Hab verirrt mich im Himmel – was tu ich?
Steh mir Rede doch, wem er vertraut.
Leichter wars da euch Danteschen Neun,
Den Athleten-Wurfscheiben, zu tönen!
Denn mich kann vom Leben nichts trennen –
Von Erdrosseln träumts, von Liebkosen,
Daß die Augen, Aughöhlen und Ohren
Florentinische Traurigkeit treff.
Legt mir nicht, legt mir nicht auf die Schläfen
Diesen spitzig-und-zärtlichen Lorbeer,
Eher spaltet mein Herz auseinander,
Daß tiefblau die Scherben erklingen.
Wenn ich sterb einst und ausgedient habe,
All mein Lebtag des Lebenden Freund,
Soll erstrahlen mir höher und heller
Himmels Widerhall weit in der Brust.
Als die Wrangelleute Ossip Mandelstam verhaftet hatten, begab sich Woloschin sofort nach Feodossija. Er kam verstört zurück und erzählte, die Weißen hielten Mandelstam für einen gefährlichen Verbrecher und seien der Meinung, er simuliere Wahnsinn. Als sie ihn in eine Einzelzelle sperrten, habe er an die Tür gedonnert und gerufen: „Ihr müßt mich rauslassen. Ich bin nicht fürs Gefängnis geschaffen.“ Beim Verhör habe Mandelstam den Untersuchungsbeamten unterbrochen: „Sagen Sie lieber, ob Sie Unschuldige überhaupt herauslassen.“ Diese Worte mußten 1919 in den Ohren der Abwehroffiziere phantastisch klingen, und so ist es kein Wunder, daß sie annahmen, einen Simulanten vor sich zu haben. Aber Taktik und Strategie einmal beiseite – spricht nicht aus Mandelstams Verhalten eine tiefe menschliche Wahrheit? Er versuchte erst gar nicht, dem Henker seine Unschuld zu beweisen, sondern fragte unverblümt, ob sich ein Gespräch unter diesen Bedingungen überhaupt lohne. Er sagte dem Gefängniswärter, er sei „nicht für das Gefängnis geschaffen“. Das ist kindlich und zugleich weise. „Nicht der Zeit gemäß“, sagte traurig die Muhme. Das stimmte. Mandelstam hat ein Gedicht über diese Zeit geschrieben: „Mein Wolfshund-Jahrhundert, mich packts, mich befällts – doch bin ich nicht wölfischen Bluts. Mich Mütze – stopf mich in den Ärmel, den Pelz sibirischer Steppenglut.“
Ich hatte Mandelstam in Moskau kennengelernt. Später waren wir uns oft in Kiew begegnet – in der griechischen Kaffeestube auf der Sofiskaja. Dort hörte ich sein Gedicht über die Revolution: „In Finsternisse trittst du, taub und dicht, du Volk, du Sonne – und – Gericht.“ Ich sah ihn, als die Rote Armee Kiew räumte. (Er hatte später darüber gesagt: „Die Zigeunermädchen wahrsagen nicht mehr, im Kaufmannspark schweigen die Geigen, auf dem Krestschatik fielen die Pferde, Tod zieht durchs vornehme Lipki. Mit der letzten Straßenbahn verließen die Rotarmisten die Stadt, und ihre Mäntel verhießen im Entschwinden: ,Wir kommen wieder, klar!‘“) Gemeinsam erlebten wir die Pogromnacht. Gemeinsam litten wir Not in Koktebel. Gemeinsam zogen wir von Tbilissi nach Moskau. Im Sommer 1934 besuchte ich ihn in Woronesh. Zuletzt sah ich ihn im Frühjahr 1938 in Moskau.
Wir sind beide 1891 geboren. Mandelstam war nur zwei Wochen älter als ich. Oft, wenn ich seine Gedichte hörte, war mir, als sei er viel älter und weiser als ich. Aber im Leben kam er mir vor wie ein kapriziöses, leicht beleidigtes, ruheloses Kind. Unausstehlich, dachte ich manchmal, und im selben Augenblick: liebenswert. Unter der Oberfläche verbargen sich Güte, Menschlichkeit, Inspiration.
