FÜR MAJAKOWSKI
1
Daß die Erde nicht krepier
An Kerlen ohne Verve,
Sei, Säugling Wolodimir:
Die ganze Welt beherrsche!
2
„Die Literarische“ – ohne Frage
Nicht sie steht zur Rede – sondern Blut!
Erscheint alle sieben Tage.
Der Fortgegangene – gehts gut,
Einmal im Jahrhundert. Der Vorposten
Erschossen. Sag, Hauptstadt, was
Noch willst du hörn, welche Chose
Käm dir als Titel zupaß?
So ists doch, Freunde, sagt
Ein Tschernowe zum Miljuken:
„Wladimir Majakowski? Tja.
Ein Baß, heißt es, mit Bluse
Drumrum…“
aaaaaaaaaaaaAch Blut, dein Blut!
Wie sich dem Neuen befreunden,
Wenn sie seines Ersten Tod
Auf Seite zwei beleumden
(Der „Iswestija“).
3
„In einem Sarg, schlichtem dunklem Anzug
und derben, eisenbeschlagnen Stiefeln liegt
der größte Dichter der Revolution.“
„Extranummer“, 24. April 1930
In den Stiefeln, beschlagen mit Eisen,
Den Stiefeln, mit denen er nachmaß
Den nicht auf Schlichen, Zingelkreisen
Zu bezwingenden Paß –
Verschlissen glänzend wie Talmi
Im Marsch über zwanzig Jahr
Nahm er den proletarischen Sinai,
Auf dem er Gesetzgeber war.
In den Stiefeln, zweihöhlige Bleibe,
Aus Abscheu vorm Wohnungsamt –
In denen, gequälten Leibes,
Den Berg er trug – und nahm – und schalt – und sang.
In den Stiefeln, bis zum Umbruch ungebrochen,
Über des Oktobers brachen Schlag,
In den Stiefeln, beinah Taucherglocken,
Landsturmstiefeln, sauberer gesagt:
In den Stiefeln des großen Feldzugs
Gewiß, mit Donbaß-Nägeln begabt,
Trug er den Elendsberg seines Volkes
Von hundertfünfzig (Gosizdat)
Millionen… In einem Maße Eignen,
Wo es das zigte Jahr schon heißt:
,,Nichts Eignes in den Zeilen!“
Aller Völker Elendsberg – hier der Beweis!
In diesen also – von seinen Amischlitten
Ist das Getuschel nicht verstummt –
Rief der Tote den Pionieren: Angetreten!
In diesen Stiefeln – wie Zeugenmund.
4
Das Liebesboot zerbrach am Sein.
Keinen Sechser setzt man
Auf so einen Banditen.
Dein Liebesboot, Genosse, stammt
Aus welchen Exerzitien?
Mit einem Boot, gar Liebesnachen
Umzukippen – welch Skandal!
Rasin – dir wohl gleich im Kragen –
Litt am Alltag weniger Qual.
Welche Neuigkeit – ein Mittel,
Sprudelnd wie ein Wasserhahn!
Junge, nicht sehr proletarisch
Ist das – eher à la Pan!
Lohnte denn, bei Gott und Mutter!
Dein Fluch um – Blut, nicht Morgenrot!
Vorzukehrn das Klassenfutter,
Das weiße, weils der Schluß gebot.
Kadettenwitz, der in der „Tosca“
Schoß – aus Melancholia!
Junge! nicht nach Majakowski
Riecht das: bloß nach Schah.
Besser: Mützlein in die Augen
Und – leb wohl, meine Djanym!
Lebtest wie dein eigner Enkel
Und gingst wie – deine Ahnen hin.
Einst, wenn wir zum Richter
Treten, wird dich Scham zerfressen:
Sowjetwerther, Selbstvernichter.
Rußlands alte Adelsgeste.
Hieß es früher – Auf die Wache!
Liest man heute…
aaaaaaaaaaaaaaaaa– Liebster Feind!
Keine neuen Liebesbarken
Gibt es unterm Mondschein.
5
Der Schuß – gezielt in die Seele,
Als wäre sie ein Feind.
Der Heide zerfetzte die Kehle
Des letzten Götterheims.
Noch einmal brillierte er.
Ins Schwarze – und entschlief.
Also doch ein Herz,
Wenn drüber nichts mehr lief.
(Bei Treffen – Ausländerscherze:
„Teufel nochmal! Bombending!
So, haben die auch Herzen,
Und genau wie wir, links?“)
Der Schuß – gezielt ins Schwarze
Wie in ein Jahrmarktsbrett.
(Blessiert den Ohrenrand
Und dann die Frau ins Bett.)
Solch Schütze! Nicht daneben.
Und wenn frauenhalber – was machts.
Noch Helena, bei Licht besehen,
Geriet als Schlampe in Betracht.
Mit einem nur, dafür gehörig,
Hat der LEF-Mann uns bekehrt:
Der nur nach rechts zu röhren
Wußte, hat die Linke sich versehrt.
Wär rechts es gewesen – zügig
Skalpell: gesund der Mann.
