine riesige, flachbödige Wiege, die jeden Augenblick das Kind (die Schiffe) hinausschleudern kann. Man kann es nicht streicheln (naß). Man kann nicht zu ihm beten (schrecklich). So würde ich zum Beispiel Jehova hassen. Wie jede Macht. Das Meer ist Diktatur, Boris. Der Berg ist – Göttlichkeit.
Die Formulierung drängt zum Aphoristisch-Apodiktischen, ohne den Widerspruch zu scheuen. Es gehört zu Zwetajewas Lebendigkeit, daß sie provoziert.
Nicht nur in der Emigration steht Zwetajewa zwischen allen Fronten, doch dort gewinnt ihr Einzelgängertum schicksalhafte Züge. Als prosowjetisch verschrien, vom (klassizistisch geschulten) Literaturpapst Adamowitsch disqualifiziert, durch die Armut sozial ins Abseits gedrängt, von der Epoche abgestoßen, bildet sie in den Pariser Jahren definitiv ihren „Gegen-Sinn“ heraus: ein trotziges, tapferes „Kontra“. Es geht nicht um Märtyrerposen, um ein Leidenscharisma, sondern um die Unfähigkeit, sich zu arrangieren, mit dem Strom zu schwimmen: „daher mein Fußgängertum und meine vollkommene Einsamkeit: vor mir weicht alles zurück.“
Die Einsamkeit ist – neben der Liebe und der Kunst – das Leitmotiv von Zwetajewas Werk: einer gegen alle, alle gegen einen. Die Einsamkeit Gottes und des Menschen, die Einsamkeit des Dichters („jeder Dichter ist Emigrant“) und des Ichs hic et nunc:
Heimweh, jedesmal
Entlarvte Illusion!
Mir ist es ganz egal
Wo ich allein bin.
Allein auf welchem Stein
Steh mit dem Einkaufsnetz,
Ich weiß nicht, was ist mein,
Spital, Kaserne – nichts.
Gleich, vor welchem Gesicht
Sich mir das Fell sträuben muß.
Die Menschen drängeln dicht,
Ich bin herausgedrängt, allein.
Für mich sein. Ein Kamtschatkabär
Ohne das Eis. Kann nicht dabei sein,
Kann nicht (will’s auch nicht mehr).
Wo man sich beugen muß, mir gleich.
Ich folge nicht benommen
Meiner Heimatsprache, ihrem Milchschrei –
Und wenn, die mir entgegenkommen,
Mich nicht verstehn, es ist mir gleich.
(Die Schlucker von dem Zeitungsbier
Die Zentnerleser, Zeilenmelker…)
Sie, 20. Jahrhundert, sind von hier,
Und mein Jahrhundert – irgendeins…
(Übersetzung: Christa Reinig)
In die Literatur ihrer Heimat ist Zwetajewa erst nach Stalins Tod wiederaufgenommen worden. Heute reklamiert Rußland sie als die gegenwärtigste, aktuellste Dichterin, verwöhnt sie mit Editionen, Gedenkstätten, Feiern und Symposien. Die Zeit der Außenseiterin ist gekommen – in einer Epoche radikalen Umbruchs.
Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 3./4.10.1992
AN MARINA
Ich weiß nicht – wie komme ich eigentlich dazu –
manchmal könnte ich dich an die Wand schmeißen,
in die Haare, die Blätter gepackt:
„Was soll uns das heute.“
Puschkin minus Kirsche plus Heine
und Blok, der rotgetüpfelte Freiligrath
und so richtig fettrussisch:
Seele an jeder Straßenecke
und Herz von Baum zu Baum wie ein Hund
als ob man Massen davon hätte
für jeden fehlenden Reim eines.
Doch plötzlich
wie durch schwebende Gardinen
wie Autosummen an einer ferneren Kreuzung
wie Sträflingsruf durch Stacheldraht
und man darf nicht näher heran – sonst knallts.
Was hattest du nötig, dir
mit Majakowskollerbollen das Maul breit zu reißen
du, was beßres.
Sprache ist Gefängnis.
Leben auch.
Christa Reinig
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011
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