Ossip Mandelstam: Poet’s Corner 8

Mashup von Juliane Duda zu dem Buch von Ossip Mandelstam: Poet’s Corner 8

Mandelstam-Poet’s Corner 8

Wie, mein Herr, heißt die Straße dort?
Ossip-Mandelstam-Straße.
Gottseibeiuns, was für ein Wort!
Es verdreht sich im Mund sofort:
Krumm klingt das, statt gerade.

Nie war an ihm eine Linie klar.
Wie er, Herr, nie eine Lilie war.
Darum heißt dort die Straße auch −
Besser: diese Kuhle im Schlamm −
Immer noch (Namen sind selten Rauch)
Nach ebendem Mandelstam.

Übersetzt von Rainer Kirsch

 

 

… Der Herausgeber

ist Ossip Mandelstams Gedichten zum erstenmal um 1966 begegnet; die 1975 nach mancherlei Schwierigkeiten bei Reclam Leipzig unter dem Titel Hufeisenfinder erschienene, 1987 erweiterte zweisprachige Ausgabe brachte es bis 1989 auf 130.000 verkaufte Exemplare, von denen viele in der Sowjetunion landeten – ein Bändchen Mandelstam war dort lange ein türöffnendes Gastgeschenk.

Der Leser nehme die Texte so wörtlich wie möglich. Denn was dem ersten Blick Metapher scheint, sind meist das Zuhandene mit knappsten Aufwand überhöhende Bilder, und wenn Verse von der Lust am Trabrennen handeln, dürfen wir sicher sein, daß der größte russische Dichter nach Puschkin (beide waren „fremdblütig“, beide wurden vom Gemeinwesen umgebracht) ein so kundiger Jockei war, wie unsereins heute joggt oder squasht.

Rainer Kirsch, Aus dem Nachwort, Februar 1992

 

Poet’s Corner in jede Manteltasche! Michael Krüger: Gegen die Muskelprotze

Hans Joachim Funke: Poeten zwischen Tradition und Moderne. Eine neue Lyrikreihe aus der Unabhängigen Verlagsbuchhandlung Ackerstraße.

Ossip Mandelstam

Die Gedichte der beginnenden zwanziger Jahre zeigen tatsächlich „Vereinfachung“ der Sprache, „Verweltlichung“ des Worts und unterscheiden sich lexikalisch, metaphorisch, genretypologisch und strukturell wesentlich von den Gedichten der Tristia. Mandelstam trieb diese Spracherneuerung in unterschiedliche Richtungen; zu äußerster Einfachheit, schöner Klarheit und zu überraschenden, „unerhörten“, schwierigen Vergleichen und metaphorischen Konstruktionen.
Mandelstam, der Dichter mit dem geschärften Blick für Geschichte, für historische Parallelen; der in großen geschichtlichen Verallgemeinerungen denkt, sucht in dieser Zeit nach den Zusammenhängen der Gegenwart mit Vergangenem, nach Tradition und Perspektive.
1922 schrieb er den Aufsatz „Das neunzehnte Jahrhundert“, den er später in die Sammlung Über Poesie aufnahm. Dieser Aufsatz zeugt von einer nicht überwundenen idealistischen Sicht auf die Geschichte, die das 18. Jahrhundert dem 19. Jahrhundert als dem unbedeutenden entgegenstellt und dabei eine geschichtliche Leistung wie die Herausbildung der sozialistischen Arbeiterbewegung und der Theorie des wissenschaftlichen Kommunismus gar nicht in sein Blickfeld bekommt.
Das Denken in Jahrhunderten dringt auch in die Poesie Mandelstams. Das Thema des sterbenden 19. Jahrhunderts, des „Bruchs“ zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert wird in mehreren, miteinander korrespondierenden Gedichten aufgenommen. Im Gedicht „War niemands Zeitgenosse, wars in keiner Weise“ ist das sterbende 19. Jahrhundert als ein Jahrhundert unerfüllter Hoffnungen begriffen, die mit dem „ersten Rausch“ des Jahrhunderts zerbrachen – dem Aufstand der Dekabristen. Auch im Gedicht „Meine Zeit“, daß der Dichter in das Album der Literaturwissenschaftlerin Jewlalija Pawlowna Kasanowitsch schrieb, spürt man dieses Thema. Der Gedanke vom Bruch zwischen den Jahrhunderten ist natürlich falsch, interessanterweise kommt Mandelstam aber neun Jahre später darauf zurück, nimmt in dem unvollendeten Gedicht „Was für ein Sommer!“ das Thema „Jahrhundert“ und „Rückgrat“ wieder auf und begrüßt das „Rückgrat“ unseres Jahrhunderts, indem er sich an die jungen Arbeiter wendet.
Auch Zukunft wird zum Gegenstand seiner Gedichte. Verhüllt auch hier vom Rauch der Utopien. Die Zukunft erscheint als Idylle, in der der Mensch mit der Natur eins sein wird, ein Dasein, das Zufriedenheit und Erleuchtung durch den Geist der Musik ist.
Gegenwart faßt Mandelstam zum erstenmal in seinen Gedichten als Konfliktfeld der Ideen. Im Gedicht „Der 1. Januar 1924“ begreift, sich Mandelstam als Gefangener des sterbenden 19. Jahrhunderts, als seinen „kranken Sohn“ mit dem „Kalk im Blut“. In der Gegenwart, die ihn, den nun „alternden Sohn“ großzog, fühlt er sich verloren:

O Lehm-und-Leben! O Jahrhundert-Sterben!
Nur dem, ich fürcht, erschließt er sich, dein Sinn,
In dem ein Lächeln war, ein hilfloses – dem Erben,
Dem Menschen, der sich selbst verlorenging.

Doch Mandelstam wollte sich der Macht der Überlieferung nicht ergeben, nicht dem Druck vergangener Zeiten weichen. Er stellt dieser Macht, diesem Druck die Stimme des Gewissens, die Treue zu dem Eid entgegen, den er in der Revolution der neuen Welt geschworen hat:

Die Schwelle hier: ich wollt, ich könnt sie lassen.
Wohin? Die Straße – Dunkelheit.
Und, als wärs Salz, so weiß, dort auf dem Pflaster,
Liegt mein, Gewissen vor mich hingestreut.

Der logische und emotionale Übergang zum Thema der Treue, die ihn an das neue „Jahrhundert“, das neue „Rückgrat“ der Geschichte bindet, ist deutlich nachzuvollziehen:

Reißt es mich hin zu Schmäh- und Lästerworten?
− Der Apfelduft des Frosts, aufs neue er −
O Eid, den ich dem vierten Stand geschworen!
O mein Gelöbnis, tränenschwer!

Sozial, psychologisch ist Ossip Mandelstam immer noch der Mann des Obergangs, noch unterwegs, und obwohl die Wahl 1917 getroffen wurde, ist die neue Position in der Gegenwart noch nicht erreicht. Der Dichter wußte das und hat sich diese Konsequenz abgefordert. Daher folgen auch auf die oben zitierte Antwort im Interview der Zeitung Tschitatel i pisatel: „Ich fühle mich als Schuldner der Revolution…“ die bitteren Worte: „… aber ich bringe ihr Gaben, die sie vorerst nicht braucht“.
Diese „Selbstbezichtigung“ ist freilich übertrieben. Die revolutionäre Zeit nahm die Gedichte an, die ihr Mandelstam brachte, weil sie begriff, daß hier ein großer, begabter, suchender Dichter spricht. Aber die ungenügend weite Gesellschaftskonzeption engte den Kreis der Leser ein. Mandelstam mußte weiter.
Zu Beginn der dreißiger Jahre stürzte sich Mandelstam förmlich ins Leben. Er reiste nach Armenien und brachte von dort eine reiche „Ernte“ – Poesie wie Prosa – mit: einen Zyklus Gedichte und die Prosa „Reise nach Armenien“.
Armenien beschäftigte den Dichter, seine Geschichte, seine alte Kultur, seine Farben und seine Steine. Am meisten aber seine Menschen, das Volk der jungen Sowjetrepublik. Bezeichnend dieses lyrische Bekenntnis in der „Reise nach Armenien“: „Ich trank insgeheim auf die Gesundheit des jungen Armeniens mit seinen Häusern aus apfelsinenfarbenem Stein, auf seine weißzähnigen Volkskommissare…“ Daß die Reise nach Armenien für den Dichter „belebend“ war, lesen wir in diesen Zeilen: „Die Lebensfülle der Armenier, ihre große Freundlichkeit, ihre edle Arbeitsgerbung, ihr unvorstellbarer Abscheu vor jeder Metaphysik und herrliche Familiarität mit der Welt der wirklichen Dinge – es sagte mir: du lebst, hab keine Angst vor deiner Zeit, sei gescheit.“
Mandelstams Lyrik zeigte diesen mutigen Ton nicht lange. Der Dichter versank wieder in seine quälenden Gedanken über das Verhältnis zur Gegenwart, zur neuen Zeit.
Als er Ende 1930 wieder nach Leningrad kam, die Stadt seiner Kindheit und Jugend, die Stardt der Revolution, entstanden in der Wiederbegegnung fröhliche und bittere Gedichte. Die Abrechnung mit der Vergangenheit stand im Gedicht „Der Welt der Oberen war ich nur kindlich verbunden“. Aber wenige Wochen zuvor hatte Mandelstam das Gedicht „Ich bin zurück. Meine Stadt, bekannt bis zu Tränen“ geschrieben, das von der tragischen Bindung an die Vergangenheit spricht, einer emotionalen Bindung, die keinen Raum läßt für die Annahme des Neuen.
Wieder Gedichte über die Ablösung der Jahrhunderte, den Bruch mit dem „wölfischen“ Jahrhundert, das Verhältnis zum neuen Jahrhundert, dem „Wolfshund-Jahrhundert“, das den Weg für künftige, hellere Zeiten frei macht. Den Bruch mit der Vergangenheit bindet Mandelstam direkt an seine humanistischen Überzeugungen:

Den steigenden Zeiten zum höheren Ruhm,
Dir, Mensch, zur unsterblichen Glorie,
Kam ich, als die Väter tafelten, um
Den Kelch; gingen Frohsinn und Ehre verloren.

Zweimal betont der Dichter seine völlige Fremdheit in der wölfischen Welt.
Mitte 1931 nimmt Mandelstam im Gedicht „Mitternacht in Moskau“ das Gespräch mit der Epoche wieder auf. Wieder kämpft er mit dem Gedanken, daß ihn die neue Zeit vielleicht nicht versteht. Er spricht von seiner Treue zu den demokratischen Traditionen:

Schluß! Kein Gebettel, kein Gejammer, kusch!
Kein Geplärr!
aaaaaaaaaaaaHaben deshalb Rasnotschinzen
Die rissigen Stiefel zertreten,
aaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaaadaß ich sie jetzt verrate?

Zum erstenmal spricht er so sicher und bestimmt von sich als einem Zeitgenossen, von seiner unlöslichen Verbundenheit mit der Epoche, mit dem Jahrhundert:

Versucht nur, reißt mich los von dieser Zeit,
Ich garantier, ihr brecht euch nur den Hals.

Die ideologisch-ästhetische Entwicklung des Dichters ging weiter trotz der schwierigen Lebensumstände, trotz der schlimmer werdenden Nervenkrankheit. Mandelstam bewegten Gedanken und Gefühle, die nicht nur die Entschlossenheit zeigten mit dem Jahrhundert befreundet zu sein, sondern seine wirkliche geistige Verbundenheit mit der Zeit offenbarten. Die sogenannten, Woronesher Hefte (1935 bis 1937) sind eine bedeutende dichterische Leistung. Obwohl einige Gedichte unvollendet sind, zeigen die Hefte Beispiele schöner patriotischer Lyrik. Hier fand vieles seinen Niederschlag, was Mandelstam seit langem bewegte. Die Veröffentlichung dieser Hefte, die in den sechziger Jahren bekannt wurden, bietet ein genaueres Bild des Dichters Ossip Mandelstam.
Bekenntnisgedichte, Selbstanalysen der geistigen Welt des Dichters herrschen vor. Doch breiter als je früher zeigen die Hefte epische Züge in Mandelstams Lyrik, zeigen Gegenwart in der Wertung des lyrischen Subjekts.
Schärfer, bestimmter, politisch konkreter wurden die lyrischen Bekenntnisse des Dichters.
Die Zeit in der die Gedichte der Woronesher Hefte entstanden, war eine Zeit bedeutender Erfolge beim Aufbau des Sozialismus in der Sowjetunion; gleichzeitig wurden die faschistischen Kräfte im Westen immer stärker. Der Dichter verfolgte die geschichtlichen Ereignisse sehr genau. Zornig schrieb er gegen Hitlers Terror in Deutschland, wo der Henker die Kommunisten köpfte. Im Gedicht „Rom“ schreibt er voller Haß auf die Faschisten und ihren Duce:

Verwandelt zur Mordpflanzschule
Von euch, Söldner braunen Bluts:
Italische Schwarze Hemden
Toter Cäsars Achtgroschenbrut…

Und dies über Mussolini:

Neu, des Forum Gruben stehn offen
Dem Herodes ist offen das Tor
Und der Mißgeburt, des Diktators
Kinn hängt schwer über Rom.