Der Schuß – in den linken Flügel:
Den Sitz von „Zentralgesang“.
6
Körner, mit feuerigem Antlitz
Streue ich auf die Hand;
Daß er im Schlund des Lichts
Erscheine als roter Brand.
Sowjetischer Adel
Plenare Synode…
– Gegrüßt, Serjosha!
– Gegrüßt, Wolodja!
Gemartert? – Ein wenig.
– Behördlich? – Persönlich.
– Schoß sichs? – Gewöhnlich.
– Brannt es? – Phantastisch.
– Schon ausgelebt?
– Ich passe, im Grunde.
… Verwerflich, Serjosha
…Verwerflich, Wolodja.
Ich hoffe, du weißt noch
Wie du mich im Baßton
Mit üppigen Flüchen
Belegtest? – Laß schon
Laß… – Da, die Schaluppe
Die Liebeskajüte!
Und wegen ner Puppe?
– Um Wodka ist übler.
Gedunsene Visage
Und seitdem besoffen!
Verderblich, Serjosha.
– Verderblich, Wolodja.
Indessen – kein Bartdolch –
Saubere Mittel.
So ist denn gelocht
Das Kärtchen? – Es sickert.
– Leg Wegerich auf.
– Gut tut Kollodium.
Leg auf, Serjosha.
– Leg auf, Wolodja.
Und was gibts in Rußland
Dem Mütterchen! – Au!!
Wo? – In der ESESESER
Gibts Neues? – Man baut.
Die Eltern – gebären.
Die Schädlinge – raspeln.
Die Verleger – verklären.
Die Schriftsteller – basteln.
Es wuchs eine Brücke
Doch fiel sie ins Wasser.
Wie immer, Serjosha!…
– Wie immer, Wolodja!
Und unsere ,Sänger‘?
– Dies Volk ist gerissen!
Uns Kränze flechtend
Uns, wie Verblichene
Bestiehlt man. Die ROSTA
Mit morgigem Lack.
Ist halt nicht genug
Mit einem Pasternak.
Wolln Hand wir anlegen
In ihrer Ödnis?
Wolln wir, Serjosha?
– Wolln wir, Wolodja?
Noch grüßt und verehrt dich…
– Was macht unser guter
Lsan Alexanytsch?
– Das Englein, dort! – Fjodor
Kusmitsch? – Am Kanal.
Tief, bis an die Wangen
Stand er. – Gumiljow, Nikolai?
– Gen Orient gegangen.
(In blutiger Matte
Das Fuhrwerk beladen…)
– Das alte, Serjosha.
– Das alte, Wolodja.
Und wenn stets das alte
Wolodja, mein Knabe
So lassen wir uns
Nochmals zur Ader.
– Und, ohne sie zu haben
Serjosha, Bruder
Plaziern wir Granaten
Unter dies Ruder!
Im zitternden Licht
Der steigenden Sonne
Plaziern wir, Serjosha!
– Plaziern wir, Wolodja!
7
Viele Tempel zertrat er
Doch dieser ist ohne Vergleich.
Nimm, Herr, in ewigen Frieden
Die Seele deines Feinds.
August 1930, Savoyen
Nachdichtung Richard Pietraß
1
Kein russischer Dichter hat sich so sehr selber erfinden müssen wie Marina Zwetajewa. Tochter, die ein Sohn sein sollte. Dichter, in dem man die Poetessa lieber sah als den Poeten.
Als Sohn erwartet und als die unerwünschte Tochter zur Pianistin bestimmt (dem Wunschleben der Mutter), erträumt sie sich phantastische Adoptionen: durch einen Teufel im Zimmer der Stiefschwester, durch Altgläubigen-Nonnen in Tarussa, dem mittelrussischen Sommersitz der Familie, durch eine Tante in der Schweiz. Daß man eine Poetessa vor sich habe, war ein Gemeinplatz der beginnenden zwanziger Jahre. Ossip Mandelstam konnte sich nicht fassen vor Entrüstung über die „Muttergottesstrickereien“ der Zwetajewa; ihr ganzes Moskau sei erlogen, bestenfalls unfreiwillige Parodie und überhaupt gebe es nur eine Frau, die mit dem Recht einer neuen Muse in den Kreis der Poesie getreten sei – die russische Wissenschaft von der Poesie, wie sie jetzt in der Formalen Schule von Eichenbaum, Shirmunski und Schklowski an Kraft gewonnen habe. „Zigeunerlyrismen“ sagt Majakowski. „Kleine Welt“, sagt Leo Trotzki:
Sie umfaßt die Dichterin selbst, einen Unbekannten mit Melone oder mit Sporen und – unvermeidlich – Gott, ohne besondere Kennzeichen.
Valeri Brjussow, der Symbolist und frühe Förderer der Zwetajewa, will der Verkennung steuern, worauf kommt er? Auf einen Abend der Poetessen, von ihm präsidiert. Noch als Boris Pasternak 1926 Rilke auf Marina Zwetajewa aufmerksam macht, weiß er nur Marceline Desbordes-Valmore, die französische Romantikerin, zum Vergleich zu empfehlen.