Er war klein, schmächtig. Den Kopf mit der Tolle warf er in den Nacken. Er liebte das Bild des Hahns, der mit seinem Schrei an den Mauern der Akropolis die Nacht zerreißt. Er selber glich einem jungen Hahn, wenn er mit brüchigem Baß seine feierlichen Oden las. Er saß immer nur auf dem Stuhlrand, rannte plötzlich los, träumte von einem guten Mittagessen, schmiedete phantastische Pläne, beschwatzte die Verleger. In Feodossija trommelte er eines Tages die reichen Liberalen zusammen und verkündete ihnen streng: „Beim Jüngsten Gericht werdet ihr gefragt werden, ob ihr den Dichter Mandelstam verstanden habt – ihr werdet nein sagen müssen. Ihr werdet gefragt werden, ob ihr ihn ernährt habt, und wenn ihr das bejahen könnt, wird euch vieles vergeben werden.“ In den tragischsten Augenblicken erheiterte er uns durch Gasele: „Was bläst Trübsal du so arg, junger Mann? Leg dich lieber in den Sarg, junger Mann.“
Wer Mandelstam zum erstenmal im Vorzimmer einer Redaktion oder im Café begegnete, der mußte denken, er habe es mit einem höchst leichtsinnigen, oberflächlichen Menschen zu tun. Dabei konnte Mandelstam wirklich arbeiten. Er dichtete nicht am Schreibtisch, er dichtete auf den Straßen von Moskau und Leningrad, in der Steppe, in den Bergen der Krim, Georgiens und Armeniens. Von Dante sagte er:
Wieviel Sohlen, wieviel Ochsenhäute, wieviel Sandalen verdarb Dante, als er über die Ziegenpfade Italiens zog und dichtete.
Dieser Satz trifft auch auf ihn selber zu. Seine Gedichte entsprangen einer Zeile, einem Wort. Er änderte ohne Ende. Manchmal wurde ein anfangs klares Gedicht bis zu Unverständlichkeit verdichtet, manchmal gewann es größere Luzidität. Er konnte einen Achtzeiler lange, monatelang austragen und staunte jedesmal von neuem über die Geburt eines Gedichts.
In den ersten Jahren nach der Revolution haben viele seine Lexik und seinen klassischen Vers als etwas Archaisches empfunden:
Ich lernte die Wissenschaft des Abschieds in den barhäuptigen Klagen der Nacht.
Ich halte diese Verse für durchaus zeitgemäß, Burljuks dagegen für einen Tribut an eine längst überholte Mode. Mandelstam sagte:
Das Ideal vollkommenen Muts ist vorgeformt vom Stil und von den praktischen Erfordernissen unserer Epoche. Es ist alles schwerer und größer geworden.
Das war kein Kanon, keine Schule:
Es lohnt nicht, Schulen zu bilden. Es lohnt nicht, eine eigene Poetik zu ersinnen.
Später machte sich Mandelstams Vers frei, wurde leichter, durchsichtiger.
Es gibt Dichter, die die Welt sehen, und Dichter, die sie hören. Block hörte die Welt, Majakowski sah sie. Mandelstam lebte in beiden Elementen. Von seiner Kindheit schrieb er:
Tschaikowski liebte ich in dieser Zeit mit krankhafter Nervosität, die an den Wunsch von Dostojewskis Netotschka Neswanowa erinnerte, das Violinkonzert hinter rotflammenden Seidenvorhängen zu hören. Die breit fließenden Violinenpartien Tschaikowskis erhaschte ich, hinterm Stacheldrahtzaun stehend, und oftmals zerriß ich mir die Kleider und zerschrammte mir die Hände beim Versuch, ohne Eintrittsgeld zur Orchestermuschel vorzudringen.
Sein ausgeprägtes Gefühl für die Malerei spricht schon aus den wenigen Zeilen, die er über ein Stilleben schrieb (mag man an Kontschalowski denken):
Der Künstler malt uns die tiefe Ohnmacht des Flieders und legte die Klangstufen der Farben auf die Leinwand wie Schorf… Man ahnt ein Wallen, Schleier nur. Und in dem dämmrigen Verfall schwirrt schon die Hummel.