Die Woronesher Hefte zeigen das Bild der Heimat, ihrer arbeitenden Menschen. Mit aller Bestimmtheit des Gedankens, des Gefühls, des Wortes faßt Mandelstam den Charakter seiner geistigen Zugehörigkeit zum neuen Leben: Angesichts des Unglücks, in das er gestürzt worden war, bewahrte der kranke Dichter Kraft und Mut genug, um in diesen „Stanzen“ zu erklären:

Ich will nicht unter Jünglingen im Treibhaus
Den letzten Seelengroschen wechseln. Meinen Hut
Nehm ich, und wie der Bauer in den Kolchos
Komm ich zur Welt – und siehe, der Mensch ist gut.

Mit großer Liebe schrieb der Dichter sein Bekenntnis zur Schönheit der Taten sowjetischer Menschen:

Den Rotarmisten-Faltenmantel lieb ich
Bis zu den Fersen lang, mit glattem Arm
Der schweren Wolgawolke nachgeschnitten…

Mandelstams dichterischer Gedanke, sein Traum lebte in den Weiten des Heimatlandes, lebte bei den Werken und Tagen seiner Mitbürger in Moskau, in der Arktis, er hörte die „Sirenen der sowjetischen Städte“. Der Dichter glaubte an die große Zukunft seiner Heimat.
So war Ossip Mandelstam sogar in den für ihn schweren Verhältnissen der dreißiger Jahre als Dichter seinem Eid an das neue Jahrhundert treu.

Alexander Dymschitz

Benn schmort in der Hölle

− Ein Gespräch über dialogische und monologische Lyrik. −

Helmut Böttiger: Die Frage, an wen sich der Lyriker eigentlich wendet, ist nie endgültig beantwortet worden. Ist das Gedicht vor allem ein Selbstgespräch, oder ist es doch eher an einen Leser gerichtet? Sie haben in diesem Zusammenhang auf Osip Mandelstams frühen Essay „Über den Gesprächspartner“ hingewiesen. Worum geht es Ihnen da?

Durs Grünbein: Mandelstam wendet sich an einen unbekannten Leser aus der Nachwelt. Extrem ausgedrückt, sendet die Dichtung Signale aus wie zum Mars. Sie sucht, so weit wie möglich in den Außenraum und in die Außenzeit hinauszugehen, immer in der Hoffnung, dass dieses Signal irgendwann empfangen wird. Mandelstam stellt sich vor, dass im Gedicht aus einer bestimmten Realität heraus irgendwann wieder eine lebendige andere Realität geschaffen wird. Die Dichtung geht also aus der Gegenwart und Realität des Körpers eines Dichters wie François Villon in die ganz andere Gegenwart und körperliche Realität eines Lesers im 21. Jahrhundert ein. Die Stimme setzt über das Metrum und die Dringlichkeit ihrer poetischen Sprache einen metaphysischen Austausch in Gang. Wenn alles gut geht, bleibt die Grundspannung des Originals, die Reinheit der Quelle erhalten. Eine meiner fixen Ideen ist, dass die Energie, die mittels geformter Sprache übertragen wird, in der Dichtung stärker ist als in der Prosa, und das für alle Zeiten. Das Dichterwort strebt in die Vertikale wie eine Rakete, sein Betriebsgeheimnis ist die ballistische Kurve. Keiner kann sagen, wo es landen wird. Es strebt fort vom Augenblick und hält ihn gerade deshalb streng fest als eine Art planetarischer Botschaft, die an die Zukunft gerichtet ist oder vielleicht sogar an die Außerirdischen. In gewissem Sinne sind alle Nachgeborenen Außerirdische, die immer aufs Neue versuchen, die Botschaft aus ihrer Zeitkapsel herauszulösen und zu entziffern.
Die Prosa dagegen verbreitet sich sofort in der Ebene; sie wendet sich zuallererst an den Zeitgenossen, im schlimmsten Falle den Zeitungsleser. Das ist wahrscheinlich die ganze Crux. Lyrik ist für die meisten deshalb so schwierig, weil sie nicht sicher sein können, ob sie sich überhaupt an sie wendet. Dichtung ist, selbst dort, wo sie sich an den Allernächsten richtet, die Geliebte etwa, den besten Freund, zu einem guten Teil Fernstenliebe. Nach Jahrhunderten können wir alle uns angesprochen fühlen. Dann sind wir die Geliebte und dieser Freund.

Böttiger: Mandelstam benennt den Gesprächspartner nie konkret. Im Fortgang wird immer deutlicher, dass der Leser in der Nachwelt vor allem eine Projektionsfläche des lyrischen Ich ist. Das Einzige, was uns dem Gesprächspartner in die Arme treibt, so heißt es einmal, ist der Wunsch, über die eigenen Worte zu staunen.

Grünbein: Ich glaube wirklich, dass es ihm darum geht, in Zeit und Raum so weit wie möglich voranzukommen, und zwar nach beiden Richtungen. Deshalb spielt bei ihm nicht nur die Nachwelt eine Rolle, sondern auch die Vorwelt. Natürlich bleibt die Vergangenheit der vergebliche Teil. Jeder weiß, dass seine Botschaft ihren Vorgänger, sei es Dante oder sei es Ovid, nie mehr erreichen wird. Aber in jedem Fall geht es darum, ein Maximum an Distanz in Zeit und Raum zurückzulegen.
Mandelstam versucht, eine Art mathematisches Gesetz aufzustellen: die Lust, sich mitzuteilen, sei umgekehrt proportional zu unserer realen Kenntnis des Gesprächspartners und direkt proportional zum Wunsch, sein Interesse an uns zu wecken. Das ist übrigens das Gesetz der Verführung. Selbst im einfachsten Flirt funktioniert es genau so. Man muss vom anderen, den man erobern will, erst einmal begreifen, dass er vollkommen fremd ist, eingesponnen in seine eigene Welt. Man kennt diese Welt nicht, setzt aber voraus, dass es eine um Lichtjahre entfernte, eigenständige, faszinierende Welt ist. In dem Moment aber, da man signalisiert: ich kenne dich du, Leser oder Lebenspartner, lässt die Spannkraft sofort nach und das Gedicht bricht zusammen genau so wie die Beziehung.

Böttiger: Harold Bloom meint, dass das Schreiben des starken Dichters von „Einflussangst“ geprägt sei, während die ersten Schreibversuche sich eindeutig auf Vorbilder beziehen. Bloom definiert den Fortschritt in der literarischen Produktion dadurch, dass diese Anfänge, diese Beeinflussbarkeit radikal weggewischt werden.

Grünbein: Die meisten Menschen haben eine Phase, in der sie Gedichte schreiben. Meistens in der Pubertät. Es ist offenbar die Phase, wo keiner sie mehr versteht. Bis sie es wieder geschafft haben, sich in die Gemeinschaft einzugliedern, einen Beruf auszuüben und sich als Person zu stabilisieren. In diesem Moment verschwindet jene narzisstische Intimität, die das Gedicht festhält. Der forcierte Ausdruck, man denke an Hölderlin oder Celan, ist immer das Resultat eines gewissen Autismus. Dieses Dilemma zu überwinden, daraus ein lebenslanges Spiel mit wirklicher Berechtigung zu machen, darum geht es Osip Mandelstam. Er sagte: die Poesie ist das Bewußtsein ihrer Berechtigung zu sprechen. Das heißt: Dieses Selbstbewußtsein muss man erst einmal haben. Woher das kommt, kann keiner erklären. Bis heute ist dieser Punkt ungeklärt. Der eine hat es und der andere nicht. So ist die Wurzel der Poesie wie die jeder anderen Kunst reine Willkür, ein Übermaß an Mitteilungsbedürfnis, der Drang zu öffentlicher Separation bei gleichzeitiger Gesprächsbereitschaft, bereit zum Gespräch mit allen, die mitreden wollen. Wie jemand, der sich der eigenen Sache zuwendet, sobald ihm klar wird, dass die aller anderen ihn kalt lässt oder ihn so sehr betrifft, dass er sich in aller Stille darauf konzentrieren muss.

Böttiger: Mandelstam trifft die schöne Unterscheidung zwischen Dichter auf der einen Seite und Literat oder Publizist auf der anderen.

Grünbein: Auch Mandelstam hat natürlich Texte geschrieben, die deutlich publizistischen Charakter haben. Aber es muss noch etwas darüber hinaus geben. Und das ist heute, wo jeder irgendwie schreibt und veröffentlicht, aktueller denn je. Heute ist ja das Schreiben der meisten Schriftsteller infolge des Überflusses an Zeitschriften und Magazinen publizistisch geprägt, eingebunden in die große Maschinerie der Medien. Ganz gleich, ob sie sich nun als Reiseschriftsteller, als Feuilletonlieferanten oder als politisch engagierte Autoren in der Tagespresse betätigen. Die schrecklichste Anekdote dazu kommt wie so oft von Baudelaire. Eines Tages sieht er im Caféhaus die ersten großformatigen Zeitungen. Er sieht genau, was geschieht. Die Leute legen ihre Bücher beiseite und stecken ihre Nasen in diese frischen, druckschwarzen Seiten. Verstört eilt er nach Hause, fest entschlossen, sich umzubringen. Er glaubte, dies sei das Ende der Literatur. Glücklicherweise kann ihn ein Freund von seinem Vorhaben abbringen. Später hat er, wie alle anderen Dichter bis zum heutigen Tag, seine Arbeiten an die Redaktionen geschickt und in der Tagespresse veröffentlicht. Indem er den Feind umarmte, hat er die Krise überlebt und ist zum modernen Dichter geworden, so wie Benjamin ihn beschrieben hat. Dennoch ist jene Position, um die Mandelstam ringt, nämlich die des unabhängig Sprechenden, ins Offene Adressierenden, derzeit die allerschwächste. Im Medienzeitalter sind die Dichter in der Diaspora. Sie strecken sich nach der Decke, aber die wenigsten sind glücklich dabei. Wer stark genug ist, begreift es als Kriegserklärung, als Ansporn zu Strategie und Taktik. Am Ende wird ihm auch das noch zum Stoff. Er verschwindet aber wie alle natürlichen Ressourcen immer mehr.

Böttiger: Mandelstam spricht in seinem Essay, wenn er diese Ressourcen genauer zu fassen versucht, von Dichtern, die heute völlig vergessen sind. Er zieht sie als Beispiele dafür heran, was Dichtung ausmacht, aber wir kennen diese Beispiele nicht mehr. Was uns interessiert, ist der essayistische Text von Mandelstam. Was bleibt, ist nicht die Dichtung, sondern der Essay dazu.

Grünbein: Das muss kein Widerspruch sein. Der Essay hat eine absolute Schlüsselfunktion bekommen in der modernen Poesie, auch für das Werk von Mandelstam. Er steht am Beginn einer Klärung, die es von Zeit zu Zeit im Schreibprozess immer geben muss. Während er Bücher rezensierte und Essays zur Poetologie und zum Einfluss der Naturwissenschaften auf sein Schreiben verfasste, entstanden parallel dazu alle die großartigen Gedichte aus den Sammlungen „Der Stein“, „Tristia“ und aus den „Moskauer Heften“. In ihnen kommt all die essayistische Gedankenarbeit zu sich selbst, die Theorie wird im Metrum gebannt, sie gibt den Grundriss der Zeilen ab. Die Formel dafür lautet: Philosophie in Metren, Gedankensprünge von Wort zu Ding.