Und das einer Frau, die ein „Wunder an Verstehen“ erwartet. Das Wunder zwischen „Ich küsse immer – als erste“ und „Zwischen uns – die Doppelklinge“. In ihrer „Erzählung von Sonetschka“, ihrer Geliebten während des Kriegskommunismus in Rußland, gibt es eine Stelle, die keiner der Sprecherinnen ausdrücklich zugewiesen ist, beide könnten sie sprechen:
Vor allem aber, ich küsse immer – als erste, einfach so wie ich die Hand gebe, nur – unwiderstehlicher. Ich kann es einfach nicht erwarten! Danach, jedes Mal: Wer treibt dich bloß? Du bist selber schuld! Ich weiß genau, daß das niemandem gefällt, daß sie alle gern demütig tun und scharwenzeln, eine Gelegenheit abpassen, hinterherrennen, Jagd machen… Vor allem das – ich kann es nicht ausstehen, wenn der andere als erster küßt. Jedenfalls weiß ich, daß ich das will.
Aber dann „Die Klinge“:
Zwischen uns – die Doppelklinge,
Treueschneide – auch im Geist…
Aber der Bruder, herzbezwingend?
Und die Bezaubrung, die Schwester heißt?
……………………
Zwei Seiten geschärft – und schneidet?
Es vereint! Zerreiß, Schwert, das Kleid,
Und, Wunde zu Wunde, Bein zu Beine,
Zueinander uns, drohender Wächter, befreit!
Marina Zwetajewa erfand das „ewige Paar der Sich-Nie-Begegnenden“. So bezeichnete sie 1929 (in deutsch) ihr Leben, das sie mit den Männern und Frauen ihrer Liebe lebte. Die Irritationen waren ungeheuer, beginnend bei ihrem Mann Sergej Efron, der nicht ahnte, wem er zugefallen war und endend bei Tanja Kwanina, ihrer letzten Liebe in Moskau, die auch nachdem sie die „Erzählung von Sonetschka“ gelesen hatte, nicht begriff, wie sie geliebt wurde. Das Wunder blieb aus und der eine, von dem Marina Zwetajewa sagt, er sei der einzige gewesen, der gewußt habe, wie sie geliebt sein wolle, Nikodim Plutzer-Sarna, ihr Geliebter im Sommer 1916, ist verschollen.
Heftig und innig, Usurpation und Verzicht, beides in einem – darauf war keiner gefaßt. Als es 1940 zu Begegnungen mit Anna Achmatowa kam, war die Achmatowa, die in den Gesprächen meist geschwiegen hatte, von der ungebrochenen Wildheit der Zwetajewa aufgerührt und soll gesagt haben, verglichen mit Marina sei sie sanft wie ein Kälbchen. Zweifellos blieb in dieser Verbindung immer ein Rest an Gewaltsamkeit, die Gewaltsamkeit einer Erfindung. Doch nur auf diese Weise ist es Marina Zwetajewa gelungen, etwas Unglaubliches zu vollbringen: In ihrer Heftigkeit reinigte sie das große Gefühl und man wird sich nicht wundern, von der Lieblingslektüre ihrer Jugend zu hören: „Der junge Adler“ von Edmond Rostand, „Der Trompeter von Säkkingen“ von Viktor von Scheffel, „Undine“ von de la Motte Fouqué. Herzzerreißende Geschichten von großen Passionen und großem Entsagen. Die viel verhöhnten Verse aus dem „Büchlein der Lieder“, das Scheffel in sein Versepos hineinschreibt, hört man hier etwas anders:
Behüt’ dich Gott! Es wär so schön gewesen,
Behüt’ dich Gott! Es hat nicht sollen sein.
Es gab für Marina Zwetajewa nur eine Gestalt, die die Spannung von Heftigkeit und Innigkeit, von Gefühlswucht und Entsagung auszuhalten vermochte, eine Gestalt, die sie ihr Leben lang gesucht und erfunden hat, die sie aus den Büchern ihrer Jugend herauslas, an der sie ihre geschichtlichen Sympathien maß und der sie sogar noch den Namen ihres Sohnes entlieh – die Gestalt des Ritters. Alexander Blok ist für sie der Ritter inmitten eines leeren Literaturbetriebs. Ritter St. Georg, der alte Schutzheilige Nordrußlands, steht ihr für die Weiße Bewegung, und ihrem Mann, dem Offizier der Weißen Armee, huldigt sie in einem „Georg“-Zyklus. Im Gesicht der Statue des Ritters Bruncvík unterhalb der Prager Karlsbrücke glaubte sie, ihre Züge zu erkennen. Ritter Bruncvík, der Legende nach Přemysl II., erwarb auf seinen Fahrten vor seiner vierzigjährigen Herrschaft über Böhmen einen Löwen und ein Zauberschwert. Wenn sie einen Schutzengel habe, so Zwetajewa, dann einen mit seinem Gesicht, seinem Löwen und seinem Schwert. 1925 nannte sie ihren Sohn Georg.