Wir haben uns oft über Malerei unterhalten. In den zwanziger Jahren zog ihn besonders die alte venezianische Malerei an – Tintoretto, Tizian.
Er kannte die französische, italienische und deutsche Dichtung vorzüglich. Er brauchte nicht lange, um ein Land zu verstehen.
Ich bitte dich, Frankreich, gewähre mir – aus Mitleid oder als Gnade – deine Erde und dein Geißblatt, deiner Turteltauben Wahrheit und der kleinen Winzer Lüge in ihren Umfriedungen aus Gaze. Im sanften Dezember bereift deine geschorene Luft: kleinlich, beleidigt.
Ich habe lange in Frankreich gelebt, aber besser, treffender könnte ich das nicht sagen. Die Betrachtungen über die wunderbare „Kindlichkeit“ der italienischen Phonetik beeindruckten die Italiener, denen ich Stellen aus dem „Gespräch über Dante“ übersetzte.
Aber Mandelstams größte Leidenschaft war die russische Sprache, die russische Poesie.
Infolge verschiedener historischer Umstände strebten die lebendigen Kräfte der hellenischen Kultur, den Westen lateinischen Einflüssen überlassend und für kurze Zeit im kinderlosen Byzanz verweilend, in den Schoß der russischen Sprache und vermachten ihr das Urgeheimnis hellenischer Weltsicht, das Geheimnis freier Inkarnation, und deshalb ist die russische Sprache zu tönendem brennendem Fleisch geworden.
Er lehnte den Symbolismus als eine der russischen Poesie fremde Erscheinung ab.
Balmont ist der unrussischste unserer Dichter, ein ausländischer Übersetzer… die Auslandsvertretung einer nichtexistenten phonetischen Macht.
Andrej Bely sei eine „krankhafte und negative Erscheinung im Leben der russischen Sprache“.
Dabei verehrte und liebte er Andrej Bely; nach seinem Tod widmete er ihm herrliche Verse. Voll Zärtlichkeit schrieb er über die Dichter der Puschkin-Plejade, über Block, über seine Zeitgenossen, über die Kama, über die Steppe, über das trockene, heiße Armenien, über das geliebte Leningrad. Ich kenne immer noch viele seiner Gedichte auswendig, wiederhole sie wie Beschwörungen und bin glücklich, wenn ich jetzt zurückblicke, daß ich neben ihm gelebt habe.
Ich erwähnte den Widerspruch zwischen seinem Leichtsinn im Leben und seinem Ernst in der Kunst. Aber vielleicht besteht da gar kein Widerspruch? Mit neunzehn Jahren schrieb Mandelstam einen Aufsatz über François Villon; er rechtfertigte das wirre Leben eines Dichters in grausamer Zeit: Der „arme Scholar“ hatte auf seine Weise die Würde des Poeten verteidigt. Von Dante schrieb er:
Was uns makellose Kapuze und legendäres Adlerprofil sind, waren eigentlich qualvoll zu zwingende Schüchternheit, der geradezu Puschkinsche kammerjunkerliche Kampf um die soziale Würde und die gesellschaftliche Stellung des Dichters.
Auch diese Worte lassen sich auf ihn selber anwenden. Viele seiner dummen, mitunter kuriosen Einfälle entsprangen einer „qualvoll zu zwingenden Schüchternheit“.