Böttiger: Ein Bild dieses Essays hat sehr viele Kreise gezogen: das Bild, die Dichtung sei eine „Flaschenpost“. Es wird im 20. Jahrhundert immer wieder zitiert werden. Auch Celan hat sich an einer zentralen poetologischen Stelle auf diese „Flaschenpost“ berufen – allerdings in einer Weise, die etwas sehr zuspitzt, was bei Mandelstam wohl auch angelegt ist. Bei Celan liegt der Akzent darauf, dass die Flaschenpost in einer existenziell eigentlich ausweglosen Situation aufgegeben wird. Die Formulierung bei Mandelstam dagegen heißt: „im kritischen Augenblick“. Das wirkt um einiges weiter gefasst.

Grünbein: Mandelstam hatte, wie wir wissen, ein offizielles Publikationsverbot. Für Dichter wie ihn gab es irgendwann einfach kein Papier mehr. Der Staat lehnte es ab, ihn zu drucken, und es gab nur noch staatliche Verlage, so einfach war das. Dann schrieb er das bekannte Epigramm gegen Stalin, und damit war nicht nur seine Dichterexistenz, sondern auch sein Leben in Gefahr.
Wir wissen, wie dieses ungleiche Duell ausging. Ein Duell war es insofern, als Stalin genau wusste, wen er da für vogelfrei erklärte. Pasternak hat es ihm im Telefongespräch vorbuchstabiert: einen Meister. Sozusagen einen poetischen Facharbeiter. Das wiegt umso schwerer, als es im Bolschewismus durchaus die Vorstellung vom Spezialisten gab. Doch dieser besonders begabte Spezialist ließ sich einfach nicht in Dienst nehmen für die Absichten der Sowjetmacht. Darin liegt seine einzigartige Leistung. Er war ein Emigrant im eigenen Land, eine Waise im Allunionsmaßstab, wie Joseph Brodsky gesagt hat, sein treuester Schüler. Was immer er schrieb, konnte nurmehr Flaschenpost sein, eine Botschaft an Unbekannt, ohne Hoffnung auf Ankunft aufgegeben und nur noch mündlich weitergereicht, dank des guten Gedächtnisses seiner Freunde und der Lebensgefährtin Nadeshda Mandelstam. Das Interessante ist, dass er 1913 exakt die Situation beschreibt, in die er dann in den dreißiger Jahren gerät. Aus ganz anderen Gründen ist Paul Celan in eine ähnlich radikale Isolation geraten. Zwar hatte er als deutsch-schreibender Jude in Paris, Überlebender der Vernichtung, keine Schwierigkeiten, zu publizieren, aber aufgrund seiner Lebensgeschichte und infolge der Geschichte des 20. Jahrhunderts fühlte er sich wie am verlorenen Ufer ausgesetzt, ein neuer Robinson, der seine Gedichte nur noch als Flaschenpost aufgeben konnte. Seine Tragik war, dass der Adressat seiner Zeilen nie mehr auferstehen würde, weil er für die einen bloß noch Rauch war, intimer Hauch, und für die anderen ganz einfach Luft. Celan hat gewusst, dass der Mensch, zu dem er noch hätte sprechen können, nie mehr wiederkehrt.
Das frühe Auftauchen der Flaschenpost-Metapher bei Mandelstam erkläre ich mir damit, dass er unter anderem ein Leser von Abenteurerliteratur war. Hinter dem Bild der Flaschenpost steckt das Bild Robinsons. Und das ist für die europäische Kultur ja ganz wichtig geworden: der aus der Zivilisation herausgesprengte Einzelne, der auf seiner Insel gelandet ist und nun die Trümmer der Zivilisation um sich sammelt und ein Überleben versucht. Ihm bleibt nur, eine Flaschenpost aufzugeben, sie ins offene Meer zu schleudern, eine Botschaft nach draußen, an die in der Ferne lebende, zivilisierte Welt. Bei Mandelstam wird dieser Umstand zum Theorem. Immer wieder spricht er von seiner Sehnsucht nach Weltkultur, eine Formel, die nachher für viele der Eingeschlossenen im sozialistischen Block zum letzten Halt wird. Bei Mandelstam taucht dieser Gedanke seltsamerweise schon sehr früh auf, kurz nach der Oktoberrevolution, als von Verfolgung und kollektiver Geiselhaft noch gar keine Rede war.

Böttiger: Was verstehen Sie unter dem „kritischen Augenblick“?

Grünbein: Eine schockhafte Erfahrung, die nicht mehr unmittelbar und vor allem nicht im munteren Plauderton weitergegeben werden kann. Also adressiert man sie an die Ferne, an einen, der erst noch geboren wird, wie es bei Kleist heißt. Der kritische Augenblick ist offenbar eine Erfahrung der Einzigartigkeit der eigenen Lebenssituation. Er kann selbst in einer freien Gesellschaft auftauchen: wenn man sich allgemein von Langeweile und Geschwätz umzingelt fühlt, etwa in einer vollkommen medialisierten Welt. Eine Wahrnehmung, die eines Tages spät um Mitternacht auftaucht, kann urplötzlich zu dieser schockhaften Einsicht führen. Und dann ist der kritische Augenblick genau dieses Gefühl absoluter Einsamkeit. Der kritische Augenblick tritt übrigens erst auf, wenn die Gesellschaft in der Krise ist. Natürlich hat ein Götterliebling wie Goethe den kritischen Augenblick so nicht gekannt.

Böttiger: Damit sind wir in der Zwickmühle zwischen Dichtung und Gesellschaft.

Grünbein: Der späte Goethe hatte wohl eine Ahnung davon. Besucher der letzten Jahre haben da einen leicht resignativen Ton heraushören wollen, ein Gefühl der Vergeblichkeit, auch wenn er noch immer meinte, der Sinn seines Lebens sei der Triumph des Reinmenschlichen gewesen. Noch immer war ihm Erregung das beste Mittel gegen jegliche Depression. Tapfer kämpfte er an gegen die Negationen des Lebens. Seine Worte: „Den Tod aber statuiere ich nicht.“ Und doch ist der zweite Teil des Faust eine einzige Anklage der Geschichte mit ihrer Tendenz zu Beschleunigung und Verschrottung. Plötzlich steht der Mensch da als Feind des Menschlichen, der veloziferische Typus, und er verurteilt die Übereilung des Verstandes, der die Phänomene gerne loswerden möchte. Er erschrickt vor sich selbst und ahnt die Krise, in die die moderne Menschengemeinschaft geraten könnte. Da auf einmal wird ihm klar: Ich teile hier Dinge mit, die derart monströs sind und radikal, dass ich nicht erwarten kann, dass auch nur irgendeiner meiner mitlesenden Zeitgenossen, bis hinauf zu den gebildeten Ständen, mich noch versteht. Deshalb versiegelt er sein Produkt und gibt den zweiten Teil des „Faust“ als Flaschenpost an die Zukunft auf.

Böttiger: Da fängt also die Moderne an: beim Adressieren an eine unbekannte Nachwelt.

Grünbein: Mit etwas Übertreibung könnte man sagen: Mehr als 2000 Jahre lang war Literatur ein Spiel, das nach den Regeln der Immanenz funktionierte, als hochartifizielle Botschaft, die in geschlossenen Kreisen zirkulierte, auch wenn in jedem guten Text ein Fünkchen Transzendenz steckt, das heißt, ein Überschuss an Universalität, der aus der Horizontalen hinausdrängt ins Vertikale, ein Signal an alle und keinen. Zumeist jedoch schrieb und adressierte der Dichter an seinesgleichen oder an die Ansprechpartner der Macht, an die Eliten, die offiziellen Vertreter der Kultur. Erst mit der Aufkündigung dieses Bundes, von welcher Seite auch immer, wird es brisant. Das Wort mag seinen Ort bewahren, seine Herkunft, aber es verliert seinen Orientierungssinn, seinen gesellschaftlichen Vektor. Das ist ein Verlust zugleich und ein Gewinn. Hier eben zeigt sich der Sprung in die Literatur der Moderne. Sie macht uns, zum ersten Mal vielleicht, zu souveränen Lesern. Indem sie uns, jeden Einzelnen, in der Vereinzelung anspricht, erlaubt sie, dass jeder Einzelne aus dieser Vereinzelung heraus sich gemeint fühlt und die gesamten Botschaften der Weltliteratur empfängt. Man könnte den Begriff der Moderne auch umkehren und sagen: In dem Maß, wie sie über das Ziel hinausschießt, gab es immer schon moderne Literatur. Sie tritt auf, wo immer die unmittelbaren Empfänger, die Kriegergemeinschaft, das Personal bei Hof, das gebildete Publikum übersprungen wird und das Wort autonom wird und sich ins Dickicht der Einsamkeit schlägt. Schreiben, ohne zu wissen, ob und bei wem es ankomme, ist die Grundbedingung jeder modernen Literatur von Kallimachos bis Kafka.

Böttiger: Es gibt Selbstzeugnisse von Schriftstellern, die ungefähr demselben Wahrnehmungsbereich entstammen wie die Mandelstams, aber ganz anders mit dem Auf-sich-selbst-Zurückgeworfensein umgehen. Der große Gegenpol ist Gottfried Benn, mit seiner dezidiert „monologischen Lyrik“. Ist Benn angesichts der beschriebenen Situation nicht konsequenter und radikaler?

Grünbein: Mandelstam sagt an einer Stelle, dass die Stimme oder das Sprechen selbst zum Ereignis wird. Er betont den Ereignischarakter der poetischen Sprache, und das ist etwas absolut Modernes. Doch worin besteht das Ereignis? Es zeigt sich im Unerwarteten, darin, dass das, was jetzt und hier gesagt wird, zum ersten Mal so gesagt wird, als absolut Subjektives. Einer der radikalen Schlüsse daraus ist die Lyrik als Monolog, wenn man so will eine Schwundstufe, die Reduktion aller Metaphysik auf den Einzigen und sein Eigentum, im schlimmsten Fall also der reine Solipsismus. Es gibt in der Dichtung des späten 19. Jahrhunderts die Tendenz zum Kristallinen und Skulpturalen der Wortgebilde. Aus der Einschließung der Welt ins Subjekt resultiert die Mimikry ans Anorganische. Das Wort will Materie werden und sonst nichts. Das gelingt aber immer nur momentweise, unter Aufgabe des Bewusstseins. Denn immer wieder mischt sich das Ich ein, das Apriorische des Lebens, die Fehlerhaftigkeit des Individuums und zuletzt bricht noch immer die historische Zeit in den Text ein. Auch der Körper des Autors fordert seinen Tribut, das Tierische, das einer wie Ernst Cassirer mit dem Begriff der emotionalen Sprache verbindet im Gegensatz zur präpositionalen Sprache des Menschen. Die Schönheit gewisser Gedichte rührt daher, dass sie wie Skulpturen im Ideenraum stehen, der Leser kann sie von allen Seiten betrachten und bleibt mit seinen alltäglichen Gefühlen und Gedanken außen vor. Ihre Oberfläche ist so sehr verdichtet und abgeschlossen, dass das Gedicht zum schönen Fremdkörper wird wie bei manchen der Symbolisten. Benn hat, soweit ich weiß, den Dialog niemals ganz aufgekündigt, auch wenn nicht immer klar ist, mit wem er da spricht.

Böttiger: Genau darin liegt aber der Unterschied.

Grünbein: William Carlos Williams sagt: The poem is the item. Das Gedicht ist ein Gegenstand. Dies kann ein Kunstobjekt sein, es kann aber auch ein ganz praktischer Gegenstand sein, eine Gießkanne oder ein Faustkeil, ein Werkzeug, das man in der Hand wiegt. Darin liegt einer der großen Unterschiede: entweder ist es Artefakt im Sinne der Archäologie oder Angebot zum Dialog, entweder verbales Objekt, reines Klanggebilde oder Gedankenspur, wörtliche Rede, die das Gespräch in Gang hält oder als Droge und Schmerzmittel Anwendung findet. Zumindest Mandelstam hat bis zuletzt den Dialog gesucht, das Gespräch mit den Lebenden und den Toten. Sein Vers lauscht ins Körperinnere und sucht den Kontakt zur Außenwelt. Noch aus der innersten Verbannung und Isolierung heraus hielt er Zwiesprache. Und dann kommt einer wie Benn, desillusioniert bis in die Knochen und zieht sich mit seinen Versen ins Private zurück. Eines Tages wird das Gedicht zum Splitter im Fleisch der Gesellschaft, etwas für Ärzte und Spezialisten. Es lässt sich dann nur noch operativ entfernen, aber aufheben und ins Gespräch verstricken lässt es sich nicht.