Marina Zwetajewa – der weibliche Ritter, die Amazone. Was hat sie erzählt? Mit sechzehn besuchte sie mit dem Vater eine Charlottenburger Gipsabgießerei und durfte sich von den Kopien zwei wählen.
Und was war es, meine Liebe auf den ersten Blick – eine Amazone! Achills geliebte Feindin, von ihm erschlagen und beweint, und jene, die andere, gesittete, meine ,erste beste‘ – niemand anderes als Aspasia!
Aspasia, die kluge Hetäre, Geliebte des Perikles, Genossin der Philosophen.
Sieht man die Erfindungen in der Ritter-Amazone-Aspasia ineinandergehen? Sohn in der Tochter, Dichter in der Poetessa, Mann in der Frau.
2
Hochfahrend und wild wird sie einem begegnen, wo immer man sie aufschlägt. Aber diese Abschiede, Abweisungen, Verzichte, Sarkasmen, Beschimpfungen – vogelbeerbitter, sagt sie – haben einen unwiderstehlichen Zauber, den Zauber des Aufruhrs gegen die Vergänglichkeit. Es ist dieser Aufruhr, der sie zum Dichter macht.
„Für wen schreibe ich“, fragt sie 1927 in ihrem Essay „Dichter über Kritiker“: „Nicht für die Millionen, nicht für einen einzelnen, nicht für mich. Ich schreibe für die Sache selber. Die Sache schreibt sich durch mich.“ – „Der furchtbarste, der erbittertste (und der würdigste!) Feind des Dichters ist das Sichtbare. Ein Feind, den er nur auf dem Wege der Erkenntnis überwältigt. Das Sichtbare in den Dienst des Unsichtbaren zu zwingen – das macht das Leben des Dichters aus.“ Man hat sie mit diesem Anspruch mythoman genannt, und tatsächlich haben alle, die mit ihr zu tun bekamen, diesen Kampf gegen das Sichtbare am eigenen Leib erfahren müssen und fürchten gelernt. Selbst die Tapfersten, die Helden ihrer großen Brief-Romanzen – Boris Pasternak und Rainer Maria Rilke – sind am Ende vor Marina Zwetajewas Mythisierungen zurückgeschreckt, wie erst die Zaghaften. Sie fanden da ihr Leben wieder als das sichtbare Material, aus dem die Zwetajewa das unsichtbare Entzücken ihrer Liebe, ihrer Verlassenheit, ihrer Vermessenheiten und Niederlagen arbeitete. Dem Dichter Maximilian Woloschin, ihrem Förderer und väterlichen Freund von der Krim, hat sie die Beschreibung dieser Operationen in den Mund gelegt: „Wenn Sie einen Menschen lieben“, sagt er zu ihr, „möchten Sie immer, daß er ginge, damit Sie von ihm träumen können. Möglichst weit weg ginge, damit es sich um so länger träumen ließe.“
Daß sie mit diesem Konzept nie die Saison bediente, gar die wechselnden Ismen, die „Quadrille der Literatur“, ist nur die äußere Form ihrer Entledigung von den gefährlichen Sichtbarkeiten. Immer sind die Besiegten ihre Helden, die ins Unsichtbare Sinkenden. In der Revolution zeigt sie das Heldentum der Gegenrevolutionäre. In der Emigration sagt sie von der Sowjetunion:
Die Kraft ist dort.
Der Massendissens der Frauen in Frauenkursen, im Suffragetteneifer, Feminismus, Heilsarmeetreiben ist ihr tief zuwider: in der Kunst gebe es keine Frauenfrage. Die Russin kultiviert ihre deutschen Verwurzelungen, mythisiert natürlich auch hier. 1919 im Tagebuch:
Frankreich ist mir zu leicht, Rußland zu schwer, Deutschland angemessen – der alte Stamm, die Eiche, heilige Eiche (Goethe! Zeus!). Deutschland ist die passende Hülle für meinen Geist, Deutschland – mein Leib: seine Ströme – meine Hände, seine Haine – mein Haar, es ist ganz mein, und ich ganz – sein!… Deutschland – Schraubstock für den Leib und Eleusinische Felder für die Seele. Ich bei meiner Maßlosigkeit brauche einen Schraubstock.
Und die Russin verbindet sich mit einem russischen Juden, dem sie durch alle Unlösbarkeiten folgt, folgt „wie ein Hund“, wie sie es in der Stunde seiner tödlichen Bedrohung mit einem furchtbaren Eid geschworen hat, denn:
Alle Dichter sind Juden.
Sie bleibt sich selber treu, als sie wider allen guten Rat in der sicheren Erkenntnis ihres Untergangs 1939, ihrem Mann folgend, in die Sowjetunion zurückkehrt.