Manche Kritiker hielten ihn für unzeitgemäß, museal. Auch schlimmere Beschuldigungen wurden erhoben. Vor mir liegt ein Band der 1932 erschienenen Literaturnaja Enziklopedija. Dort heißt es:
Das Schaffen Mandelstams ist der künstlerische Ausdruck für das Bewußtsein der Großbourgeoisie in der Epoche zwischen den beiden Revolutionen… Die Weltanschauung Mandelstams zeichnet sich aus durch extremen Fatalismus und eine kühle innere Gleichgültigkeit gegenüber dem Geschehen… Höchst ,sublim‘ und verschlüsselt ist diese ideologische Verewigung des Kapitalismus und seiner Kultur…
(Den Aufsatz schrieb ein junger Kritiker, der mich mehrmals besuchte und mir begeistert unveröffentlichte Gedichte von Mandelstam zeigte. Er schrieb die Gedichte ab, ließ sie binden und schenkte sie seinen Freunden.) Unsinnigeres läßt sich über Mandelstams Dichtung schwerlich sagen. Niemand hat das Bewußtsein der großen, mittleren oder kleinen Bourgeoisie weniger zum Ausdruck gebracht als Mandelstam. Ich sagte schon, daß mich 1918 sein tiefes Verständnis für die Größe der Geschehnisse verblüffte – ich denke an das Gedicht vom Schiff der Zeit, das seinen Kurs ändert. Mandelstam hat sich nie von seinem Jahrhundert abgewandt, auch dann nicht, als der Wolfshund ihn für einen anderen hielt.
Zeit wird, ihr wißt, auch ich bin Zeitgenosse – ich bin ein Mensch der Konsum-Konfektion, seht, wie der Sakko sich an mir verbeult, wie ich zu schreiten weiß und wie zu reden! Versucht nur, reißt mich los von dieser Zeit, ich garantier, ihr brecht euch nur den Hals.
Vom Wesen der Epoche sagte er:
Für den dröhnenden Heldenmut kommender Jahrhunderte, für ein großes Menschengeschlecht…
Von Leningrad:
Ich bin zurück. Meine Stadt, bekannt bis zu Tränen, bis zu den kindlich geschwollenen Drüsen, bis zu den Venen. Also schluck eilig – du bist zurück aus dem Fernen – den Lebertran von Leningrads Uferlaternen. Petersburg, ich will noch leben, ich auch: du hast die Telefonnummern, die ich brauche. Petersburg, noch hab ich Adressen, an denen ich die Stimmen der Toten finden kann.
Dieses Gedicht wurde 1932 in der Literaturnaja Gaseta gedruckt. 1945 hörte ich es eine Leningraderin sprechen, die zurückgekehrt war.
Mandelstam ist nichts vorzuwerfen. Höchstens, aller Menschen Schwäche und Stärke: die Liebe zum Leben.
Für das Leben gebe ich alles hin – ich brauche so sehr Fürsorge, und ein Schwefelhölzchen könnte mich wärmen.
Die Wimpern stechen, in der Brust ist die Träne verdampft. Furchtlos spüre ich, es kommt, es komme das Gewitter. Ein Wunderlicher verlangt von mir Vergessen. Schwül ist es, und doch möchte ich mit allen Fasern leben.
Wem konnte dieser Dichter mit dem siechen Körper und dem Versklang, der die Nächte bevölkert, im Wege sein?
Anfang 1952 besuchte mich ein Agronom aus Brjansk, W. Merkulow. Er erzählte mir, wie Mandelstam 1938 starb. Zehntausend Kilometer von seiner Vaterstadt entfernt, todkrank, hatte er am Lagerfeuer gesessen und Petrarcas Sonette gesprochen. Ja, Mandelstam fürchtete sich, Leitungswasser zu trinken, und doch erfüllte ihn echte Tapferkeit, sein Leben lang – bis zu den Sonetten am Lagerfeuer.
1935 schrieb er:
Nicht als mehliger Schmetterling, aschweiß bring ich den entliehenen Staub der Erde. Ich will, daß der denkende, der Körper ganz zum Land und ganz zur Straße werde – der verkohlte schwarze Wirbelkörper, der nun seine ganze Länge weiß.
Seine Gedichte sind geblieben. Ich höre sie, andere hören sie. Wir gehen eine Straße entlang, auf der Kinder spielen. Wahrscheinlich nennen wir das in feierlichen Augenblicken „Unsterblichkeit“.
In meinem Gedächtnis lebt Mandelstam fort als liebenswerter, ewig ruheloser Mensch. Wir umarmten uns dreimal, als er sich verabschieden kam: Endlich verlasse er nun Koktebel! Ich dachte im stillen: Wer weiß beim Abschied, welche Trennung bevorsteht.
