Sommer 2019

„Teilnehmen ist eine Kunst“, schrieb der Dichter Peter Handke. Dass Sie, verehrte Festspielgäste, diese Kunst aufs Vortrefflichste beherrschen, hat Salzburg auch 2018 zu einem „Epizentrum des Besonderen“ gemacht. Tausend Dank dafür!

2019 wollen wir Ihre Empathie für die Mythen der Antike wecken, in denen Festspielgründer Hugo von Hofmannsthal „einen magischen Spiegel“ sah. Stellen doch die mythischen Erzählungen von einst die ewiggültigen Fragen nach unserer Existenz. Sie thematisieren Krieg, Flucht, Opfer, Rachedurst, Schuld und Sühne.

Die Eröffnungspremiere wird Mozarts Idomeneo sein. Hier wird der Herrscher zu bewusstem Handeln gezwungen, zerrissen zwischen der Pflicht gegenüber den Göttern und der Liebe zur Familie. Mit Œdipe in George Enescus gleichnamiger Oper steht uns hingegen ein Unwissender gegenüber: Er wird schuldlos schuldig. Familiäre und politische Konflikte liefern auch die fesselnde Handlung für Simon Boccanegra. Verdis Werk erinnert uns an die schicksalhaften Verkettungen in den großen antiken Erzählungen.

Eine der zentralen mythologischen Frauenfiguren ist Medea, die sich in unserem Programm zweifach widerspiegelt. Basierend auf dem Stoff von Euripides’ Tragödie komponierte Luigi Cherubini 1797 mit Médée ein großes Seelendrama um enttäuschte Liebe und blutige Rache. Der französische Komponist Pascal Dusapin bietet uns hingegen, ausgehend von Heiner Müllers Medeamaterial, eine aufwühlend zeitgenössische Interpretation. Auf ganz andere Weise reagierte Jacques Offenbach auf den Antikenkult seiner Zeit. Seine Operette Orphée aux enfers ist Persiflage und Gesellschaftssatire zugleich.

Und wie jedes Jahr nehmen wir die Pfingstoper mit unserer wunderbaren Cecilia Bartoli im Sommer wieder auf. Georg Friedrich Händels Alcina wurzelt tief im mündlichen Erzählschatz vergangener Zeiten.

Mit den Mythen spielt auch das Schauspielprogramm. Die Uraufführung von Theresia Walsers Die Empörten überträgt den antiken Grundkonflikt von Antigone und Kreon in unsere Zeit. Maxim Gorkis Sommergäste hingegen lassen sich als Antithese zur mythologischen Erzählung lesen. Die Menschen sind für ihr Schicksal selbst verantwortlich. Mit Liliom von Ferenc Molnár wird ein Charakter der permanenten Entäußerung in den Mittelpunkt gerückt. Ein Fluch scheint in Jugend ohne Gott auf der Gemeinschaft von Schülern und Lehrern zu lasten, dem sie nicht entkommen und der zwei von ihnen den Tod bringt. Den Mythos des Sisyphos greift Albert Ostermaier in einem dramatischen Monolog auf, eine weitere Uraufführung für die Salzburger Festspiele an ungewöhnlichem Ort. Mit einer Marathonlesung von James Joyces Ulysses knüpft das Schauspielprogramm direkt an Homers Odyssee an: als Echo der Antike in unserer Zeit.

Wie sehr Erzählung auch Gesang war, davon zeugen eindrucksvoll die antiken Epen. In unserer diesjährigen Ouverture spirituelle nehmen der Schmerz, die Klage und die Tränen klanglich Gestalt an. Sie berühren unsere Seele: sei es in Orlando di Lassos Lagrime di San Pietro, bei Palestrina, Gesualdo und Bach, in der Musik Schostakowitschs oder bei Nono, Gubaidulina und Rihm.

Hermann Bahr, einer der Vordenker der Festspielidee, beantwortete die Frage „Warum Mythen heute?“ so: „Mein Zukunft mit Ungeduld verlangender Blick kehrt seit je doch am liebsten bei längst entschwundenen Vergangenheiten ein, da hole ich mir die Zukunft.“

Dazu laden wir Sie im Sommer 2019 ein.

Helga Rabl-Stadler
Markus Hinterhäuser
Lukas Crepaz

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Editorial Cecilia Bartoli / Pfingsten 2019

One God, one Farinelli...

Seit einer ganzen Weile erwäge ich, die Pfingstfestspiele der Kunst der großen Kastraten zu widmen. Es ist kein Zufall, dass ich diese Idee gerade jetzt realisieren kann, wo die Diskussion über die Unversehrtheit von Künstlern allgegenwärtig ist.

In Europa gab es spätestens seit dem 12. Jahrhundert Kastraten, und Alessandro Moreschi, von dem wir Tonaufnahmen besitzen, sang noch bis 1913 im Chor der Sixtinischen Kapelle. Eine fürchterliche Tradition, die über Jahrhunderte gepflegt und nur selten in Frage gestellt wurde: Im Namen der Kunst verstümmelte man Tausende von Knaben, mit dem profitablen und für manche Menschen recht angenehmen Nebeneffekt, dass ihre Lust gedämpft wurde. Genau wie heute missbrauchten Menschen ihre Machtposition unter dem Vorwand, hilflosen Kindern eine berufliche Zukunft zu bieten. Oft blieb den Eltern keine andere Wahl als einzuwilligen, in der Hoffnung, dass die finanzielle Entschädigung, mochte sie auch noch so klein sein, ihnen ein besseres Leben ermöglichen werde.