Außerhalb der literarischen Schulen und politischen Übereinkünfte stehend, fehlt der Zwetajewa der Gruppen-Bonus. Und es mag durchaus auch darauf zurückgehen, daß sie von den großen russischen Dichtern des Jahrhundertbeginns Westeuropa als letzte erreicht. Sie ist ganz allein. Valeri Brjussow, einer der Organisatoren des russischen Symbolismus und nach der Revolution ein Arrangeur der literarischen „Quadrillen“, nannte die Zwetajewa wegen dieser fehlenden Gruppenzugehörigkeit sogar einen „Niemand“, was sie freilich selber nur als einen weiteren „titre de noblesse“ verbuchen konnte.
Wahr ist, daß sie von keinem der Flügel der russischen Avantgarde mitgetragen wurde. Weder vom poetischen Aktivismus, der sich vor der Revolution geistig und nach der Revolution auch organisatorisch mit der sozialistischen Umwandlung Rußlands verband (Futurismus, vor allem Majakowski und seine „Linke Kunstfront“), noch vom poetischen Universalismus, der sein Ziel in der Anstrengung des Menschheitsgedächtnisses und der Gewinnung einer welterfahrenen Häuslichkeit für Rußland sah (Akmeismus, vor allem Nikolai Gumiljow, Ossip Mandelstam und Anna Achmatowa).
Beide Wege waren für Marina Zwetajewa ungangbar, weil sie ihre Grundlagen zerstört hätten. Der aktivistische, weil er einer ruhmredigen Ausstellung des persönlichen Lebens, eines Terrors des Sichtbaren, einer Glorifizierung der Vergänglichkeit bedurfte. Der universalistische, weil er einer Vereinigung von Alltag und Poesie, der Sublimierung des Sichtbaren, eines Einverständnisses mit der Vergänglichkeit bedurfte. An Majakowskis Beispiel hat sie ihr kritisches Verständnis des Aktivismus erörtert:
Ruhm beim Dichter konzediere ich als Reklame – zu finanziellen Zwecken. So applaudiere ich, selber der Reklame abhold, dem – auch hier unvergleichlichen – Maßstab Majakowskis. Wenn Majakowski Geld braucht, veranstaltet er die fällige Sensation („Reinigung der Dichter“, „Schlachtfest der Poetessen“, „Amerikas“ usw.). Skandal, die Leute strömen und lassen ihr Geld. Majakowski, den Dichter, schert weder Lob noch Schmähung. Er weiß, was er wert ist. Aber Geld braucht er. Und seine Selbstreklame ist gerade in ihrer Grobheit reiner als die Papageien, Affen und der Harem von Lord Byron, der bekanntlich kein Geld brauchte.
Unerläßliche Anmerkung: weder Byron noch Majakowski setzten für Ruhm ihre Leier in Gang, beide – das persönliche Leben, den Abfall. Byron braucht Ruhm? Da legt er sich einen Zoo zu, wohnt im Hause Rafaels, fährt – vielleicht – nach Griechenland… Majakowski braucht Ruhm? Da zieht er sich die gelbe Jacke an und wählt zum Auftrittsort einen Bretterzaun. Das Skandalöse des persönlichen Lebens bei gut der Hälfte aller Dichter ist lediglich die Reinigung jenes Lebens, damit es dort rein sei.
Diese Forderung von Vergänglichkeit war für Marina Zwetajewa ebenso unannehmbar wie die eines stillen Einverständnisses mit ihr. Daher der Aufruhr, als sie bei der Rückkehr in die Sowjetunion die Achmatowa in ihrer großen Dichtung der Gedächtnisse Poem ohne Held scheinbar nur mit irgendwelchen Banalitäten aus dem Balleben der russischen Vorkriegszeit beschäftigt fand.
Auch was den Vers angeht, hielt sich Marina Zwetajewa außerhalb der Saison. Sie macht die exzessive Anstrengung der russischen Wortwurzeln bei Welimir Chlebnikow und den Futuristen ebensowenig mit wie die (impressionistischen) Lautnuancentechniken Mandelstams. Weder die Meetingssyntax Majakowskis noch die Flüstersyntax der Achmatowa. Was sie sich gewinnt, ist eine Virtuosität im Rhythmischen: russische Lied- und Sagenfolklore, russischer Kirchengesang, die Auslassungen und Kürzel der Zurufe auf der Straße, das Stammeln und Stottern der Erregung, das Stocken des Erkennens. Gedankenstrich und Ausrufezeichen sind daher die Favoriten ihrer poetischen Interpunktion – die Zeichen des Wechsels und des Affekts. Der Wechsel als Übergang, noch mehr als Ankündigung des Unerwarteten, aber dann auch kombiniert mit Einschaltungen von Fragen und Ausrufen. Und das Zeichen des Affekts nach Befehl, Aufforderung, Warnung, Wunsch, Ausruf, Anrede. Man sehe als extremen Fall das Gedicht „Der Vorhang“ von 1923: Bei 24 Versen 18 Gedankenstriche, 12 Ausrufezeichen; in der deutschen Fassung von Elke Erb sogar 29 bzw. 14.