Böttiger: Eine Ästhetik der Kälte.

Grünbein: So lautet die Formel. Es ist doch merkwürdig, kein einziges Mandelstam-Gedicht ist jemals kalt. Und das liegt nicht nur an der Stallwärme des Russischen, an dieser kindlichen Klugheit.
Das Bennsche Gedicht, das statische Gedicht, bettelt nicht um Gefühle, es ist derart abgeschlossen dass es den Leser tatsächlich nicht mehr braucht. Der Dichter scheidet lauter Nierensteine aus; und die kann man dann in die Vitrine stellen und künstlich beleuchten. Aber man kann sich nicht mehr an ihnen wärmen. Man kann sie nur noch wie Fetische mit sich herumtragen. Es gab eine ganze Generation, die mit Benn-Gedichten durchs Leben ging und offenbar genug Lebensmut aus der Lektüre geschöpft hat. Vielleicht aber auch nur geheimen Hochmut. Oder den Stolz der Selbstüberwindung, denn davon handeln die meisten seiner Gedichte.

Böttiger: Sie selbst wurden früh als Bennscher „Hirnhund“ bezeichnet. Man kann in Ihren Gedichten durchaus Anknüpfungspunkte sehen.

Grünbein: Die Mandelstamsche Position ist mir von Anfang an viel näher gewesen. Bis heute geht mir das tapfere Gemurmel dieses intelligenten Weltkindes nach. Mandelstam spricht tatsächlich aus der Mitte des Universums, so wie Goethe es sich erträumt hat. Bei ihm wird alles beseelt. Ich weiß nicht, was Benn gemeint hat, als er vom Nüssebewispern sprach. Mandelstam jedenfalls bewispert seine Umwelt, alle die kleinen und großen Dinge in Natur und Gesellschaft, vom Grashalm übers Telefon bis hin zur stattlichsten Architektur. Er haucht allem Leben ein und tränkt es mit Psyche und Zeit. Alles ist ihm zum Weinen vertraut.

Böttiger: Ist die Haltung Benns nicht suggestiver?

Grünbein: Suggestiv für die Erkälteten, die im Frost Erstarrten. Es ist alles eine Frage der Temperatur und des Temperaments. Man kann den Lemuren Gute Nacht sagen und mit den Reptilien aufstehen, und man kann in den Steinen eines Gebäudes noch die Hände der Erbauer spüren und ihren Atem.

Böttiger: Das entspricht doch durchaus einer gesellschaftlichen Situation, einer Erfahrung.

Grünbein: So ist es. Das gehört zu den Verhaltenslehren der Kälte, wie die Meister der Neuen Sachlichkeit sagen würden, eine sehr deutsche Haltung. Ich glaube, dass Benn in die Falle ging mit seinem martialischen „Erkenne  die Lage“. Für eine Gesellschaft der Kälte und der Entfremdung ist Zynismus die angemessene Reaktion. Es geht immer darum: Soll man dem Gegenstand ähnlich werden und ihm die kalte Schulter zeigen oder soll man sich ihm anschmiegen und ihn beseelen, selbst wenn man dabei zugrunde geht.

Böttiger: Während bei Mandelstam sogar die Utopie einer besseren Gesellschaft im Hintergrund aufscheint.

Grünbein: Benn weiß, dass das Spiel vorbei ist. Seine Schreibsituation ist die des Rien ne va plus.

Böttiger: Ist das nicht realistischer als die Utopie?

Grünbein: Benn geht davon aus, dass Ausbeutung eine Funktion des Lebendigen ist. Damit ist klar, dass es selbst in Lichtjahren keine andere Gesellschaft geben wird als eine der Ungleichheit und der Ausbeutung oder eben einseitiger Verwertung des Mehrwerts. Es wird immer Sklaven und Herren geben, und es wird immer Börsenmakler und Arbeitslose geben. Die im Glanz, in den prächtigen Villen, und die da unten, wo die schweren Ruder der Schiffe streifen, wie Hofmannsthal sagt, die in den Straßen verkommen unter ihren verlausten Decken.

Böttiger: Manche freilich müssen drunten sterben.

Grünbein: Ja, es ist diese tödliche Ahnung. Benn führt vor, wie man schreibt, wenn man weiß: Es wird nie Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit und damit Wärme geben. Es gibt immer nur das, was wir seit Jahrhunderten erleben, den fortgesetzten Alptraum. Wer so denkt, braucht keinen Gesprächspartner. Was bleibt, ist die Sehnsucht, haltbare Wortgebilde zu schaffen: das Gedicht als funkelndes Meteoritenstück, das da draußen im kalten All herumfliegt und aus den Bullaugenfenstern der Raumschiffe betrachtet werden kann.

Böttiger: ln den sechziger, siebziger Jahren im Westen, als Gleichheitsgedanken und utopische Ideale das tägliche Brot waren, galt Benn als persona non grata. Heute scheint es so, als hätte er die letzten Wahrheiten verkündet. Damit verglichen wirkt Mandelstams Suche ziemlich entrückt.

Grünbein: Erledigt hat sich beides nicht. Wahrscheinlich ist das eine wie das andere gleich wahrhaftig und gleich real. Denn die Gesellschaft kann so kalt werden wie sie will, allein durch den biologischen Reproduktionsprozess reproduziert sich immer wieder erneut die Sehnsucht nach einer Besserung. Man könnte sagen, leider ist Benns Position im Moment realistischer. Bis heute ist sie wahrscheinlich die letztgültige Durchsage. Obwohl – wir reden jetzt vor allen Dingen immer von dem Benn der statischen Gedichte.
Wir reden nicht über den Benn, den es auch gab – und daran zeigt sich schon, dass so etwas zumindest innerhalb eines Menschenlebens nie absolut zu betreiben ist – den Benn, der immer wieder bis fast zum Kitsch Sehnsuchtsimpulse aussendet, geradezu Schlager produziert, gewissermaßen zur Kompensation der ungestillten, verwundeten Seele. Es sind übrigens oft gerade diese Gedichte die Schule gemacht haben. Jede neue Enttäuschung gebiert das Verlangen nach sofortiger Illusion. Von diesem Teufelskreis lebt die ganze Unterhaltungsindustrie.

Böttiger: Die monologische Lyrik steht ja am Ende des Bennschen Lebens und ist wohl so eine Art conclusio. Aber gerade in dieser Zeit, als er die monologische Lyrik theoretisch formuliert, schreibt er auch jene Gedichte, die sich lustvoll dem Kitsch annähern. Da muss es einen Zusammenhang geben.

Grünbein: Das könnte man auch am Beispiel Hofmannsthals zeigen. In Überwindung der Krise, wie sie im Brief des Lord Chandos zum Ausdruck kommt, hört er auf, Gedichte zu schreiben und beliefert die Operette mit schwungvollen Libretti, mit diesem Leichten, das so schwer zu machen ist. Er war einer der klügsten und talentiertesten Dichter der österreichischen Moderne. Sehenden Auges desertiert er aus der Einzelzelle der Lyrik ins Opernhaus und versorgt sein bürgerliches Publikum, den Rest der versprengten Hofgesellschaft mit dem Traumstoff der leichten Muse. Genau da liegt auch die Ursache dessen, was Sie den Bennschen Kitsch nennen, jenes Element von schlagerseliger Versöhnung das einer wie Rühmkorf mit den Zeilen verspottet: „Die schönsten Verse der Menschen / Sind die Gottfried Bennschen“. Die Übermacht der enttäuschten Träume steigert das Verlangen nach dem Rauschgift der Poesie ins Unermessliche. Was die Begehrensstruktur des Kapitalismus betrifft, so ist es noch immer dasselbe Lied. Je härter die Verhältnisse, je trostloser und kälter, umso mehr Rauschgift wird gebraucht, um den permanenten Druck auszuhalten. So wird der Lyriker schließlich zum Rauschgiftdealer.

Böttiger: Da greift Benn auch theoretisch ein bisschen kurz.

Grünbein: Man könnte radikal gegen Benn fragen: Warum noch schreiben? Weil – und jetzt kommt eben der utopische Überschuss – offenbar das Leben des Einzelnen immer noch größer und vielgestaltiger ist als die Megäre Gesellschaft. Das heißt, wenn einer wie Benn nach Feierabend die Tür der Arztpraxis schloss, konnte er aus der Schublade mit den Rezepten endlich das Notizbuch hervorziehen und anfangen, seine Gedichte zu schreiben. Nachdem der letzte Patient gegangen war, blieb nurmehr der Arzt zurück, der im Selbstversuch weitermachte. „Ärzte im Selbstversuch“ hieß eins meiner Lieblingssachbücher damals im Osten. Da wurden die heroischen Experimente beschrieben, mit denen die Pioniere der Zunft an der Vermehrung des medizinischen Wissens arbeiteten, oft unter Aufgabe der eigenen Gesundheit. Sie spritzten sich irgendein neues Serum oder schnitten sich beherzt ins eigene Fleisch. Manche operierten tatsächlich bei vollem Bewusstsein an ihren Eingeweiden. Ein solcher Arzt im Selbstversuch war für mich immer der große Benn. Jeden Versuch, ihn lächerlich zu machen oder seine Leistung für die deutsche Poesie in Abrede zu stellen, muss ich entschieden zurückweisen. Benn war auf seine Weise genauso mutig und wegweisend wie einer dieser verrückten Selbstverstümmler, die mit ihren Versuchen der Menschheit dienten. Allein darum, weil er den Vers-Trieb, das Prozessieren gegen sich selbst nie unterdrückt hat, bleibt dieser Mann ein Vorbild für alle Zeiten. Alle seine Selbstauskünfte deuten darauf hin, dass er nicht restlos erklären konnte, warum dieser Trieb, in lyrischen Mustern und Formen sich auszudrücken, in ihm wachblieb. Er war Theoretiker genug, dem Geheimnis immer wieder zu Leibe zu rücken. Natürlich ging das nur mit fixen Ideen. So gibt es bei ihm die Vorstellung eines zoologischen und geografischen Hintergrundes der Poesie. So sah er sich innerlich ausgerichtet nach Süden. Ganze Wortfelder sah er geordnet durch einen besonderen psychischen Komplex. Es beschäftigte ihn, warum die Phantasie sich ausgerechnet an einem Wort wie „blau“ entzündete oder an einem Strauß Astern in einer Vase. Solcherlei unwillkürliche Auslöser gibt es in der Diktatur genauso wie in einer vollkommen rationalen Gesellschaft, in der von der Wiege bis zum Grab alles bürokratisch geregelt ist. Es sind die Reste eines Überhangs von Natur, der als Wortmagie wiederkehrt. Benn ist trotz aller gegenteiligen Beteuerungen immer noch der Romantiker, der den Mund einfach nicht halten kann.

Böttiger: Aber er zwingt sich auffällig dazu, die Lyrik als monologisch und vergeblich zu entwerfen.

Grünbein: in denselben Moment, in dem er mit der Gesellschaft ins Gespräch kommen will, muss er das denunzieren. Er denunziert seine eigenen Gedichte, aber er tut das so offensichtlich, dass man die Dialektik heraushört.

Böttiger: Es läuft also darauf hinaus, dass bei den scheinbar unvereinbaren Gegenpositionen von Mandelstam und Benn der Ausgangspunkt doch derselbe Impuls ist.

