Juan Carlos Onetti: "Gesammelte Werke"
Band 1
Herausgegeben von Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg
"Der Kafka vom Rio de la Plata"
Als solcher wurde Onetti in einem Artikel des "Spiegel" bezeichnet. Doch Publikumserfolge
wurden seine Bücher nie. Die Einkünfte aus Onettis literarischen Arbeiten haben zu keiner Zeit gereicht,
seinen Lebensunterhalt damit zu sichern. Und so war Juan Carlos Onetti von Anfang an dazu gezwungen,
sich in den verschiedensten Brotberufen zu verdingen. Vom Maurergehilfen bis zum Verkäufer von
Rechenmaschinen reicht die Liste seiner Tätigkeiten, der Schwerpunkt lag dabei jedoch im
journalistischen Bereich, wo er unter Anderem als Redakteur für die Nachrichtenagentur Reuters tätig war.
Die Gründe für Onettis Erfolglosigkeit beim breiten Publikum liegen auf der Hand. Zu sperrig sind die
Hindernisse, die Onetti dem Verständnis des Lesers in seinen Texten entgegenstellt. Und vielleicht sollte
man genau deshalb zuerst Gerhard Poppenbergs ausgezeichnetes Nachwort lesen, denn dort leuchtet der
Mitherausgeber mit einem erhellenden Licht die kruden, verschatteten Hintergründe aus, die für den Leser
nicht immer leicht auszumachen sind, wobei allerdings nicht zu viel vom Inhalt der Werke preisgegeben
wird, so dass für den Leser die Spannung immer noch erhalten bleibt.
Nach Onettis eigenem Bekunden hat er dem kommerziellen Erfolg keine allzu große Bedeutung beigemessen.
In des Autors Worten: "Der wahrhafte Schriftsteller schreibt einfach so, weil ihm nichts
Anderes übrigbleibt, als es zu tun, weil es sein Laster ist, seine Leidenschaft, sein Unglück."
Berufung und nicht Beruf war also für Onetti die Schriftstellerei. Und wenn auch Onetti Zeit seines
Lebens der politischen Linken nahe stand, seine Werke sind weitgehend freigeblieben von irgendwelchen
Bekenntnissen politischer Art. "Wer eine Botschaft zu übermitteln hat", so äußerte sich
Onetti einmal, "soll einen Kurierdienst beauftragen."
Die in diesem ersten Band der Gesammelten Werke Onettis (vier weitere sind geplant) enthaltenen Texte
erlebten ihre Erstauflagen in den Jahren 1939 bis 1943. Es handelt sich hierbei um die Romane
"Der Schacht", "Niemandsland" und "Für diese Nacht".
"Der Schacht", ein mosaikartig zusammengesetzter, fetzenhafter Kurztext, war Onettis
erste Buchveröffentlichung. Man mag ihn dem Romangenre eigentlich gar nicht zurechnen. Ein
miesepeteriger, vierzigjähriger Ich-Erzähler - Eladio Linacero - lässt hier sein Leben Revue passieren,
ein Leben, das allerdings mehr in seinen Fantasien und Träumen angesiedelt ist als in der Realität.
Der Erzähler schachtet gewissermaßen in seinem Unbewussten, um die dort vergrabenen Erinnerungen
hervorzuholen. "Das Träumen ist die Schrift der Seele, das Schreiben gibt ihm seine
Gestalt", bemerkt Gerhard Poppenberg im Nachwort sehr treffend. Und da Träume und Fantasien
immer etwas mehr oder weniger Persönliches, Individuelles bleiben, ist der Text für den Leser nur schwer
begreifbar oder zu deuten. Hinzu kommt, dass "Der Schacht" kein biografisches Kontinuum,
keine erzählerische Stringenz erkennen lässt. Ist aber auch nicht so wichtig. Hier ist das Ganze eben
weitaus mehr als die bloße Aufsummierung seiner szenischen Details, und das hebt den Text über das Niveau
literarischer Durchschnittsware hinaus und verleiht ihm den Status eines Meisterwerks.
Eladio Linaceros Seele scheint vergiftet von Pessimismus, Hass und Verachtung. Hat der Autor da etwa seine
eigenen Gedanken und Gefühle auf seinen Protagonisten übertragen? Auch Onetti selbst pflegte gern das
Bild eines weltverdrossenen Einzelgängers. Zum sogenannten Mittelstand bzw. Kleinbürgertum beispielsweise
äußert sich der Ich-Erzähler Eladio Linacero folgendermaßen: "Es gibt nichts Verächtlicheres,
Unnützeres. Und wenn zu ihrer Kleinbürgerverfassung noch das Intellektuelle hinzukommt, verdienen sie,
ohne Prozess ausgemerzt zu werden." Das wird sodann als eine Desinfektionsmaßnahme bezeichnet.