Hier gibt es nicht den Versuch, einer Syntax des Alltags zu folgen, weder der des vertrauten Gesprächs oder des Selbstgesprächs wie bei Anna Achmatowa noch der des argumentierenden Tribunen wie bei Majakowski. Es ist eine Syntax, die dem Sichtbaren seine wesentliche, innere, unsichtbare, unvergängliche Bewegung ablauscht. „Ablauscht“ – so hat sie es selber genannt, „Silbe für Silbe ablauscht“; aber gleich hat sie eine schöne Ermunterung angefügt, die unsere Lektüre bestimmen könnte. Sie schrieb nämlich:
Wie kann ich, ein Dichter, d.h. ein Mensch des Wesens der Dinge, von Form verführt werden? Ich werde vom Wesen verführt, die Form kommt von allein… Die allmähliche Offenbarung der Züge – so wächst der Mensch, so wächst das Kunstwerk. Wie abgeschmackt, ,formal‘ vorzugehen, d.h. mir (und häufig noch ziemlich falsch) meine Entwürfe nachzuerzählen. Wenn es die Reinschrift gibt, ist der Entwurf (die Form) schon überwunden. Ehe du mir erzählst, was ich in dem vorliegenden Fall bieten wollte, zeig mir lieber, was du dir hast nehmen können.
Fritz Mierau, Nachwort
Meine Mutter, Marina Iwanowna Zwetajewa, war klein – einen Meter dreiundsechzig, sie hatte die Figur eines ägyptischen Knaben – breite Schultern, schmale Hüften, schlanke Taille. Die jugendliche Rundlichkeit wich bald und für immer ins rassig Hagere; sehnig und schmal Fuß- und Handgelenk, ihr Gang beschwingt und rasch, ihre Gesten leicht und ungestüm – ohne Heftigkeit.
Gezügelt und beherrscht unter Leuten, wenn sie fühlte, daß sie gesehen oder gar beobachtet wurde. Dann wurden ihre Gesten behutsam karg, aber befangen war sie nie.
Die strenge aufrechte Haltung: auch über den Schreibtisch gebeugt, behielt sie das „stählerne Rückgrat“…
Ihre Stimme war mädchenhaft hoch, hell, kräftig.
Sie sprach kurz, ihre Antworten waren Formeln.
Sie konnte zuhören; nie bedrängte sie ihren Gesprächspartner, aber im Streit war sie gefährlich: auf Disputen, Diskussionen und Erörterungen warf sie, ohne die Grenzen eisiger Höflichkeit zu verlassen, ihren Opponenten mit einem blitzschnellen Ausfall zu Boden.
Sie konnte glänzend erzählen…
Ariadna Efron: Wie sie war
vereint Gedichte der Jahre 1916–1939 und autobiographische Prosa von 1933/34. – Ein existentieller und poetologischer Diskurs zugleich, geführt mit ungestümer Leidenschaft, mit äußerster Subjektivität der Lebenssicht und -empfindung.
Reclam Verlag Leipzig, Klappentext, 1994
Von dieser Dichterin weiß man sicher, wo sie wohnt, weil sie ja seit 1941 schon tot ist. Im Efeuturm des Poetischen sitzt sie, hoch über Moskau, manchmal bekommt sie Besuch von den Genossen, manchmal fährt sie hinaus auf den See Melancholie, aber immer hat sie ihren Revolver dabei, falls Feinde auftauchen. Dann zielt sie auf deren Seelen, mitten ins Schwarze. Nachher rudert sie heim, zu ihrem Verehrer Paul Celan. Sie selber liebt viele, mal Puschkin, mal Goethe, mal Majakowskij. Eine wie sie lernt man nie ganz aus.
Insgesamt siebzehn Jahre ihres allzu kurzen Lebens hat die russische Dichterin Marina Zwetajewa – geboren 1892 in Moskau, gestorben 1941 in Jelabuga – unfreiwillig im Exil verbracht. Revolution und Kriegskommunismus zwangen die Tochter aus grossbürgerlichem Haus zur Flucht, spurten ihren nomadischen, äusserst entbehrungsreichen Lebensweg ein, der über Berlin, Prag und Paris wieder zurück in die Sowjetunion führte, wo sie sich – nach Tatarstan abgeschoben, als Rückwanderin von den stalinistischen Behörden beargwöhnt und vom Literaturbetrieb faktisch ausgeschlossen – den Tod gab. In einem ihrer späten Briefe umschrieb und erklärte sie ihre damalige Situation wie folgt:
Mit den ständigen Ortswechseln habe ich mein Realitätsgefühl allmählich verloren: Mich gibt es immer weniger … Es bleibt bloss mein grundsätzliches Nein.
Dass Marina Zwetajewa ungeachtet ihrer erratischen Vita, ungeachtet auch der Tatsache, dass sie als alleinerziehende Mutter dreier Kinder (von denen eines während des Bürgerkriegs an Unterernährung starb) extrem belastet und stets auf die Armutsgrenze fixiert war, ein umfangreiches literarisches Werk von fast durchweg höchstem Rang geschaffen hat, ist staunenswert genug; noch erstaunlicher – dass von ihr überdies Hunderte von Briefen sowie rund zwei Dutzend Arbeits- und Notizhefte erhalten geblieben sind, die zweifellos – neben Rainer Maria Rilkes Korrespondenzen, Paul Valérys Heften, Franz Kafkas Tagebüchern oder E.M. Ciorans Aufzeichnungen – zu den grossen Zeit- und Lebenszeugnissen des vergangenen Jahrhunderts gehören.