Grünbein: Unter anderem deshalb, weil der Grundwiderspruch des Einzelnen zur Gesellschaft nie aufzuheben ist. Lyrik bleibt, was sie ist, ein Brückenbau. Und da ist noch etwas, das sich nicht einfach auflösen lässt. Mandelstam hat es in seinem Essay über Dante zu formulieren versucht. Mit dem Dichter der Göttlichen Komödie verschieben sich ein für allemal die Koordinaten des Schreibprozesses. Bei ihm wird das dialogische Prinzip zur inhärenten Formel. Alles wird hier durchs Prisma der Mitteilung gebrochen. Der Dichter selbst ist ganz Ohr für die vielen, widerstreitenden Stimmen, er lauscht den Verdammten und den Erlösten, und er lässt sich an die Hand nehmen von einem der ihm voraus ging, der größer und weiser ist als er selbst. Vergil zeigt ihm die Reiche der Welt. Er wird, blasphemisch genug, zum Apostel der Höllenreise, die natürlich nur scheinbar unter die Erde geht. In Wirklichkeit ist es der Gang durch ein posthumes Diesseits. Erst am Fuße des Läuterungsberges verlässt der Lehrer den Schüler, und später nimmt ihn die tote Geliebte in Empfang, Beatrice, und zeigt ihm das schlechthin Unbekannte, das Paradies. In allem jedoch wirkt das Zwiegespräch. Es bringt im Langgedicht, im Poem, die dramatische Form zum Vorschein. Die göttliche Komödie wird zur Inszenierung des Dialogs eines christlichen Dichters mit einem heidnischen Kollegen. Der Leser wird hier zum eingeschlossenen Dritten, indem er dem Dialog zweier großer Gestalten der Weltliteratur lauscht.

Böttiger: Da fällt es schon extrem schwer, eine Gemeinsamkeit mit Benn herauszudestillieren!

Grünbein: Einer wie Benn hätte ein großes Epos des 20. Jahrhunderts schreiben können, wäre er wie T.S. Eliot durch die jüngste Höllenlandschaft gegangen, wie dieser im Schlepptau Dantes. Das heißt, die Grundsituation des literarisch inszenierten Gesprächs hat sich überhaupt nicht verändert. Es wäre doch vorstellbar, dass Benn Dante zum Kronzeugen der christlichen Kultur genommen hätte (mit einer Verbeugung vor Nietzsche), im Gespräch mit ihm, beim Spaziergang durch die verwüstete Welt der Moderne versucht hätte, sein pessimistisches Weltbild zu entwickeln. Rein theoretisch, literaturtheoretisch wäre das möglich gewesen.

Böttiger: Benn hat sich aber halt doch dazu entschieden, als Einzelkämpfer durch die Linien zu kommen.

Grünbein: Das ist eine Frage der Ausdauer. Im 20. Jahrhundert wird selbst das apokalyptische Denken zusehends kurzatmiger. Wir befinden uns heute in einer seltsamen Synthesephase. Scheinbar lässt sich das alles, und zwar von jedem Dichter, immer nur in Bruchstücken darstellen, immer auf dem Sprung vor der nächsten Katastrophe. Mit einem Mal gerät die eine Zeile antik und beschwört einen neuen noch unbekannten Polytheismus, hinter dem sich der elan vital versteckt, und schon die nächste ist wieder einem einzelnen Gott verpflichtet oder gibt sich aufgeklärt und moralisch, während die dritte Zeile bereits einen radikalen Atheismus predigt. So geht es immer munter weiter, im Karussell herum.

Böttiger: Und Mandelstam und Benn werden postmodern mitgeschleift.

Grünbein: Ich hoffe doch, dass die Zukunft Mandelstam gehört und nicht Benn.

Böttiger: Wie vage ist diese Hoffnung?

Grünbein: Entwerfen wir doch mal ein imaginäres Epos der Zukunft. Da würde Benn spätestens im fünften oder sechsten Gesang in der Hölle der Monologisten schmoren. Beckett hat diese Position in der Figur des Belaqua, die wiederum Dante entlehnt ist, genau beschrieben. Dieser Belaqua ist ein Wesen, das in einer Felsnische hockt. Selbstzufrieden, genügsam im Mangel und abgeschlossen vom Rest der anderen dämmert er in der Hölle sehr philosophisch vor sich hin. Das wäre dann die Bennsche Position. Benn ließe sich in der Rolle des Belaqua porträtieren. Es wäre ein Scherenschnitt, wie ihn die Goethezeit liebte.

Böttiger: Und wo würde man in dem imaginären Epos Mandelstam finden?

Grünbein: Mandelstam ist immerfort unterwegs. Er hat recht bald die Hölle durchquert. Nun hängt er irgendwo auf dem Läuterungsberg fest und blickt hinaus oder voraus in die Welt des Paradieses. Denn das Paradies ist der Horizont aller Dialoge. Entgegen der landläufigen Meinung wird die Flaschenpost schließlich nicht aus dem Meer gefischt, sondern aus dem gemeinsamen Himmel.

Aus: TEXT+KRITIK: Durs Grünbein – Heft 153, edition text + kritik, Januar 2002.

Rückkehr aus dem Untergrund

– Stimmen der Nachwelt 1956 bis heute. –

Mandelstam im „Tauwetter“, Symbolfigur des Samisdat. Ehrenburgs Plädoyer. Eine Feier für Dante. Poetische Schmuggelware, subversiver Kassiber: die amerikanische Mandelstam-Ausgabe 1964 bis 1971. Jahrzehntelange Verfemung der Akmeisten, des „Gewissens der Poesie“. Der zensierte Auswahlband von 1973: Schwarzmarkt-Beute und offizielle Desinformation. Zeit der Glasnost: neue Ausgaben. Die Hundertjahrfeier 1991 in Moskau und Leningrad. Ein Vandalenakt in Wladiwostok. Politische Entmythisierung, der „Fall Mandelstam“. Die Demontage der Person, „Anti-Memoiren“. Nadeschda als angeblicher Todesengel. Vom „schwierigen Menschen“ Mandelstam. Vertrauen auf Nadeschda: „Mit Dir habe ich vor nichts Angst.“ Die Wiederkehr der Dichter, Stimmen aus der Zukunft. Die Nobelpreisträger Brodsky, Heaney und Walcott als Gefährten Mandelstams. Der Entdecker im deutschen Sprachraum: Paul Celan. Jüdische Schicksalsgemeinschaft, Brüderlichkeit und Identifikation. Mandelstam in der DDR. Durs Grünbein im Interview: Mandelstam versus Benns „Ästhetik der Kälte“. Mandelstams Gewißheiten: der „providentielle Gesprächspartner“, „Trost den Freunden“. Gaumen-Raum und Himmel: Kosmogonie im „denkenden Mund“. Mandelstam jenseits der Heiligenlegende: eine Stimme der Weltpoesie. „Lied eines freien Kosaken.“ Fremdheit und Freiheit. Nur ein Nadelöhr Meer.

Im „Tauwetter“ nach 1956 begannen Mandelstams Gedichte allmählich im Untergrund des Samisdat zu zirkulieren. Für viele nonkonforme Künstler und Intellektuelle der sechziger und siebziger Jahre wurde dieser Dichter zum Symbol für die Unbeirrbarkeit und Ungebrochenheit eines künstlerischen Schaffens unter widrigsten politischen Umständen. Mandelstam, der „moderne Orpheus“ (so Joseph Brodsky), wurde zur geheimen Offenbarung. Nächtelang wurden seine Texte durch fünffaches Pauspapier in die Schreibmaschinen gehämmert oder von Hand kopiert und weitergereicht.
Offiziell durfte sein Name noch immer nicht genannt werden. Ein wichtiges Plädoyer für Mandelstam, wie für andere verfemte Dichter, enthielten Ilja Ehrenburgs 1961 erschienene Memoiren Menschen, Jahre, Leben:

Ich erinnere mich an viele seiner Zeilen, wiederhole sie immer wieder wie Beschwörungsformeln, blicke zurück und freue mich, neben ihm gelebt zu haben… Wen nur hat er stören können, dieser Dichter mit dem kränklichen Körper und jener Versmusik, die unsere Nächte erfüllt?

Von Stalinisten wurde Ehrenburg wegen seiner „Überbewertung“ der verfemten Dichter scharf attackiert.
Am 13. Mai 1965 fand der erste Gedenkabend für Mandelstam an der Moskauer Universität statt, präsidiert von Ehrenburg, im Beisein von Nadeschda Mandelstam. Warlam Schalamow las seine Erzählung „Cherry Brandy“ über Mandelstams Tod im Lager. Doch das lange ersehnte „Tauwetter“ war schon wieder zu Ende. Chruschtschow war im Oktober 1964 abgesetzt worden, Breschnew war an der Macht. Der junge Dichter und Mandelstam-Verehrer Joseph Brodsky wurde im März 1964 nach einem hanebüchenen Prozeß wegen „Parasitentums“ und „Nichtstuerei“ in den russischen Norden verbannt. Im Klima erneuter Vereisung hatte der Mandelstam-Abend beinah konspirativen Charakter.
Zur 700-Jahr-Feier für Dante im Moskauer Bolschoj-Theater am 19. Oktober 1965 hielt Anna Achmatowa eine kleine persönliche Rede. Es war ihr letzter öffentlicher Auftritt. Sie starb am 5. März 1966, als letzte Vertreterin des „silbernen Zeitalters“ der russischen Dichtung, als poetische Zeugin einer verschollenen Kultur. An der Moskauer Universität waren es eingeschworene Poesie-Verehrer und Studenten, die sich versammelt hatten, im Bolschoj aber saßen viele Offizielle und Würdenträger des Sowjetregimes. Als Achmatowa die Dante-Begeisterung ihrer Akmeistenkollegen Gumiljow und Mandelstam erwähnte, wurde das als Bruch eines Tabus empfunden. Zwei „unaussprechliche“ Namen, ein 1921 von der Tscheka erschossener „Konterrevolutionär“ und ein 1938 wegen eines „beispiellosen konterrevolutionären Dokuments“ im Zwangsarbeiterlager umgekommener „Volksfeind“ wurden von einer Komplizin belobigt. Ein unerhörtes Ereignis an der Feier für einen verbannten italienischen Dichter, der im Jahr 1300 seine Reise durch das Jenseits antrat und, bevor er ins Paradies gelangte, im „Inferno“ und „Purgatorio“ Bericht darüber gab. Für die Akmeisten war die Zeit im Fegefeuer oder auf dem Läuterungsberg noch längst nicht ausgestanden. Immerhin erschien als erstes Buch Mandelstams seit 1928 der Essay Gespräch über Dante 1967 in Moskau. Der zu Lebzeiten unveröffentlichte Text war im Jahr zuvor erstmals in der russischsprachigen amerikanischen Ausgabe aufgetaucht.
In seinem Heimatland mochten die Abschriften seiner Werke unter Intellektuellen und Poesiekennern unschätzbare Dunkelziffern erlangt haben, editorisch blieb Mandelstam noch lange ein Dichter des Exils. Im Jahr 1955 erschien im exilrussischen New Yorker Tschechow-Verlag eine einbändige Ausgabe, die die zu Lebzeiten veröffentlichten Texte umfaßte. Dann kam es zunächst 1964 bis 1966 zu einer zweibändigen, 1967 bis 1971 zu einer dreibändigen New Yorker Ausgabe, zu der angeblich auch der CIA einen Subventionsbeitrag lieferte. Mandelstam als Geheimwaffe im Kalten Krieg? Auch zu solchen Merkwürdigkeiten zwangen die sturen sowjetischen Literaturfunktionäre Mandelstams Werke. Bei Hausdurchsuchungen wurden Abschriften der amerikanischen Ausgabe als verbotene Literatur beschlagnahmt, bevor sich Dissidenten mit dem Besitz von Nadeschda Mandelstams Memoiren strafbar machen konnten. Mandelstam war poetische Schmuggelware, subversiver Kassiber.
Offiziell war dieser Dichter noch Jahrzehnte nach seinem Lagertod verfemt. Durch die Verweigerung einer vollständigen Rehabilitierung, die erst am 28. Oktober 1987 unter Gorbatschow erfolgte, verschleppte sich auch die Veröffentlichung von Mandelstams Werken. Der Stempel des „Konterrevolutionärs“ und „Volksfeindes“ war nicht abzuwaschen, Mandelstam blieb als Abtrünniger und Fremdkörper in der Sowjetliteratur noch lange gebrandmarkt. Das Anti-Stalin-Gedicht wog zu schwer.
Mandelstam hatte 1922 die „moralische Kraft“ des Akmeismus hervorgehoben (GP, 129) und ihn 1923 in einem Brief als „das Gewissen der Poesie “ (MR, 38) bezeichnet. Beides, Moral und Gewissen, war den Machthabern lästig und gefährlich. Aus der „Vierten Prosa“ und anderen Texten dieses Dichters drang mit biblischer Wucht das Gebot: „Du sollst nicht töten!“ Doch Mandelstams „Sehnsucht nach Weltkultur“ war ebenso brisant wie seine explizit politischen Texte. Das Verlangen nach Zivilisation, Bürgerrechten, Freiheit – inmitten einer abgeschotteten, von der Ideologie versklavten Gesellschaft – war so gefährlich wie die Entlarvung des „Seelenverderbers“ Stalin.
Nadeschda Mandelstam hatte die Hoffnung auf eine Veröffentlichung von Mandelstams Werken in der Sowjetunion Breschnews aufgegeben. Und dennoch sollte sie sie noch erleben, in einer verzerrten, verstümmelten Form. Im Jahr 1973, sechzehn Jahre nach der Bildung einer Nachlaßkommission im „Tauwetter“, fünfunddreißig Jahre nach Mandelstams Tod im Lager, fünfundvierzig Jahre nach der letzten, noch zu Lebzeiten veröffentlichten Gedichtsammlung, erschien in der Reihe Biblioteka Poeta endlich ein – stark zensierter – Auswahlband ohne jeden „konterrevolutionären“ oder anti-stalinistischen Text. Er erschien in einer für sowjetische Verhältnisse sehr geringen Auflage von fünfzehntausend Exemplaren, die zu einem bedeutenden Teil für harte Dollars ins Ausland verkauft wurden oder in den Sowjetbürgern unzugänglichen „Berjoska“-Devisenläden auflagen. Von einer zuverlässigen Zeugin bekam ich die Information, selbst die Drucker dieses Buches hätten viele Exemplare gestohlen. Denn sie wußten, was sie druckten. Auf dem Schwarzmarkt war der Band damals mehr als das Monatsgehalt eines Ingenieurs wert. Am schmerzlichsten war, daß der Band von einem lügenhaften, mit Unterschlagungen und Verzerrungen durchsetzten Vorwort des Altstalinisten Alexander Dymschiz verunstaltet wurde. Der Vorwort-Entwurf der qualifizierten Literaturwissenschaftlerin und Zeitgenossin Lidija Ginsburg war von der Zensur ausgeschieden worden. Der parteikonforme Schreiber aber verschwieg jede politische Verfolgung Mandelstams, die Not seiner Verbannungsjahre in Woronesch, den entwürdigenden Tod im sibirischen Lager. Nur von „Nervenkrankheit“, „Widersprüchen“ und „komplizierten Umständen“ faselte der mit der Desinformation des Lesers und Vernebelung der historischen Fakten beauftragte Fälscher, der schon 1962 über Ehrenburgs liberale Memoiren hergefallen war.
Vielleicht hatten Nadeschdas 1970 in New York erschienene Memoiren das Erscheinen dieser Alibi-Ausgabe beschleunigt. Breschnews Literaturfunktionäre waren durch die Unterdrückung von Mandelstams Werk einmal mehr vor der Weltöffentlichkeit blamiert. Doch die „Witwe der Kultur“ starb am 29. Dezember 1980, ohne eine weitere oder verbesserte Edition von Mandelstams Gedichten in der Sowjetunion erlebt zu haben. Eine unzensierte Mandelstam-Ausgabe in zwei Bänden erschien in Moskau erst 1990 zur Spätzeit von Gorbatschows Glasnost-Politik, knapp rechtzeitig zum hundertsten Geburtstag Mandelstams am 15. Januar 1991. Die Auflage von zweihunderttausend Exemplaren war innert Tagen vergriffen.
Zur Hundertjahrfeier für den Dichter konnte im Januar 1991 in Moskau und Leningrad ein internationales Symposium stattfinden. Doch am Vorabend dazu, dem 12./13. Januar, fielen sowjetische Spezialtruppen in Vilnius ein und schossen in eine unbewaffnete Menge. Die einseitig erklärte Unabhängigkeit Litauens war noch einmal gefährdet. Der Ungeist, der Mandelstams Werk unterdrückte, lebte noch. Der Augustputsch von 1991 schien die schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen, doch dann kam in einer raschen Wendung der Geschichte das Ende des Sowjetreichs. Wenig später trug die Stadt der Kindheit Mandelstams wieder ihren ursprünglichen Namen.
In Petersburg, auf der Wassilij-Insel, 8. Straßenlinie, Hausnummer 31, wo Mandelstam mehrmals bei seinem Bruder Jewgenij untergekrochen war, hängt seit 1991 eine Gedenktafel mit dem Anfang des berühmten „Leningrad/Petersburg“-Gedichts von Dezember 1930:

Meine Stadt find ich wieder, mir zum Weinen vertraut
Wie ein kindliches Fieber, wie ein Äderchen, Haut
(MM, 45).

Andere Gedenktafeln folgten in den Städten Paris und Heidelberg, wo Mandelstam studiert hatte, in Moskau am Twerskoj-Boulevard und in der Verbannungsstadt Woronesch. Der Dichter Mandelstam, „Waise seiner Epoche“, „heimatlos im Allunionsmaßstab“ (Joseph Brodsky), schien pünktlich zum Ende der Sowjetunion nach Rußland heimgekehrt zu sein.
Wirklich heimgekehrt? Ein von Walerij Nenaschiwin geschaffenes Mandelstam-Denkmal in Wladiwostok wurde 1999 von Vandalen zerstört, mutmaßlich am 20. oder am 22. April. An Hitlers oder an Lenins Geburtstag? Die Polizei wiegelte ab: Ein reiner Zufall. Es gebe keinen politischen Hintergrund. Ein Beamter äußerte offen, was die Behörden nicht eingestehen wollten:

Keinen Fußbreit russischen Bodens für einen Verleumder.

Gewiß ist fraglich, ob Mandelstam überhaupt ein Denkmal braucht. Er spricht aus seinen Gedichten, aus seinem „Luftgrab“. Aber vom zweifelhaften Fortgang russischer Vergangenheitsbewältigung zeugte der Vorfall gleichwohl. Andrej Bitow, Vorsitzender des russischen PEN-Zentrums, protestierte mit anderen Schriftstellern in einem offenen Brief an den Gebietsgouverneur und an den Bürgermeister von Wladiwostok. Aber auch eine in Metall gegossene Fassung des Denkmals wurde wieder beschmiert und beschädigt.
Die Zeit der Prüfungen war mit dem Untergang der Sowjetunion nicht vorüber. Die Beförderung zum Heiligen der Poesie und Schutzpatron der Bürgerrechtler war in solch mythische Höhen geraten, daß das Pendel zurückschlagen mußte. In der Spätzeit der Perestrojka setzten nicht nur endlich die Mandelstam-Ausgaben ein, sondern auch politische Entmythisierungen. Aus dem künstlerisch und moralisch kompromißlosen Dichter und hellsichtigen „Dissidenten“ avant la lettre wurde ein gespaltener Dichter, der vom Ungeist des Stalinismus stärker infiziert worden sei, als die Legende wahrhaben wolle. Benedikt Sarnows Buch Geisel der Ewigkeit. Der Fall Mandelstam von 1990 steht für die These, der allgemeinen Gehirnwäsche habe in jener gräßlichen Epoche auch ein so bedeutender Dichter wie Mandelstam nicht entgehen können. Dies sei weniger in dem erzwungenen Machwerk der Stalin-Ode von Januar 1937 der Fall gewesen als in dem „aufrichtigen“, „ehrlich gemeinten“ Entschuldigungsversuch des Gedichtes „In dem Lärm und im Menschengehetze“ (Februar 1937):

In den Kreml, und ohne Passierschein,
In sein Herz, in sein Mark, hin zu ihm –
lle Leinwand-Distanzen zerknirschend
Mit schuldschwerem Kopf ging ich hin
. (WH, 147)

Hier sei Mandelstams Schuldbekenntnis und Entschuldigungsversuch für das fatale Epigramm gegen Stalin formuliert und somit Mandelstams Kapitulation vor Stalin festgeschrieben. Beim Lesen solcher 1990 zu „Glasnost“-Zeiten publizierter, doch angeblich schon zwanzig Jahre zuvor entstandener Thesen wurde ein westlicher Betrachter den Verdacht nicht los, es sei eine Selbstrechtfertigung und Selbstreinwaschung von sowjetischen Intellektuellen im Gange. Denn eigene Feigheiten und Anpasserei wurden bequem entschuldbar, wenn man sich den „Fall Mandelstam“ vergegenwärtigte. Sogar ein unabhängiger Geist wie Mandelstam, so die beruhigende Anti-Legende, war kein Held und nicht jederzeit gegen das Verführungspotential der herrschenden Ideologie gefeiht.
Mandelstams Verwurzelung in seiner Zeit war gewiß stärker, als die extraterritoriale Heiligenlegende suggerieren mochte. Paul Celan sprach im Nachwort zu seiner 1959 erschienenen deutschen Gedichtauswahl von dem, „was den Gedichten zuinnerst eingeschrieben war, das tiefe und mithin tragische Einverständnis mit der Zeit“. Mandelstam nur als „Abtrünnigen“ und absoluten Einzelgänger außerhalb jeder Verstrickung in die Epoche zu sehen, hieße die Tiefe seiner Tragik verfehlen. Doch der „Fall Mandelstam“ ist nicht der repräsentative Fall irgendeines Schriftstellers oder Künstlers der Stalin-Ära: Nirgendwo, in keinem anderen literarischen Werk, existiert eine so klare Einsicht in das Lügenhafte und Menschenverachtende jener Zeit, nirgendwo eine so explizite Verdammung des „Seelenverderbers“. Mandelstam war bei allen Zweifeln, Krisen und Schuldgefühlen in jener gewaltbestimmten Epoche eine äußerst seltene Stimme des Gewissens, der Wahrhaftigkeit, der Weltkultur. Er war ein Vertreter der moralischen Qualität von Kunst in Zeiten schärfster staatlicher Repression.
Auf die politische Entmythisierung folgte schließlich die versuchte Demontage der Person. Die von Brodsky vorausgesehenen „Anti-Memoiren“, d.h. Erwiderungen auf Nadeschda Mandelstams Jahrhundert-Memoiren, ließen lange auf sich warten. Im Jahr 1998 war es endlich soweit. Die fünfundneunzigjährige Emma Gerstein, eine einstige Freundin der Mandelstams, veröffentlichte in Sankt Petersburg ihre Memoiren und heimste dafür den russischen Booker-Preis und zugleich den Anti-Booker ein. Offenbar brachte das Buch dem russischen Publikum Erleichterung – über das banal menschliche Verhalten einstiger Helden. Das Buch enthält eine Fülle präziser Erinnerungen an Zeitgenossen und eine harsche Abrechnung mit den Mandelstams: mit Nadeschdas Boshaftigkeit und ungezügelter Provokationslust, mit der Rücksichtslosigkeit dieses Paares, mit der Theatralik, mit der es seine Not darzustellen verstanden habe. Nadeschda wird als „bisexuelle Exhibitionistin“, als „schamlose Äffin“, Mandelstam als Sadist und Satyr dargestellt (seine dichterische Genialität jedoch nirgends bestritten). Im Vorfeld ihres hundertsten Geburtstages 1999 wurde die 1980 verstorbene Nadeschda Mandelstam zur schillernden Figur gemacht, ja sogar zum Todesengel dämonisiert.
Das postume Wirken russischer Dichter kannte bis dahin fast nur das eine Stereotyp: zu Lebzeiten geschunden, nach dem Tod verklärt. Daß heute diesen Mythenbildungen zugesetzt wird, könnte wie jede Ernüchterung heilsam sein. Die Wahrheit ist den Russen wie uns zumutbar, Schmerzhaftigkeit gehört zu ihrem Wesen. Auch in Rußland gibt es heute mehr als eine Wahrheit, doch sollte man die „neue Wahrheit“ dieser Memoiren nicht unbesehen an die Stelle der alten setzen. Angehörige von Zeitgenossen, die bei Gerstein verzerrt dargestellt werden, äußerten erhebliche Einwände. Die Tochter der Dichterin Marija Petrowych sagte in einem Interview, Gerstein habe mit Absicht ihre Memoiren so lange zurückgehalten, bis kein anderer lebender Zeuge jener Epoche mehr übrigblieb (Gerstein starb im Juni 2002). Warwara Schklowskaja-Kordi, die Tochter von Viktor und Wassilissa Schklowskij, warf ein, Gerstein habe nur Sinn für den Klatsch der Epoche gehabt und keinen ausreichenden Intellekt, um das geistige Format von Leuten wie Mandelstam oder Schklowskij adäquat wiederzugeben. Nur ihre Rachegelüste gegen Nadeschda hätten sie geleitet: Kein Wort bei Gerstein über Nadeschdas hellsichtigen Geist, kein Wort darüber, wie vielen Menschen sie großzügig geholfen habe. Kein Wort über die mutige Bewahrung von Mandelstams Werk gegen alle Widerstände.
Am dichterischen Rang Ossip Mandelstams gab es längst nichts mehr zu deuteln. Das schriftstellerische Format von Das Jahrhundert der Wölfe steht unverrückbar da, diese „wunderbaren Memoiren, mit denen mehrere Generationen der gebildeten Russen aufgewachsen sind“ (Viktor Kriwulin). Was blieb da noch? Die sexuelle Verunglimpfung des Gegners. Gersteins Memoiren verraten nicht zuletzt auch den gestrengen Blick einer unter Stalin prüde gewordenen Sexualmoral auf jene vorangehende Generation, die sich als den Beginn der „sexuellen Revolution“ verstand. Die beträchtliche sexuelle Energie, die das Leben der Mandelstams prägte und zu der sich Nadeschda noch im späten Fernseh-Interview von 1973 bekannte, mußte auf die abseits stehende Tugendhaftigkeit befremdlich wirken. Oder war es für die Memoiristin Emma Gerstein, die ihre eigenen Liebesenttäuschungen in einem „Verzeichnis der Kränkungen“ auflistet, nur schmerzlich, die „unglaubliche, unvorstellbare Liebe“ (so Anna Achmatowa) zweier Menschen mitansehen zu müssen, die trotz aller leichtsinniger Eskapaden bis zur Verzweiflung aneinander festhielten
Schwerer wiegt Gersteins Darstellung, Nadeschda habe mit dem Tod gespielt, den lebensfrohen, sich ans Leben klammernden Dichter in gefährliche Situationen manövriert und dann zum Selbstmord gedrängt. Daß das Paar mehrmals den gemeinsamen Selbstmord erwog, ist auch im Jahrhundert der Wölfe nachzulesen, im Kapitel „Der Sprung“. Dort wird Mandelstams entwaffnende Replik wiedergegeben:

Weshalb hast du dir in den Kopf gesetzt, daß du unbedingt glücklich sein mußt?

Daß späte private Abrechnungen mit längst Verstorbenen die finstere historische Realität vertuschen helfen, dürfte ganz im Sinne der damaligen Henker sein. Stilisiert man Nadeschda Mandelstam zum Todesengel, wird vernebelt, wo die wahren Agenten des Todes saßen. Es war bekanntlich Stawskijs Denunziationsbrief vom 16. März 1938 an den NKWD-Chef Jeschow, der zu Mandelstams erneuter Verhaftung führte. Der Generalsekretär des Sowjetischen Schriftstellerverbandes bat Jeschow, „das Problem Mandelstam zu lösen“.
Die Memoiren Emma Gersteins, die den Mandelstams niedrige Instinkte oder unmoralisches und unethisches Verhalten vorwarf, zeigen einen verständnislosen und sehr sowjetischen Blick auf das als Fremdkörper empfundene, ungewöhnliche Paar der Mandelstams. Daß der Dichter als Mensch nicht jedem der Zeitgenossen genehm sein konnte, belegt das nachtragende Ressentiment der Gerstein-Memoiren eindrücklich. Keiner aber hat sich genauer über den „schwierigen Menschen“ Mandelstam geäußert als sein Freund Boris Kusin:

Noch bevor ich Mandelstam kennenlernte, hatte ich gehört, daß er ein sehr schwieriger Mensch mit einem schwierigen Charakter sei. Wie hat diese Meinung entstehen können? Begründungen gab es genug, denke ich. Mittelmäßige Menschen ertragen in andern keine guten Eigenschaften, die ihnen selber abgehen. Sie können nicht glauben, daß solche Eigenschaften überhaupt existieren, und halten fremden Scharfblick, Anständigkeit, Großzügigkeit, Güte usw. für Verstellung und Scheinheiligkeit. Doch besonders unerträglich ist ihnen Scharfzüngigkeit, Witz. (…) Ein scharftüngiger Mensch ist deshalb immer potentiell gefährlich.
Die Freundschaft mit Mandelstam war auch für mich schwierig. Doch aus einem einzigen Grund. Es war schrecklich mitanzusehen, wie er fast mit Absicht seinem eigenen Untergang entgegenlief. (AA, 154)

Mandelstams Briefe an Nadeschda zeigen merkwürdige Konstanten. Im allerersten Brief vom 5. Dezember 1919 schrieb er:

Mit Dir werde ich vor nichts Angst haben (MR, 27).

Und einer der letzten Briefe aus Woronesch vom 2. Mai 1937 scheint, fast zwei Jahrzehnte später, ein Echo bereitzuhalten:

Mit Dir habe ich vor nichts Angst (MR, 283).

Er nennt sie in den Briefen „meine Furchtlose, Helle“.
An Nadeschda zweifelte Mandelstam so wenig wie an der zukünftigen Wirkung seines Werks. „Die Menschen werden es aufbewahren“: Von dieser gelassenen Zuversicht war er zeitlebens getragen.

Und wenn sie es nicht aufbewahren, heißt das, daß niemand es braucht und es nichts wert ist.

Doch ahnte er auch, welch immense Anstrengungen Nadeschda zur Erfüllung der Prophezeiung beitragen würde? In Mandelstams Briefen an Nadeschda tauchen kärgliche Habseligkeiten auf, die das Paar durch die Jahre begleiteten, etwa ein abgenutztes Plaid, dem im Gedicht „Mitternacht in Moskau“ von Mai 1931 eine besondere Rolle zukam. Es klang wie ein Schwur und ein Testament:

Wir werden sterben, wie das Fußvolk stirbt,
Doch nicht ein Lobeswort für Raub und Unfreiheit und Lüge!
Und das Spinnengewebe des Schottenplaids, das uns noch bleibt –
Nimm es als Flagge und decke mich zu, wenn ich sterbe.
Trinken wir, Freundin, auf unseren Gerstenkorn-Kummer!
Trinken wir aus!
(MM, 79)

Dem 1938 im fernöstlichen Massengrab verscharrten Mandelstam sollten weder dieses alte Plaid noch die letzte Liebesgeste bleiben. Aber vielleicht waren es Nadeschdas die Gedichte rettende Gedächtniskraft und ihre Memoiren, die das Schottenplaid vorteilhaft ersetzten und Mandelstams Andenken sicherten.
Mandelstam glaubte an seine dichterische Wiederkehr. Es war der Glaube an das Zyklische der menschlichen Erfahrung. Schon 1918, im „Tristia“-Gedicht, schrieb er:

Und alles war schon und wird wiederkehren:
Dein Glück – nur der Moment, da du’s erkennst
(TR, 65).

Im letzten Gedicht der Woronescher Hefte antwortet darauf die Gewißheit:

Denn alles wird auf immer neu beginnen (WH, 2 15).

An seine Wiederkehr glaubte er im Sinne einer verändernden Wirkung seiner Poesie. In einem Schreiben an Jurij Tynjanow vom 21. Januar 1937 aus der Woronescher Verbannung:

Bitte halten Sie mich nicht für einen Schatten. Noch werfe ich Schatten. Aber in letzter Zeit werde ich schlechthin allen verständlich. Das ist bedrohlich. Das Wichtige mit Lappalien mischend, schwimme ich nun bereits ein Vierteljahrhundert auf die russische Dichtung zu; bald jedoch werden meine Verse mit ihr zusammenfließen und in ihr aufgehen, nachdem sie einiges an ihrem Bau und ihrer Beschaffenheit verändert haben werden. (MR, 259)

Als Zeugen dieser Veränderungskraft und Zukunft gibt es die Stimmen von Dichtern in der Nachwelt. Ganz unterschiedliche Temperamente unter den Dichtern des 20. Jahrhunderts – und es sind nicht die geringsten unter ihnen – haben ihre Bewunderung für den „Sonderling“ Mandelstam formuliert: Anna Achmatowa, Marina Zwetajewa, Vladimir Nabokov, Paul Celan, René Char, Philippe Jaccottet, Pier Paolo Pasolini, Adam Zagajewski, Durs Grünbein und andere mehr. Eine Auswahl aus diesem Chor von Dichterstimmen ist diesem Buch mitgegeben („Dichter über Mandelstam“).
Auffällig ist, wie entschieden die drei großen Lyriker unter den Nobelpreisträgern der letzten Jahre des 20. Jahrhunderts – Joseph Brodsky, Derek Walcott und Seamus Heaney – sich zu Mandelstam und seiner Dichtung bekannten. Besonders Brodsky, der seit 1972 im amerikanischen Exil lebte, mehrte im Westen den Ruhm Mandelstams, dem er als „Erbe“ so viel verdankte. In seinem Nachruf auf Nadeschda Mandelstam sprach er 1981 von „Rußlands größtem Dichter dieses Jahrhunderts“. In seiner Nobelpreisrede von 1987 nannte er Mandelstam – neben Marina Zwetajewa, Robert Frost, Anna Achmatowa und W.H. Auden – als den ersten jener fünf Dichter, „deren Taten und deren Schicksal mir am meisten bedeuten, weil ich ohne sie als Mensch und als Schriftsteller bedeutungslos wäre und heute nicht hier stehen würde “. Schon in seinem Essay „Kind der Zivilisation“ von 1977 hatte er geschrieben:

Die Welt muß diese nervöse, hohe, reine Stimme erst noch hören, eine Stimme, in der Liebe, Schrecken, Erinnerung, Kultur, Glaube mitschwingen, zitternd vielleicht wie ein brennendes Streichholz bei starkem Wind und doch gänzlich unlöschbar. Eine Stimme, die bleibt, auch wenn ihr Besitzer nicht mehr ist.

Der irische Nobelpreisträger Seamus Heaney beruft sich in seinen poetologischen Essays energisch auf Mandelstam, macht ihn in Die Herrschaft der Sprache (1986) zu einem Kronzeugen Dantes und der Poesie. Und bis in die Karibik drang Mandelstams poetische Energie: Der von der Antilleninsel Saint Lucia stammende Nobelpreisträger Derek Walcott bezeichnet Mandelstam in seinem Gedicht „Der Forst Europas“ (1979) als jene Glut, die noch die heutige Poesie wärme. Der französische Dichter René Char assoziiert ihn mit dem „menschlichen Zentralfeuer“, Philippe Jaccottet mit einem Wildbach. Die Elemente – Feuer und Wasser – scheinen für Mandelstams Poesie zu sprechen.
Im deutschen Sprachraum übernahm Paul Celan mit seiner Gedichtauswahl von 1959 die Pionierrolle und gab Mandelstam laut einer beigefügten Notiz die „Chance des bloßen Vorhandenseins“. Seine Initiative bedeutete viel mehr: Er ließ Mandelstams dichterischen Rang für den deutschen Leser erstmals erahnen. In Celans Werk erscheint Mandelstam im Zeichen der Begegnung, der jüdischen Schicksalsgemeinschaft und der Brüderlichkeit. ‑ „Bruder Ossip“ heißt ein Gedichtentwurf von 1961:

Es spielt der Schmerz mit Worten
er spielt sich Namen zu
er sucht die Niemandsorte,
und da, da wartest du.
Du bist der Russenjude,
der Judenrusse.