Vor diesem Hintergrund überlegte ich, ob man die künstlerischen Großtaten dieser Epoche überhaupt feiern und diese Musikstücke aufführen soll. Für mich liegt die Antwort auf der Hand: Ja, absolut. Aber man muss das Phänomen auch aus anderen Blickwinkeln beleuchten und den problematischen Kontext zur Diskussion stellen.

Man mag sich fragen, wie das Leben von Menschen wie Farinelli oder Senesino verlaufen wäre, hätten sie nicht diese „unglaubliche Chance“ bekommen, die erfolgreichsten Sänger ihrer Zeit zu werden. Hätten sie ihr Dasein als Landarbeiter auf einem süditalienischen Feld gefristet? Wären sie vielleicht noch als Kinder an Hunger gestorben? Hätten sie geheiratet und glücklich und zufrieden gelebt?

Ich möchte die Salzburger Pfingstfestspiele 2019 dem Andenken an die Kastraten widmen. Wir konzentrieren uns dabei auf den letzten, glanzvollen Höhepunkt, den die Begeisterung für diese Stimmen in der Geschichte der klassischen Musik erlebte. Zugleich möchten wir zeigen, welchen nachhaltigen Eindruck die Musik und der Gesang der Kastraten auf die Musikliebhaber der damaligen Zeit machten.

In den 1730er Jahren war London eine der wichtigsten Opernstädte der Welt und Georg Friedrich Händel einer ihrer prominentesten Akteure. Doch 1733 überwarf sich Händel mit seinem Starkastraten Senesino, der daraufhin der Royal Academy of Music den Rücken kehrte. Für Senesino wurde eine neue, konkurrierende Opernunternehmung ins Leben gerufen, die Opera of the Nobility, zu deren Ensemble auch der Komponist Nicola Porpora gehörte und ein neuer Megastar namens Carlo Broschi, bekannt als „Farinelli“. Das Londoner Publikum war außer sich vor Begeisterung und wandte sich von Händel ab. Bei einer Vorstellung fiel angeblich eine adelige Dame mit dem Ausruf „Ein Gott, ein Farinelli“ in Ohnmacht, der zum geflügelten Wort wurde. William Hogarth hat diese Szene in seinem Bilderzyklus A Rake’s Progress verewigt.

In den nächsten vier Jahren lieferten sich Händels Royal Academy und die Opera of the Nobility eine erbitterte Schlacht um die Gunst der Londoner Opernfreunde. Dieser Wettstreit zeitigte zwar Musikwerke von allererster Güte, endete aber in einer finanziellen Katastrophe, mit der auch die Vorherrschaft der italienischen Oper in London zu Ende ging.

Wir möchten diese atemberaubende Musik wiederauferstehen lassen, ohne den Ruin zu riskieren. In unserem Programm finden sich Meisterwerke, die schon das Publikum des 18. Jahrhunderts begeisterten. Gleichzeitig wollen wir einen Überblick über die Kunst der Kastraten geben.

Im Zentrum unseres viertägigen Festspiels steht Alcina, eine von Händels schönsten Opern, in einer Neuinszenierung von Damiano Michieletto mit Gianluca Capuano und Les Musiciens du Prince. Zur Besetzung gehören Philippe Jaroussky, Sandrine Piau und ich selbst.

Zum ersten Mal seit 1735 kann unser Publikum Händels Oper im direkten Vergleich mit Porporas Konkurrenzstück Polifemo erleben. Uraufgeführt zweieinhalb Monate vor Alcina mit Farinelli als Star, enthält diese Oper die wunderschöne Arie „Alto Giove“. In Salzburg singen in diesem Werk unter anderen Max Emanuel Cencic und Julia Lezhneva.

Das Konzertprogramm der Pfingstfestspiele spannt einen Bogen von der jahrhundertealten Überlieferung der Vokalpolyphonie des Päpstlichen Chores der Sixtinischen Kapelle zu Pergolesis berührendem Stabat Mater, auf das wiederum Arvo Pärt und Giacinto Scelsi als Komponisten unserer Zeit antworten. Somit beleuchten wir auch die Tradition geistlicher Musik für hohe Stimmen in verschiedenen Epochen. Gleichzeitig zeigen wir, wie sich die Behandlung der Kastratenstimme Ende des 18. Jahrhunderts veränderte, weg von atemberaubender Virtuosität, hin zu einem affektbetonten Stil, dem es um Textausdeutung ging.

Es wird eine Reihe von Konzerten geben, bei denen große Solisten das Repertoire einiger der berühmtesten Kastraten der Händel-Zeit präsentieren. Ein selten gespieltes Juwel der geistlichen Musik gilt es mit Antonio Caldaras wundervollem Oratorium La morte d’Abel auf einen Text von Pietro Metastasio zu entdecken. Das für Farinelli komponierte Werk hat zudem einen direkten Bezug zu Österreich: Uraufgeführt wurde es 1732 in der Wiener Hofburgkapelle.

Der Film Farinelli steht natürlich auch auf unserem Programm, und wir planen ein Podiumsgespräch über die „himmlischen Stimmen“ der Kastraten, auf deren Gesangstradition die Virtuosität der westlichen Musik fußt.

Glanzvoller Höhepunkt dieses Pfingstwochenendes, an dem wir die Kunst der Kastraten feiern, ist ein Galakonzert mit einigen der besten Barocksänger unserer Zeit, bei dem Primadonnen und Primi uomini miteinander wetteifern. Schließlich spielten in der Epoche der Kastraten auch viele Sängerinnen eine bedeutende Rolle! Einige von ihnen, darunter Francesca Cuzzoni, waren so geschäftstüchtig, dass sie sowohl bei der Royal Academy of Music auftraten als auch bei der Opera of the Nobility, so lange die italienische Oper in London noch für volle Häuser sorgte.

Cecilia Bartoli

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