Vier Bände, gut 2.000 Druckseiten insgesamt, sind unter dem schlichten Titel Unveröffentlichtes zwischen 1997 und 2001 aus Marina Zwetajewas weit verstreutem Nachlass publiziert worden, zuletzt – in zwei Bänden – fünfzehn ihrer Notizhefte aus den Jahren 1913 bis 1939, die, sieht man von einigen Zeitlücken ab, als ein durchlaufendes Tagebuch zu lesen sind.
Die Integralität der doch recht disparaten Texte – es finden sich darunter Wahrnehmungs- und Traumnotizen, Briefentwürfe und Werkkonzepte, Mikroessays und Gedichte, Aphorismen und Exzerpte – ergibt sich nicht aus dem chronologischen oder thematischen Zusammenhang, sondern einzig aus der permanenten machtvollen Präsenz der Autorin, die sich zugleich als schreibendes und handelndes Ich sowie als „Heldin“ in vielerlei Gestalt zu erkennen gibt, um ganz allein und nur für sich selbst ein Stück Welttheater – eine Tragödie, versteht sich – vorzuführen. Die eingestandne Subjektivität der Inszenierung soll deren objektive Gültigkeit beglaubigen. Deshalb fehlen in den vorliegenden Aufzeichnungen zeitgeschichtliche Realien und Personen weitgehend, während das Privatissimum der Autorin – von den Niederungen der Windelwäsche bis zu den Orgasmen dichterischer Kreativität – minutiös dokumentiert wird.
Die grosse Welt der Zwetajewa ist eine Gegenwelt zur schlechten Alltäglichkeit hienieden, gleichwohl ist es keine bloss gute oder gar ideale Welt, es ist ein eigenwilliges riskantes Konstrukt, das eignen Bau- und Funktionsgesetzen folgt und das im Akt seiner Entstehung – durch kühne Vergleiche, Metaphernbildungen, Assoziationen, rhetorische Figuren – auch eine eigne Dynamik gewinnt. Die Schreibhefte bilden gewissermassen die Bühne, von der herunter die Autorin (wohlverstanden: ohne Publikum) ihr trotziges Nein an all jene adressiert, die anders sind als sie, mithin an die Mehrheit der Normalverbraucher, von denen der Gang der Dinge auf Erden, wohl oder übel, bestimmt wird und die sie in dem desolaten Gefühl bestärken, niemandes Zeitgenossin zu sein.
Die tragische Intonation, von der die meisten Werke Marina Zwetajewas und grade auch ihre Tagebücher getragen sind, ist ebenso wie ihre fundamentale Einsamkeit und ihr lange intendierter Suizid letztlich darauf zurückzuführen, dass sie – unfähig, sich der bestehenden Welt anzupassen – die Welt sich selber anpassen, ja unterwerfen wollte. Womöglich erklärt sich daraus auch ihre befremdliche, bisweilen pathetisch überhöhte Vergötterung starker, „weltbewegender“ Männer wie Goethe (als Genie), Casanova (als Beherrscher der Frauenwelt) oder Napoleon (als Staatsmann und Eroberer).
Die Zwetajewa sieht sich als „dezidierte Frondeuse“, vereinigt in sich „spartanisches“ mit „mystischem“ Lebensgefühl, empfindet sich als ein Nichts und kann deshalb Alles werden – der grosse Generator solchen Werdens ist die Liebe. In ihren Aufzeichnungen ist die Liebe, in all ihren Spielarten, mit ihren unvergleichlichen Höhepunkten und in ihrem unvermeidlichen Scheitern, das dominante Thema. Da die Autorin nirgendwo in der Welt sich zu verorten vermochte, sollte ihr Ort die Liebe sein, und sie selbst wollte diesen Ort – auch er eine Art Bühne – in immer wieder andern Rollen bespielen.
Der Ort der Frau ist die Liebe.
Die Liebesaura des Mannes entsteht aus der Liebe der Frau, die Aura der Frau – aus der Liebe zu sich selbst.
Ist es nicht gleichgültig, mit wem man auf Erden schläft, da man doch unter der Erde ohnehin mit jedem schlafen wird, der zufällig da ist.
In der Liebe hat der recht, der mehr Schuld trägt.
Die physische Liebe ist vor allem ein Seelenzustand.
Der Leib ist in der Liebe nicht das Ziel, sondern das Mittel.
Körperliches Zutrauen – das steht bei mir für «Leiden schaft».
Auf den Bereich des Geschlechts übertrage ich ganz unter schiedliche Dinge: Höflichkeit – Beleidigung – délicatesse de cœur.
Zwei Leidenschaften: das Bett (Träume haben) und der Schreibtisch (sie aufschreiben) – oder: der Schreibtisch (Träume haben) und das Bett (sie verwirklichen, im Schlaf ).