Daß die Betonung von Mandelstams Jüdischsein durch Celan nicht abwegig war, beweisen auch die Ausgrenzungsversuche von seiten russischer Nationalisten und Antisemiten. Ende der sechziger Jahre zirkulierte das von „rechtsnationalen“ Kritikern geprägte Schand-Diktum, Mandelstam sei „das jüdische Geschwür auf dem reinen Körper der russischen Dichtung“, das auch die Witwe des Dichters zu hören bekam.
Den Gedichtband Die Niemandsrose von 1963 widmete Paul Celan „Dem Andenken Ossip Mandelstamms“. Darin findet sich das Gedicht „Nachmittag mit Zirkus und Zitadelle“, in dem der russische Dichter als poetisch-mystische Epiphanie und Offenbarung erscheint („da sah ich dich, Mandelstamm“). In dem Gedicht „Es ist alles anders“ wird die Geste der Identifikation durch einen Tausch der Glieder besiegelt:

der Name Ossip kommt auf dich zu, du erzählst ihm,
was er schon weiß, er nimmt es, er nimmt es dir ab, mit Händen,
du löst ihm den Arm von der Schulter, den rechten, den linken,
du heftest die deinen an ihre Stelle, mit Händen, mit Fingern, mit Linien,
– was abriß, wächst wieder zusammen –

Paul Celans Rundfunk-Essay „Die Dichtung Ossip Mandelstamms“ von 1960 war unzweifelhaft eine Vorstufe zu seiner großen poetologischen Rede „Der Meridian“. Das „schmerzlich-stumme Vibrato“, an dem er Mandelstams Gedicht erkannte, stand nicht nur für jüdische Schicksalsgemeinschaft, sondern auch schlicht für poetische Wahrhaftigkeit. In seinem Brief an Gleb Struve vom 29. Februar 1960 schrieb Celan:

Mandelstamm: selten noch habe ich, wie mit seiner Dichtung, das Gefühl gehabt, einen Weg zu gehen – einen Weg zu gehen an der Seite des Unwiderlegbaren und Wahren, und dies dank ihm.

Selbst in der DDR wurde Mandelstam zum geheimen, gehegten Mythos, dank der Auswahl Hufeisenfinder von 1975, die der verdienstvolle Herausgeber Fritz Mierau trotz Zensur und Behinderungen ans Tageslicht zu fördern verstand. Das Buch wurde zur kostbaren „Bückware“, die auch in die Sowjetunion eingeführt werden konnte und dank seiner Zweisprachigkeit zum begehrten Geschenk wurde. Westlich des Eisernen Vorhangs erschien, nach zwei Auswahlbänden in der Bibliothek SuhrkampDie Reise nach Armenien (1983) und Schwarzerde (1984) –, in den Jahren 1985 bis 2000 die zehnbändige Mandelstam-Gesamtausgabe des Zürcher Ammann Verlages. Das vorliegende Buch ist der Abschluß dieses Mandelstam-Projekts.
Unter den zeitgenössischen deutschen Dichtern zeigt sich der Büchner-Preisträger Durs Grünbein in zwei im Jahr 2001 aufgezeichneten Gesprächen besonders von Mandelstam beeindruckt:

Die Leichtigkeit inmitten der historischen Katastrophe, diese an Wahnsinn grenzende Musikalität, während der Weltgeist lärmt und die revolutionäre Phrase alles verschlingt: kein anderer hat einen so komplexen Ausdruck dafür gefunden.

Von einem Interviewpartner darauf angesprochen, daß er früh als „Bennscher Hirnhund“ bezeichnet worden sei, grenzt sich Grünbein gegen Gottfried Benns Desillusioniertheit und Ästhetik der Kälte ab und bekennt:

Ich hoffe, daß die Zukunft Mandelstam gehört und nicht Benn.

Mandelstam hat auf der ganzen Welt Freunde und „providentielle Gesprächspartner“ gefunden. Auch von diesem Wunder der Wiederkehr war er überzeugt. Es gibt bei ihm die gelassene Gewißheit, daß das Gedicht Wirkung haben wird, daß alle Versuche der Machthaber, einen Dichter mundtot zu machen, sein Schaffen zu beseitigen, erfolglos sein werden. Aus einem in der Woronescher Verbannung entstandenen Gedicht vom 8. Februar 1937 spricht Hoffnung und Gewißheit, daß es den Freunden etwas wird bedeuten können:

Das Lied, das selbstlos ist, ist selbst sein Lob, und strahlt –
Den Feinden: Teer, den Freunden: Trost, Erkennungsmal.
(WH, 135)

Mandelstams Poesie spricht von der zerbrechlichen Würde des Menschen in einer Zeit größter Gefährdung, von der nie auftrumpfenden, aber beharrlichen Selbstbehauptung des Individuums in der Zeit seiner Abschaffung. Gerade weil seine Dichtung in einer Epoche der Diktatur und einer hemmungslos-herrischen Fortschritts- und Zukunftsgläubigkeit sich bewähren mußte, gerade weil es in einer Zeit der Massenkultur in stillen Gedicht-Kassibern überleben mußte, ist es heute aktuell und wirksam.
Mandelstam beschwor die Vitalität der eigenen Dichtung in einem Fragment von 1931, wo das Ich Kindheit und Tod hinter sich gelassen hat, um die Stimme der Poesie zu werden:

Ich bin kein Kind mehr.
aaaaaaaaaaaaaaaaaaDu, mein Grab, du brauchst
Den Buckligen noch nicht zu lehren – schweig!
Ich sprech für alle noch mit solcher Kraft,
Daß dieser Gaumen Raum und Himmel werde
Und meine Lippen springen – wie ein rosa Lehm.
(MM, 87)

Gaumen und Lippen, der Mund als Ganzes, stehen hier als Ort der Poesie, als Versprechen dichterischer Universalität. Poesie wird damit definiert als eine fortdauernde, den Dichter in seiner Zeitlichkeit und Sterblichkeit überschreitende Kraft, die einen Kosmos schafft. In einem andern Gedicht Mandelstams lautet der Grundgegensatz des Seins nicht „sterblicher Leib / unsterbliche Seele“, sondern „sterbender Leib“ und – „denkender unsterblicher Mund“ (MM, 153). Im „Gaumen-Raum“ und denkenden Mund des Dichters entsteht immerzu neu eine Welt.
Blickt man aus der Zukunft auf Mandelstams Werk zurück, so erstaunt beides: seine Fremdheit und seine Freiheit. Er war sich seiner Fremdheit in jener Epoche bewußt. Im Gedicht „Der 1. Januar 1924“:

Und welch ein Schmerz noch, das verlorene Wort zu suchen,
Die wunden Lider heben sacht,
Für ihn, den fremden Stamm, mit Kalk in deinem Blute
Das Gras zu sammeln, Kraut der Nacht
. (TR, 163)

Aber auch selbstironisch konnte er auf die eigene Fremdheit blicken, auf ein ewiges Anderssein. Hier eines seiner Scherzgedichte, das um 1922 entstand:

LIED EINES FREIEN KOSAKEN

Ich bin Lesbier unter den Männern,
Fremd, ein Fremder, ja, ein Fremder.
Auf Lesbos aufgewachsen restlos –
O Lesbos, Lesbos, Lesbos!
(BT, 123)

Mandelstam war ein russisch-jüdischer Odysseus, der sich die Freiheit nahm, das Lied eines „freien Kosaken“ anzustimmen und gleichzeitig mit durchtriebener Ironie seine Abstammung von den ersten Lyrikern des Abendlandes – den Dichtern der Insel Lesbos, Alkaios und Sappho – zu verkünden. Denn der Vers „Ich bin Lesbier unter den Männern“ bedeutet auch: Ich bin Dichter. So hat die Freiheit in der Fremdheit einen Vers bekommen.
Mandelstam braucht keine Heiligenlegende, keinen Heldenmythos. Er sei schlicht eine Stimme jener Weltpoesie, auf die er sich noch im Scherzgedicht berief. Immer vernehmbar ist in ihr das Verlangen nach Freiheit. Die „stille Freiheit“ in einem der frühesten Gedichte von 1908. Die mit dem Philosophen Tschaadajew 1914 entdeckte „innere Freiheit“. Das Bekenntnis zu einer „unerhörten Freiheit“ im Gedicht von 1915. In der Woronescher Verbannungszeit ist es die bedrängte, schmale und scheue Freiheit der Stimme eines Dichters, der in ein Zwangssystem gesperrt wurde. Aber das beharrliche Verlangen nach ihr ist noch in den spätesten Gedichten spürbar.

Nur ein Stück blaues Meer möcht ich nun, nur ein Nadelöhr Meer!

Ralph Dutli, aus Ralph Dutli: Meine Zeit, mein Tier. Ossip Mandelstam. Eine Biographie, Ammann Verlag, 2003

 

SCHLAFPLATZ
an Ossip Mandelstam

Die Wohnung, Schatten, hier,
ich geh durch enge Ritzen Luft,
die Körper, liegend, da und dort verstreut,
von Bücherstößen, Wänden, Eisenteilen
ein sickernd-fahles Licht,
ich dräng voran zur letzten Hinterkammer,
mein kahles Gähnen – stockt, ich tret
herzu, wühl mich in Zeitungshaufen.

Die Nacht ist lastend. Bis der Körper sich
den Rückweg tappt, auf rauhe Decken fällt.

Roland Erb

 

KEINER HAT DEN ANDEREN BESTOHLEN –
(drei Gedichte für Ossip Mandelstam)
1

I

Keiner hat den anderen bestohlen –
Dass wir getrennt sind, sei mir recht!
Ich küsse Sie ganz unverhohlen,
Und sind Sie noch so weit entfernt…

Unsere Talente sind verschieden,
Und meine Stimme ist bisweilen leis.
Was schon kann ich Ihnen
2 bieten,
Mein Vers ist ungeschlacht und dreist!

Ich mach das Kreuz für Ihren Höhenflug:
– Heb ab, mein Adlerjunge, in die Lüfte!
Kaum einer, der die Sonne so wie du ertrug.
War dir mein Blick zu schwer beim Driften?

Niemand verfolgte Ihren Flug so zärtlich
Wie ich, und niemand – so bedingungslos…
Ich küsse Sie, auch wenn wir nun getrennt sind
Durch so viele Jahre – es ist unser beider Los.

12. Februar 1916

II

Wie du den Kopf zurückwirfst! Stolz
Bist du – ein Lügner und ein Schwätzer!
Was für ein Februar – er war mir hold
Und machte dich „zu“ meinem Weggefährten!

Wir lassen in der Tasche Münzen klimpern
Und stossen langsam unsre Atemwolken aus.
So schlendern wir durch unsre Heimatstadt,
Als wären wir Touristen und nicht bereits zu Haus.

Wessen Hände, Schönheit, streiften zärtlich
Deine Wimpern? Und deinen Mund –
Wer hat ihn erstmals und wie heftig,
Wie oft und wann zuletzt geküsst? Nun,

Das ist mir egal! Ein Traum, den ich mir spare,
Meine Sehnsucht habe ich bezwungen.
In dir verehre ich den Götterjungen, zehn Jahre
Ist er alt, ich habe mir dies ausbedungen.

Wir halten ein am Fluss, in dem die bunten
Lichter der Laternen schwappen.
Behutsam führ ich dich zum Platz hinunter,
Wo einst die Zarenknaben trabten…

Pfeif auf das Ungemach der Jugendjahre
Und nimm dein Herz selbst in die Hand…
– Befreie dich, sei souverän, verfahre
Wildentschlossen und – sei mir nicht gram.

18. Februar 1916

III

Woher mein Zartgefühl für dich wohl rührt?
Denn deine Locken sind ja nicht die ersten,
Die ich streichle, und Lippen habe ich geküsst,
Die waren tiefer als die deinen, schwärzer.

Sterne kamen, funkelten, verlöschten.
– Woher rührt aber meine Zärtlichkeit?
Auch deine Augen funkelten, erloschen,
Und meine Augen waren für sie stets bereit.

Nie habe ich in dunkler Nacht so viele
Lieder mitbekommen und verwahrt.
– Von daher meine zärtlichen Gefühle?
Der Sänger hatte sich mir offenbart!

Woher also mein zärtliches Gedenken?
Und was soll ich damit beginnen? Denken
Weiterhin an dich, du Wanderer und Sänger,
An deine Wimpern? Ja, du hast die längsten!

18. Februar 1916

Marina Zwetajewa
Übersetzung von Felix Philipp Ingold

 

Zum 70. Todestag des Autors:

Olga Martynova: Eine Streichholzflamme im Wind
Frankfurter Rundschau, 29.1.2019

Fakten und Vermutungen zum Autor + Dichterstimmen+
KLfGIMDb

 

Paul Celan liest Ossip Mandelstam: „Diese Nacht, nicht gutzumachen“.

Fakten und Vermutungen zum Herausgeber + KLG
Porträtgalerie

 

 

Bild von Juliane Duda mit den Übermalungen von C.M.P. Schleime und den Texten von Andreas Koziol aus seinem Bestiarium Literaricum. Hier „Der Rainerkirsch“.

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