Ilja Ehrenburg, aus: Menschen, Jahre, Leben
Mandelstams Schicksal als Schriftsteller war schwer – die Ursachen dafür lagen in seinem Schaffen selbst begründet. Die Sympathie des Dichters für die Oktoberrevolution führte nicht zu seiner Teilnahme an der Volksbewegung. Im Gegenteil, das Lauschen auf das „Rauschen der Zeit“, das die starke Seite von Mandelstams Poesie ausmachte, brachte den Dichter zunehmend in Widerstreit mit der Zeit.
In den Gedichten der „Tristia“-Periode sind so gut wie keine äußeren Zeichen der Zeit zu finden. Lediglich ein paar flüchtige Details beschwören die Atmosphäre des Roten Petrograd von 1920 herauf: die Wache auf der Brücke, der „zornige Motor“, der durch die dunkle Straße braust, der Nachtpropusk. Aber er hat sein durchgehendes, ihm äußerst wichtiges Thema, das mit dem Erleben der Zeit verbunden und voll tiefer Dramatik ist – das Schicksal eines Dichters, der vom Jahrhundert nicht gehört und angenommen wird. In den späten Gedichten tritt neben das tragische Thema der Einsamkeit und Ungeborgenheit das der Liebe zum Leben – allem zum Trotz. Der Dichter war von unstillbarem Lebensdurst erfüllt, wollte sich „ausleben“, seinen Platz in der neuen Welt finden, feste menschliche Bindungen knüpfen. Doch gegen diese Bestrebungen und teilweise heftigen Ausbrüche, gegen Hoffnungen und Beteuerungen steht das bittere Bewußtsein, vom Leben isoliert zu sein. Die besten seiner späten Gedichte sprechen über diese menschliche Tragödie wahr und aufrichtig und in einem für den Dichter neuen, komplizierten, jedoch von dekorativen Überlagerungen und Effekten freien Stil.
Verlag Volk und Welt, Begleitzettel, aus W. Orlow: Kreuzwege
TRISTIA : 1891–1938
Abschiedsworte an Ossip Mandelstam
Schwieriger Freund, Dich hätte ich
Ihnen vorgezogen. Die Toten hüten ihr versiegeltes Leben
Und wieder bin ich zu spät. Zu spät
Die Salutschüsse, die Staubwolken, die metallischen Schreie.
Von Trostlosigkeit genährte Bilder,
Schau… Ruinen in einer Ebene…
Ein paar Männer starren in ihre Hände, andere
Durchwühlen das Feld an der Straße nach Nahrung.
Die Tragödie hält alles in ihrem Blick.
Sie wird uns nicht anrühren, doch sie ist da –
Makellos, unersättlich – der unbeugsame Sommerhimmel
Hat seine Freude daran, erfüllt seinen Zweck und findet sein Ende.
Geoffrey Hill
Aus dem Englischen übertragen von Manfred Allié und Hans Jürgen Balmes
WIEDER GAB’S KEINEN PLATZ IM LEXIKON FÜR OSSIP MANDELSTAM
Wieder gab’s keinen Platz im Lexikon
für Ossip Mandelstam, wieder ist
unbehaust er, wie schwer es immer noch ist mit einer Wohnung
in Moskau, sich anzumelden ist fast unmöglich,
der Kaukasus ruft ihn,
Asiens niedriger Wald rauscht, noch sind die Tage nicht da,
ein anderer sammelt die Steinchen an Schwarzmeerküsten,
die ungleiche Fahndung dauert noch immer, auch wenn die Uniform
eine neue Fasson hat und ständig ein anderer Rundkopf
von Schneider in tiefen Verbeugungen badet.
Du schließt das Buch, ein Schuß detoniert, und der weiße
Papierstaub kitzelt die Nüstern; es ist ein lateinischer
Abend, es schneit und niemand wird heute mehr kommen,
denn es ist Schlafenszeit, und sollte dennoch einer an deine dünne Tür klopfen,
dann öffne.
Adam Zagajewski
Olga Martynova: Eine Streichholzflamme im Wind
Frankfurter Rundschau, 29.1.2019
Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.
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