An anderer Stelle äußert Linacero: "Ich habe einen Ekel vor allem, verstehen Sie? Vor den Leuten,
dem Leben, vor Gedichten mit steifem Kragen." Und weiter: "Alles im Leben ist Scheiße,
und wir sind Blinde in der Nacht, angespannt und ohne zu verstehen." Und bei Juan Carlos Onetti
folgt auf die Schwärze der Nacht nur selten der erlösende Morgen. Trotzdem mag ich seine Texte nicht als
hoffnungslos pessimistisch ansehen, für mich haben seine Romane vielmehr etwas von der mit Galgenhumor
und Hoffnung angereicherten Traurigkeit des Blues.
Onettis hat seinen zweiten Roman "Niemandsland" Julio E. Payro gewidmet. "Für Julio E.
Payro mit wiederholtem Grimm", so lautet der Widmungstext. Auch dieser Roman wird ganz vom
Fragmentarischen beherrscht, ein Kapitel reiht sich an das andere ohne erkennbaren Zusammenhang, und
dieses Jonglieren mit mehreren Erzählsträngen fordert oder überfordert sogar den Leser, man hat schon
seine liebe Mühe, sich in den ineinander verschachtelten Erzählebenen zurechtzufinden. Außerordentlich
hilfreich für das Verständnis des Lesers ist die kurze Charakterisierung der Hauptpersonen aus
"Niemandsland", die die Herausgeber im Anhang dankenswerterweise liefern.
Bereiten "Der Schacht" und "Niemandsland" dem Leser also zunächst
einige Mühe, so fühlt man sich in "Für diese Nacht" von
Beginn an bestens unterhalten, obwohl auch hier der Durchblick nicht
immer leicht fällt. "Für diese Nacht" ist der einzige Roman
in Onettis Werk, dessen Spannung aus einer temporeichen Handlung
hervorgeht. Doch selbst hier verschleiert der Autor wieder einiges und
zeigt sich dabei als Meister der Andeutung, immer wieder ist die
Präsenz von etwas Unausgesprochenem zu spüren. Es geht hier
im Wesentlichen um einen Jäger und einen Gejagten, der Eine ein
Vertreter der Staatsmacht, der Andere ein Revolutionär oder
Anarchist. Und auch diese Nacht hat keinen erlösenden Morgen,
weder für den Jäger noch für den Gejagten. Mehr sei an
dieser Stelle nicht verraten.
Juan Carlos Onetti verfügte über eine dichterische Intuition, die ihn nur selten fehlgehen ließ. So
schwerkalibrig der Inhalt seiner Texte ist, so leicht und elegant ist sein Stil. Auf jeder Seite,
beinahe in jedem Satz kommt seine sprachliche Meisterschaft zum Ausdruck. Onettis Sprache ist präzise,
fernab von allem Pastösem. Einen Schulabschluss konnte Juan Carlos Onetti nicht vorweisen, aber das war
auch nicht notwendig, denn seine sprachliche Meisterschaft war von einer Art, die sich weder erlernen
noch vermitteln lässt. Und eine Kunst, die man erlernt, wird letztlich immer Handwerk bleiben und nie zur
wahren Kunst aufsteigen können.
Daniel Kehlmann, der das Vorwort zu diesem Band beisteuerte, und Gerhard Poppenberg mit seinem
informativen und ausführlichen Nachwort runden diesen ersten Band der Onetti-Werkausgabe bei Suhrkamp zu
einem in jeder Hinsicht überzeugenden Leseerlebnis ab.
(Werner Fletcher; 12/2009)
Juan Carlos Onetti: "Gesammelte Werke.
Band 1"
Herausgegeben von Jürgen Dormagen und Gerhard Poppenberg.
Aus dem Spanischen von Svenja
Becker, Jürgen Dormagen und Sabine
Giersberg.
Mit einem Nachwort von Gerhard Poppenberg. Mit einer Zeittafel zum Leben des
Autors.
Suhrkamp, 2009. 608 Seiten.
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Juan Carlos Onetti wurde 1909 in
Montevideo, Uruguay, geboren. Bis 1975 lebte er abwechselnd in Buenos Aires und
Montevideo. Als Schriftsteller blieb er lang eine Art "Geheimtipp",
und erst in relativ hohem Alter wurden ihm Ruhm und Achtung zuteil.
Während der Diktatur, die seit 1973 in Uruguay herrschte, wurde Onetti einige
Monate lang in Haft gehalten. 1975 ging er mit seiner vierten Frau, der Geigerin
Dorothea Muhr, ins Exil nach Madrid, wo er bis zu seinem Tod am 30. Mai 1994
blieb.
Lien: http://www.onetti.net/.
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