Ein Mann, der mich nicht liebt, ist mir ein Rätsel.
Manche meiner Geliebten kenne ich wohl gar nicht.
Ich könnte herrliche – ewige! – Verse schreiben, liebte ich das Ewige ebenso wie das Vergängliche.
Wenn ich an meinen Tod denke, bin ich zutiefst verwirrt: wohin dann mit all meiner Liebe?
Als Liebesgöttin konnte die Zwetajewa, wenn sie sich im Spiegel zu sehn bekam, nicht taugen: ihre Schultern waren zu breit, ihre Hände zu schwer, ihr Haar vorzeitig ergraut, ihre Augen stets gerötet und verklebt. Dennoch ist ihr in Liebesdingen nichts fremd geblieben – von der Mutterliebe über die jäh aufglühende Gelegenheitsliebe bis zur Vaterlands- und Gottesliebe, von der ehelichen bis zur lesbischen Liebe hat sie alles, wenn auch nicht alles mit gleicher Intensität erprobt, ganz abgesehn davon, dass sie sich, darüber hinaus, leicht und gern mit mythologischen oder historischen Frauengestalten identifizierte, um so die Liebe einer Diana, einer Carmen, einer Bettina von Arnim, einer Sarah Bernhardt, selbst eines Hl. Johannes (der „vielleicht eine Frau“ war!) noch einmal in sich zu versammeln.
Ihre eigne Androgynie hielt Marina Zwetajewa für die ideale Ausformung des sexuellen Leibs, ihre bevorzugten Partner waren transsexuelle „Mädchen“, das heisst knabenhafte Frauen (Typ „Jeanne d’Arc“) oder weiblich veranlagte Männer (Typ „Chopin“), doch auch von souveränen, vorzugsweise adeligen Damen und soldatisch auftretenden Herren liess sie sich immer wieder faszinieren. Keine ihrer realen Liebesbeziehungen – ausgenommen ihre Ehe, die freilich nur punktuell gelebt wurde und nicht mehr als eine zweitbeste Liebe war – blieb von Dauer, die meisten endeten dramatisch, manche (etwa jene mit Pasternak, mit Rilke) gelangten nicht über den Verbalverkehr hinaus.
Die grosse, die grösste Liebe kann und darf für die Zwetajewa, die sich selbst als „Seelenkurtisane“ bezeichnet hat, nicht konsumierbar sein, nie ist Liebe „jetzt“, und wenn das Glück, also ihr Vollzug im Präsens droht, muss sie abgewiesen werden. Gross kann nur die Erwartung, nicht die Erfüllung der Liebe sein:
Zwei Hilfsverben machen meine Devise aus – Sein ist besser als Haben.
Frage:
Ist das meine Kälte, ist das mein „ich brauche keinen“? – Nein, ich leide ja selber darunter, wie ich die Liebe liebe. – Sie will nicht gelingen!.. Ich kann immer nur das Einzelne lieben: Stimmen, Hände, Worte, Lächeln, Gesten … und im Ergebnis: Einsamkeit, Ausgebranntsein, Leere.
Mit Marina Zwetajewas Unvermögen (oder war es ihr Unwille?), sich zu Lebzeiten als Liebende und als Dichterin durchzusetzen, kontrastiert ihre stolze Gewissheit, dass jedenfalls die Zukunft ihr gehören, dass ein kommendes Jahrhundert sie als Zeitgenossin erkennen würde:
Meine lieben Urenkel, Liebhaber und Leser in 100 Jahren! Mit euch rede ich wie mit lebendigen Menschen, denn ihr werdet sein!..
Und:
Ich hab’s verdient, dass man mich liebt.
Der hochgemute Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Die Zwetajewa ist da.
Felix Philipp Ingold aus: Felix Philipp Ingold: Gegengabe, Urs Engeler Editor, 2009
JELÁBUGA
(Marina Zwetajewa zum Gedenken)
Ich rufe sie – sie schweigt. Marina ist nicht aufzuwecken.
Jelábuga, Jelábuga – ein Totenacker hinter Hecken.
Der gottvergessne Sumpfgrund sollte deinen Namen tragen,
Ein solches Schlusswort würde künftig wie ein Riegel ragen.
Jelábuga – für wilde Kinder Schreckgespenst und Strafe,
Für Krämer, Räuber ist dein Friedhof passende Exklave.
Wen hat dein kalter Atem in die Flucht getrieben,
Für wen warst du die letzte Station hienieden?
Und wessen Schwanenschrei hast du vor Tag vernommen?
Es war Marinas letzter Ruf, du hast ihn mitbekommen.
Warum, Verfluchte, fehlen dir dafür bis jetzt die Tränen?
Der Goldschatz, den du birgst – Marina! – sollte dich beschämen.
Arsenij Tarkowskij, 1941
aus dem Russischen von Felix Philipp Ingold
Hans Gellhardt: Achmatowa – Pasternak – Zwetajewa
Bettina Wöhrmann: Der Granatapfelkern Persephones
Ostragehege, Heft 64, 2011
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